Zu einer gemeinsamen Tagung hatten die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Humanistische Akademie eingeladen. Annähernd 100 Gäste trafen zusammen. Es folgten vier Stunden mit Statements und vehementen Diskussionen.
Im ersten Panel warf zunächst Prof. Dr. Riem Spielhaus, Islamwissenschaftlerin von der Georg-August-Universität Göttingen, einen kritischen Blick auf die Debatte um Werte. Diese würden oftmals als Mittel zur Ausgrenzung anderer benutzt, wozu insbesondere die mit ihnen transportierte "Semantik des Eigentlichen" (H. Bielefeldt) beitrage. Demgegenüber verwies sie auf die Bedeutung von konkreten Aushandlungsprozessen im Alltag. Statt von einer Einwanderungsgesellschaft sprach sie von einer postmigrantischen Gesellschaft: Es sei frappierend, dass die zahlreichen Zuwander, die schon seit vielen Jahren in Deutschland leben oder sogar hier geboren sind, in den Einwanderungsdiskursen stets unter "Migranten" mitsubsumiert würden.
Dr. Ralf Schöppner, Philosoph und Geschäftsführender Direktor der Humanistischen Akademie, stellte den Gästen einige zentrale Elemente eines zeitgenössischen Humanismus vor. In einem aktuell diskutierten Entwurf des Humanistischen Verbandes stünden Lebensfreude und Selbstbestimmung, "brennen" für eine bessere Welt, Kritik und Toleranz sowie Weltlichkeit im Mittelpunkt. Auch bei ihm war eine Vorsicht zu bemerken, sich unkritisch auf herrschende Wertediskurse einzulassen. Er plädierte dafür, genau zu erkunden, welche neuartigen Integrationsherausforderungen die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen wirklich darstellen. Humanistische Integration setze zum einen auf an Menschenrechte gebundene Rechtsstaatlichkeit und sozio-ökonomische Integration (Arbeit, Wohnen, Sprache, Beziehung). Zum anderen aber gehe es insbesondere um die wechselseitige Bereitschaft, sich auf gemeinsame Beratungen über Lebensformen und Zusammenleben einzulassen und dabei nicht nur am eigenen Standpunkt zu kleben. Dies sei eine von humanistischen Organisationen zu vermittelnde Kompetenz, in der sich humanistische Überzeugungen und Werte kristallisierten.
Aus der anschließenden Diskussion mit dem Publikum ist besonders hervorzuheben, dass viele Gäste in ihren Redebeiträgen den Wunsch nach einem vehementeren Eintreten für die Werte der deutschen Verfassung bekundeten. Angesichts der offenen Dialogbereitschaft von deutschen Linksliberalen würden sich radikale Islamisten ins Fäustchen lachen. Gewünscht wurde u.a. auch ein resolutes humanistisches Bekenntnis zur Polizei.
Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Nicole Immler von der Utrechter Universität für Humanistik berichtete zu Beginn des zweiten Panels von ihren Forschungen zu interkulturellen Diskursen in den Niederlanden. Unter dem Motto "Was der Pluralismus vom Humanismus lernen kann" vollzog sie anhand zweier praktischer Beispiele einen interessanten Perspektivwechsel weg von den Einwandernden hin zu den Einheimischen. Die öffentlichen kollektiven Feiern zum "schwarzen Piet" zeigten einen unterschwelligen Rassismus und die Debatten um z.B. Einwanderer aus Indonesien entbehrten jeglicher Reflektion des eigenen kolonialen Erbes. Auch nach vielen Jahren der Einwanderung seien Einwandernde in den Niederlanden nach wie vor in vielen zentralen gesellschaftlichen Bereichen unsichtbar. Dies sei ein großes Hindernis für Austausch, für wirkliche Interkulturalität und gesellschaftlichen Pluralismus. Den Menschenrechten wies sie die Aufgabe zu, eine "gemeinsame neutrale Sprache" zu sein.
Dr. René Cuperus, Direktor der Wiardi Beckman-Stiftung Amsterdam, einem Think Tank der niederländischen Arbeiterpartei (PvdA), belebte die Diskussion mit seiner These, die Vertreter und Vertreterinnen multi- und interkultureller Konzepte seien "Brandstifter des europäischen Rechtspopulismus". Es handele sich um ein gefährliches Denken der intellektuellen Klasse mit "aggressiven Begriffen" für Eingesessene. Stattdessen plädierte er für eine Leitkultur und den Dreischritt von Assimilation, Partizipation und kultureller/religiöser Freiheit. An erster Stelle steht für ihn die notwendige Anpassung der Einwanderer an die Grundregeln des demokratischen Rechtsstaates und die Einübung in Toleranz. Des Weiteren diagnostizierte Cuperus speziell in den Niederlanden einen Mangel an Respekt für Religion und Tradition, der im Zusammenhang stehe mit der Konfessionsfreiheit als gesellschaftlicher Mehrheit und der seinen Ausdruck auch in verbreiteter Islamophobie finde.
Arne Lietz, Mitglied der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, hob die Bedeutung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für den Prozess der europäischen Einigung hervor. Er stellte dem Auditorium einen "Aufruf zum aktiven Handeln gegen die weltweite Verfolgung religiöser Minderheiten" vor, unterschrieben von Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, die sich ganz unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen verbunden fühlen. Im Gegensatz zu vielen anderen öffentlichen Verlautbarungen zur Religionsfreiheit wird in diesem Aufruf erfreulicherweise auch auf den Schutz der Freiheit, keiner Religion anzugehören, hingewiesen. Ein Punkt, den Lietz auch mündlich nochmals besonders Nachdruck verlieh.
Nicht überraschend stand dann in der Diskussion des zweiten Panels die provokante These von Cuperus im Vordergrund. Viele Gäste äußerten sich zustimmend und dankbar, dass "hier mal jemand die Dinge beim Namen nennt". Der Forderung nach einer Leitkultur wurde in den Beiträgen jedoch auch der Wunsch nach kultureller Vielstimmigkeit und zusammenhaltfördernder gemeinsamer Praxis gegenübergestellt. Tendenziell einig war man sich über die Problematik einer europaweit zunehmenden Kluft zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern, begleitet von mangelndem Vertrauen in die sogenannten herrschenden Eliten Ob dem europäischen Rechtsruck allerdings am besten damit zu begegnen ist, Multi- und Interkulturalismus als dessen "Brandstifter" verantwortlich zu machen, oder ob man sich damit nicht vielmehr selbst als "Brandbeschleuniger" betätigt und dem Ressentiment den Persilschein ausstellt, musste an diesem Abend offen bleiben.
6 Kommentare
Kommentare
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Geht man nach diesem Bericht, dann scheinen nur Dr. Ralf Schöppner und Dr. René Cuperus über das Stadium der Diagnose hinaus gekommen zu sein.
Dass mein Eindruck wohl nicht täuscht, geht aus den Zwischenbemerkungen des Berichts hervor. Aus denen wird die Verärgerung eines Teils des Publikums deutlich, warum nicht endlich offensiver die immer wieder beschworenen Werte unserer offenen Gesellschaft verdeutlicht und deren Akzeptanz von den Zuwanderern eingefordert wird. Die Frage kann doch nicht lauten, ob uns Rationalität, Säkularität, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte als Elemente einer Leitkultur wichtig sind und eingefordert werden sollten. Die Frage kann doch nur lauten, wie der Lehr-Lernprozess zu gestalten ist und welche politischen Maßnahmen dahinter stehen, diesen Prozess zu organisieren und in einer angemessenen Zeit zum Erfolg zu führen.
Meine Befürchtung jedoch ist, dass wir dazu nicht mehr in der Lage sind. Wir haben mehrere Feinde, die uns lähmen, einer uns feindlich gesinnten polit-religiösen Ideologie Widerstand zu leisten, die scheinheilig in einem religiösen Gewand daher kommt und deren organisierte Vertreter, ich denke z.B. an den Zentralrat der Muslime oder an die von der Türkei gesteuerte DITIB, die gewährte Religionsfreiheit für ihre Ziele missbrauchen.
Die Repräsentanten der christlichen Kirchen (und weite Teile der ihnen ergebenen Politiker und Medienleute) wehren jede essentielle Kritik am Islam ab. Ahnen sie doch, dass eine substantielle Auseinandersetzung mit dieser Religion letztlich auch ihre Glaubenslehre treffen würde. Die Kirchen sehen vielmehr in einer weiteren betont gelebten Glaubenslehre eine willkommene Aufwertung der Religion in unserer Gesellschaft, darüber hinaus eine Stärkung der Front gegen die verachteten, zumindest unerwünschten Säkularen und Humanisten.
Der zweite Feind, der unsere Abwehrkräfte erlahmen lässt, ist die Saturiertheit einer Gesellschaft, die ihre Freiheiten und Rechte wie selbstverständlich in Anspruch nimmt, aber nicht mehr ernsthaft bereit ist, sich für ihre Bewahrung einzusetzen. Kritik am Islam im Sinne einer philosophischen und sachlichen Auseinandersetzung, wie sie über Jahrzehnte und bis heute am Christentum selbstverständlich ist, wird vielfach böswillig als Fremdenfeindlichkeit gebrandmarkt und einer politisch »rechten« und rechtsextremen Ecke zugeordnet. Die Diskussion aktueller und tatsächlicher Probleme mit Zugewanderten wird oft genug scheinheilig als »durchsichtige Instrumentalisierung« abgewiesen. Man registriere nur mal, wie überwiegend ablehnend gut begründete Thesen z.B. von Hamed Abdel-Samad oder Necla Kelek in den Feuilletons behandelt werden.
Aber es gibt weitere verdeckte Komplizenschaften mit einer Ideologie, die so mancher politischen oder politisch agierenden Gruppierung in die eigene Strategie passt. Sozialisten und die selbsternannten Repräsentanten der Muslime vereint der Hass auf »den Westen«, auf den Kapitalismus und auf die USA. Darüber hinaus sehen die Vertreter der Partei DIE LINKE in den hier sozial und ökonomisch scheiternden Muslimen vermutlich das ihnen inzwischen abhanden gekommene Proletariat, das ihnen dereinst wieder zur Macht verhelfen könnte. Unsere grünen Sozialromantiker sehnen sich immer noch nach der bunten multikulturellen, sich selbst formierenden Gesellschaft, ohne den damit einhergehenden Verlust an Aufklärung und Rationalität sehen zu wollen.
Die Gesellschaften Europas haben möglicherweise den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht oder schon überschritten. Der Widerstand aus der politischen Mitte gegenüber einer aggressiven politisch-religiösen Ideologie ist jedenfalls von bemerkenswerter Kraftlosigkeit. Mir fällt dazu oft der Titel eines geschichtsphilosophischen Buches von Oswald Spengler ein, der seinerzeit schon menetekelhaft in die Zukunft wies.
Markus Schiele am Permanenter Link
"Des Weiteren diagnostizierte Cuperus speziell in den Niederlanden einen Mangel an Respekt für Religion und Tradition [...]"
Dazu ist zu sagen: zu respektieren sind die Menschen, die gewissen Religionen / Traditionen anhängen. Die Religionen / Traditionen selbst hingegen sind, je nach ihren schädlichen Auswirkungen, gegebenenfalls zu verdammen / zu verwerfen.
angelika richter am Permanenter Link
" An erster Stelle steht für ihn die notwendige Anpassung der Einwanderer an die Grundregeln des demokratischen Rechtsstaates und die Einübung in Toleranz."
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Freiheit von Religion - ein Menschenrecht, das in Deutschland unterdrückt wird. Die Kirchen predigen Toleranz und sind völlig zugeknöpft, wenn sie libertäre, laizistische oder
David Z am Permanenter Link
"Zum anderen aber gehe es insbesondere um die wechselseitige Bereitschaft, sich auf gemeinsame Beratungen über Lebensformen und Zusammenleben einzulassen und dabei nicht nur am eigenen Standpunkt zu kleben"<
Mit theoretischem Herumgeeier und Relativieren kommen wir nicht weiter.
Jetzt mal tacheles: Welche "Werte" oder "Standpunkte", die Migranten importieren, wären es wert, überdacht und ggf. übernommen zu werden?
little Louis am Permanenter Link
Zum folgenden Zitat (von oben):
Ich möchte hierzu dringend auf das im "Freidenker" -Heft Nr.3 (Seite 41) besprochene kritische Buch über Hillary Clinton verweisen, wo die oben angesprochene Multikulturalismus- Problematik analysiert wird.
Ebenso den Kommentar von Christoph Lammers auf Seite 29 der "MIZ" (Heft Nr.2, 2016).
Schlussendlich sollte der geneigte Leser auch hiersich immer vergegenwärtigen, dass auch innerhalb der Gesamthumanistenszene (und auch in diesem Portal)) seit Jahren die übliche Auseinandersetzung zwischen "irgendwie weiter links und betont antiklerikal" und "irgendwie eher(neo-) konservativ und eher kirchenschonend" (Religionshumanisten) ausgetragen wird.
Ein "Symptom" waren und sind der Austritt des Herrn Hoerster aus der GBS nebst den damit verbundenen unschönen und teilweise unfairen Angriffen aus Teilkreisen der "traditionellen" Humanistenverbände auf Michael Schmidt -Salomon.
Das alles korrespondiert auch etwas mit den Aktivitäten von sich verbal (!!) linksradikal gebenden (jedoch eher verdeckt neokonsevativen) "Antideutschen" und deren Polemiken auf eher Transatlantik - kritische Linke in der gesamtpolitischen Szene.
Als Folge davon ergibt sich eine oft nicht geringe Verwirrung auch unter den humanistisch und/oder antiklerikal interessierten Politikbeobachtern oder Politaktivisten.