KÖLN. (hpd) Kritikern des Kölner Urteils zur Beschneidung ist es nicht gelungen, irgendwelche neuen Aspekte vorzubringen, die in der medizinisch-juristischen Diskussion nicht bereits berücksichtigt wurden. Der Umstand, dass nur ein Fünftel der Juden in Deutschland beschnitten ist, wirft die Frage auf, wie repräsentativ die Erklärungen offizieller Religionsvertreter überhaupt sind.
Und der Einwand, nun seien vermehrt illegale und riskantere Beschneidungen zu erwarten, belegt, dass es bei der Beschneidung in Wirklichkeit gar nicht um das Kindeswohl geht.
Bericht und Kommentar von Matthias Krause.
Das Urteil des Kölner Landgerichts, demzufolge die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit eine strafbare Körperverletzung darstellt, hat scharfe Kritik hervorgerufen. Scharf, aber nicht scharfsinnig. Viele Kommentatoren haben sich mit dem Urteil und der juristischen Position zur Knabenbeschneidung offenbar entweder gar nicht auseinandergesetzt, oder aber sie ignorieren sie. Das betrifft insbesondere die Vorwürfe, die Richter hätten die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, sie hätten „eindimensional“ geurteilt usw.
Einerseits erscheinen diese Reaktionen verständlich. Denn bis letzte Woche dürften sich nur die wenigsten Gedanken darüber gemacht haben, wie die Beschneidung von Kindern und Säuglingen strafrechtlich zu bewerten ist. Und der Umstand, dass bisher kaum jemand Anstoß daran nahm und es auch keine wahrnehmbare öffentliche Diskussion darüber gab, musste den Eindruck erwecken, dass die Praxis entweder juristisch nicht zu beanstanden sei oder man zumindest geteilter Meinung darüber sein könne.
Abseits der Öffentlichkeit – in Juristenkreisen – wurde diese Diskussion allerdings geführt. Und es kann auch nicht wirklich überraschen, dass ein Gericht zu dem Urteil kommt, dass das medizinisch nicht notwendige Abschneiden eines gesunden Körperteils bei einem nicht einwilligungsfähigen Kind unzulässig ist. In jedem anderen Fall wäre vermutlich – und zu Recht – Kritik laut geworden, hätte das Gericht anders entschieden und derartige Handlungen für zulässig erklärt.
Wer also das Urteil des Kölner Landgerichts kritisiert, der muss entweder zeigen, wo die Richter mit ihrer Beurteilung falsch liegen, oder wodurch das medizinisch nicht notwendige Abschneiden eines gesunden Körperteils bei einem nicht einwilligungsfähigen Kind gerechtfertigt werden könnte. Schauen wir uns also die Kritik am Kölner Urteil an.
Kinderrecht vs. Elternrecht
Viele Kritiker werfen den Richtern vor, bei ihrer Abwägung das Elternrecht und die Religionsfreiheit gegenüber dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit nicht ausreichend berücksichtigt zu haben. Diese Kritik zeugt von Unkenntnis: In Juristenkreisen wurde dieses Thema in den letzten Jahren ausführlich diskutiert, und zwar sowohl von Gegnern als auch von Verteidigern der religiösen Beschneidung. Dabei hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei der Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit in der Tat um Körperverletzung handelt. Wer will, kann sich dazu den 40-seitigen Artikel des Strafrechtlers Dr. Holm Putzke durchlesen, der die Diskussion 2008 angestoßen hat und in dem das Thema sehr umfassend und ausführlich abgehandelt wird. Darin werden auch praktisch alle – zumindest juristisch relevanten – Einwände, die jetzt gegen das Kölner Urteil vorgebracht werden, erörtert und entkräftet.
Natürlich haben die Richter am Kölner Landgericht bei ihrem Urteil das Recht des Kindes und das der Eltern gegeneinander abgewogen. Dabei geht es um das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit auf der einen Seite (Art. 2 (2) GG) und das Recht der Eltern auf Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 (2) GG).
Die Religionsfreiheit entbindet allerdings nicht von den staatsbürgerlichen Pflichten (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 (1) WRV), d.h. hier: von der Pflicht, seinen Mitmenschen keine Körperverletzung zuzufügen (§ 223 StGB). Vielmehr muss sich die Religionsausübung im Rahmen der für alle geltenden Gesetze bewegen. Deshalb kann, wenn die Beschneidung die Tatbestandsmerkmale der Körperverletzung erfüllt, die Religionsfreiheit nicht zur Rechtfertigung angeführt werden. Dies ist bei jedem anderen Thema auch gesellschaftlicher Konsens, wenn es z.B. um die Beschneidung vom Mädchen, „Ehrenmorde“, Zwangsheiraten oder die körperliche Züchtigung der eigenen Kinder unter Berufung auf die Bibel geht. Ebenso wenig können sich Zeugen Jehovas auf die Religionsfreiheit und das Elternrecht berufen, um die Verabreichung lebensnotwendiger Bluttransfusionen an ihr Kind zu verhindern. (Zur Ausnahme beim Tierschutzgesetz zur Schächtung aus religiösen Gründen siehe Fußnote.)
Das Wohl des Kindes geht vor
Was das Elternrecht angeht, so deckt dieses nur Erziehungsmaßnahmen, die dem Wohl des Kindes dienen (§ 1627 BGB). Weiterhin hat das Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ohne körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und anderer entwürdigende Maßnahmen (§ 1631 (2) BGB „Inhalt und Grenzen der Personensorge“). Außerdem hat Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, der zufolge „überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ sind (Art. 24 (3) des Übereinkommens über die Rechte des Kindes). Außerdem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, und die Kölner Richter fanden es unverhältnismäßig, dass die Beschneidung dem Kind ein dauerhaftes und irreparables sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verpasst und damit dem Interesse des Kindes zuwiderläuft, das sich später unter Umständen gegen diese Religion entscheidet. Vielmehr hält das Gericht es den Eltern für zumutbar, mit der Beschneidung abzuwarten, bis das mündige Kind diese Entscheidung selber treffen kann.
Man kann den Richtern schlichtweg nicht vorwerfen, sie hätten die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht ausreichend berücksichtigt. In Anbetracht der Rechtslage konnten die Richter nur zu dem Urteil kommen, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes höher zu bewerten ist als das Elternrecht oder die Religionsfreiheit der Eltern. Das Gleiche gilt für das Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheid jetzt von Kritikern des Urteils gefordert wurde. Zwar ist tatsächlich zu hoffen, dass die Frage schnell abschließend geklärt wird. Man fragt sich aber, ob diejenigen, die jetzt nach dem Bundesverfassungsgericht rufen, sich über die Urteilsgründe des Kölner Landgerichts im Klaren sind, und darüber, dass dies unter Juristen die herrschende Meinung darstellt.
Daran wird auch der Deutsche Bundestag nicht vorbeikommen, falls dort ernsthaft überlegt würde, eine Ausnahmeregelung für die Beschneidung zu erlassen, wie dies z.B. vom Zentralrat der Juden gefordert wird. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben bereits deutlich gemacht: „Sollte jedoch der Gesetzgeber tätig werden wollen, stünde er letztlich vor der Herausforderung, abstrakte Regelungen zu treffen, wonach bestimmte Eingriffe in die körperliche Integrität Schutzbefohlener aus religiösen Gründen straffrei sein können.“
Fazit: Wer behauptet, das Landgericht Köln hätte „eindimensional“ entschieden oder die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht ausreichend gewürdigt, der hat sich offenbar mit der juristischen Argumentation nicht auseinandergesetzt, zumindest vertritt er eine Mindermeinung.
Ein harmloser Eingriff?
Viele Kritiker versuchen, die obige Argumentation dadurch zu entkräften, dass sie die Beschneidung als harmlos darstellen, als sei das Kindeswohl dadurch nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Es sind nun gerade solche Kritiker, die völlig einseitig argumentieren. Denn selbst, wenn man die Beschneidung nicht für besonders schwerwiegend hält, so lässt sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass das Abschneiden der Vorhaut einen nicht unbeträchtlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt, der durchaus mit Risiken verbunden ist, und – wie die Kölner Richter zutreffend feststellten – dem Kind dauerhaft und irreparabel das sichtbare Zeichen einer Religionszugehörigkeit aufzwingt. Und das allein reicht völlig aus, um hier das Recht des Kindes höher zu bewerten als die Rechte der Eltern.