DEUTSCHLAND. (hpd) Heute herrscht in Deutschland ein gesellschaftlicher Konsens, dass das Schlagen, das Verletzen, die Misshandlung und Erniedrigung von Kindern Unrecht ist und zu Recht unter Strafe gestellt wurde. Als 2010 Vorwürfe gegen den Augsburger Bischof Walter Mixa und Papstbruder Georg Ratzinger laut wurden, sie hätten vor Jahrzehnten Kinder misshandelt, war die Empörung groß.
Ein Kommentar von Matthias Krause.
In den 50er-Jahren war es in Deutschland noch üblich, unehelich geborene Kinder ihren Müttern wegzunehmen und in Heime zu stecken, wo sie misshandelt und erniedrigt wurden. Erst 1998 (!) wurden „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen“ für unzulässig erklärt. Und erst im Jahr 2000 (!) wurde das Bürgerliche Gesetzbuch dahingehend geändert, dass es Kindern das Recht auf gewaltfreie Erziehung zuerkannte. „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Dass einige evangelikale Christen die Züchtigung von Kindern nicht nur für gerechtfertigt, sondern sogar für biblisch geboten halten, wird gemeinhin als Problem angesehen.
Binnen weniger Jahrzehnte hat hier ein gewaltiger gesellschaftlicher Sinneswandel stattgefunden, der allgemein als ethischer Fortschritt empfunden wird – keine politisch oder gesellschaftlich relevante Gruppe fordert, dass Kinder wieder geschlagen werden dürfen.
Daran sollten diejenigen denken, die jetzt das Urteil des Kölner Landgerichts kritisieren, dass das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit über das Elternrecht gestellt hat. Die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Knaben oder Säuglinge, um die es dabei geht, mag heute noch gesellschaftlich akzeptiert sein – richtig ist sie deshalb noch lange nicht.
Kritiker des Urteils weisen darauf hin, dass weltweit etwa ein Drittel der Männer beschnitten sei. Aber in welchen Ländern leben diese Männer? Zum Großteil in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und Südostasien. Also Ländern, wo die körperliche Züchtigung von Kindern – teilweise auch von Straftätern – erlaubt ist und praktiziert wird.
Sollen die Zustände in diesen Ländern wirklich für die Beurteilung, ob die Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern in Deutschland erlaubt sein soll oder nicht, als Argument angeführt werden? Als Argument für die Beschneidung?
In den USA, wo die Beschneidung von Säuglingen auch ohne religiöse Begründung praktiziert wird (ursprünglich als Maßnahme gegen Selbstbefriedigung), ist die körperliche Züchtigung nicht nur durch die Eltern zulässig, sondern in 19 Staaten auch an Schulen. Die USA und Somalia sind die einzigen Länder, die der UN-Kinderrechtskonvention nicht beigetreten sind. Damit können auch die USA schlecht als Maßstab für die Abwägung von Kinderinteressen in Deutschland dienen.
Es wird gesagt, die Beschneidung habe gesundheitliche Vorteile, diene also dem Wohl des Kindes. Dass aber ein Ritual, das über viertausend Jahre alt ist, in heutiger Zeit und nach heutigen Maßstäben dem Wohl des Kindes dienen soll, darf wohl erst einmal bezweifelt werden.
Es kommt aber auch gar nicht darauf an, ob sich vorteilhafte Effekte aus der Beschneidung ergeben, sondern ob diese Effekte nicht auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden können. Sollen in Deutschland wirklich Kinder und Säuglinge beschnitten werden, wenn sich die behaupteten Effekte durch regelmäßiges Waschen und die Benutzung von Präservativen mindestens genauso gut erzielen lassen?
Davon abgesehen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Beschneidung tatsächlich merkliche Vorteile bringt. Seit tausenden von Jahren ist die Beschneidung das Identifikationsmerkmal der Juden, später auch der Muslime. Als Identifikationsmerkmal für eine Gruppe eignet sich nur etwas, was andere nicht tun und höchstwahrscheinlich auch nicht tun werden. Hätte die Beschneidung tatsächlich spürbare Vorteile, so sollte sie sich längst allgemein durchgesetzt haben. Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass muslimische und jüdische Männer in Deutschland gesünder sind als andere? (Selbst, falls dies der Fall sein sollte, wäre noch zu prüfen, ob dies an der Beschneidung liegt und nicht z.B. an der Ernährung.)
Dass die Beschneidung aus religiösen Gründen nicht dem Wohl des Kindes dient, ergibt sich schon daraus, dass sie eben gerade aus religiösen Gründen erfolgt und nicht aus gesundheitlichen. Wäre Letzteres der Fall, eignete sich die Beschneidung nicht als Identifikationsmerkmal.
Wenn eine Tradition den allgemeinen Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt – wäre es dann nicht angebracht, die Tradition zu hinterfragen, statt eine Ausnahmeregelung zu fordern?
Der gesellschaftliche Stimmungsumschwung im Hinblick auf die Beschneidung hat bereits eingesetzt. Das zeigt sich in dem Kölner Urteil, das ja lediglich das Ergebnis einer Auffassung ist, die sich in den letzten Jahren unter Juristen und Medizinern mehr und mehr durchgesetzt hat. Das zeigt sich aber auch schon in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989, der zufolge „überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ sind. Das Wohl des Kindes ist über die Tradition und damit auch über die Religion der Eltern zu stellen.
Das Kölner Urteil bietet Politikern und Religionsvertretern, Juristen und Medizinern die Gelegenheit, sich jetzt im Lauf der Geschichte auf der richtigen Seite zu positionieren. Will man zukünftig zu den Bremsern gezählt werden oder zu denen, die den ethischen Fortschritt unterstützt haben? Zu denen, die Tradition und Religion den Vorzug gaben, oder denen, die sich für das Recht auf Selbstbestimmung und die körperliche Unversehrtheit von Kindern eingesetzt haben?
Sie haben die Wahl. Wählen Sie weise.