Missionare des Untergrunds

Das Furnier der Missionare

Den YMCA verbindet man hierzulande eher mit dem Song der Village People als mit Missionierung. Dass man nicht mit dem reichlich abgespielten Disco-Song in Verbindung gebracht werden will, mag ein Grund sein, warum der Wiener Ableger das deutsche Kürzel „CVJM“ trägt, „Christlicher Verein Junger Menschen“. Das ist hierzulande nur Insidern ein Begriff. Das mag auch daran liegen, dass es neben Wien und Graz keine bedeutenden Niederlassungen zu geben scheint.

Die zwei Vereine arbeiten offenbar auch nicht zusammen. Sie verwenden unterschiedliche URLs, cvjm.at in Graz und ymca.at in Wien und verlinken auffälligerweise nicht einmal aufeinander. Im Vergleich zur Homepage des deutschen Dachverbandes tragen beide den Missionierungsgedanken vor sich her. Der Wiener CVJM fungiert als Scharnier verschiedener evangelikaler Missionierungsversuche. Sasha am Infostand ist der Vereinssekretär. Stefan engagiert sich neben der Heilsarmee auch dort. Die drei anderen Zettelverteiler hat man auch über den CVJM rekrutiert, wie Stefan sagt.

Zielgruppe einsame Menschen

Es sind Männer, die irgendwann in Wien gestrandet sind. Einer ist Araber, die zwei anderen scheinen vom Balkan zu stammen. Irgendwann werden die meisten einen Zettel des YMCA in die Hand gedrückt bekommen haben. „Lust auf Freundschaft?“ steht dort und: „Langeweile? Lust auf etwas anderes? … und SCHLUSS mit Einsamkeit.“ Von Christentum und Missionierung steht nichts auf den Zetteln. Nicht einmal das Kürzel CVJM wird erklärt. Sehr zurückhaltend und niederschwellig für eine Einrichtung, die ihr Selbstverständnis so beschreibt: „Der Verein hat das Ziel, jungen Leuten in der Großstadt Glaubens- und Lebensorientierung zu vermitteln.“

Wie viele der Eingeladenen auf Dauer diesen Preis für das Ende ihrer Einsamkeit zahlen wollen, ist eine Frage, auf die man vermutlich weder von Sasha noch von Stefan Antwort bekommen wird. Ich werde auch eingeladen. „Bist du schon über 30?“ „Leider ja.“ „Das hätt ich dir gar nicht angesehen.“ Kurzes Überlegen, ob ich noch in das Jugendcafé passen würde, das mittwochs und sonntags im CVJM-Hauptquartier in siebten Wiener Gemeindebezirk  geöffnet hat, keine fünf Gehminuten vom Westbahnhof entfernt. Es wird von Stefan organisiert. Ehe ich’s mich versehe, habe ich einen Zettel vor mir liegen, man bittet mich um meine E-Mail-Adresse. Wenn die Missionare einen haben, der mit ihnen redet, wollen sie ihn am liebsten festhalten. Im übertragenen Sinn.

Born again Christians

Wobei es nicht nur darum geht, neue CVJM-Mitglieder zu rekrutieren. Sie sollen evangelisiert werden, ganz nach dem Vorbild der „wiedergeborenen Christen“ in den USA, so, wie es Stefan selbst gegangen ist. „Ich war früher auch so“. Damit meint er nicht religiös, vielleicht auch lebensfreudiger. „Dann habe ich mit 32 Jahren Jesus entdeckt und Er hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.“ Ein kurzer Augenblick, in dem Stefan etwas über sich verrät. Sonst will er immer etwas vom Gegenüber wissen oder spricht über die Welt im Allgemeinen. So kann man Gespräche leiten, bleibt für das Gegenüber schwer fassbar und kann selbst in die Tiefen des Gesprächspartners eindringen. Ob es Erfahrung ist, Selbstschutz oder Ergebnis der Rhetorikseminare, von denen er mit Sicherheit einige durchlaufen hat, ist unklar. Gut zehn Jahre muss sein „Erweckungserlebnis“ her sein. Zumindest die letzten vier oder fünf Jahre hat der gebürtige Norddeutsche in Wien verbracht, wie die Internetrecherche zutage fördert. Von selbst würde er diese Details vermutlich nicht im ersten Gespräch preisgeben.

Was Stefan dazu gebracht hat, Menschen mehr oder weniger ungebeten seine religiöse Einstellung zu vermitteln, bleibt trotz mehrfachen Nachfragens ebenfalls eher vage. Stefan schildert lieber Überlegungen, die man von jedem überzeugten christlichen Missionar bekommen würde. „Jesus gefunden zu haben, ist der Weg zur Erlösung und ist eine frohe Botschaft. Es wäre egoistisch von mir, wenn ich das für mich behalten würde. Ich könnte auch sagen: Ich habe den Weg gefunden und die anderen bleiben am Ende der Welt übrig. Aber das wäre egoistisch von mir.“ Ob die anderen die strengen Lebensregeln der Evangelikalen samt starkem sozialen Druck auch als Bereicherung empfinden würden, bleibt bei diesem Selbstbild außen vor. Ganz gleich bleibt, ob das Gegenüber ohne Religion glücklich ist. Froh sein kann laut diesem Selbstverständnis nur, wer sich ganz dem Christentum zuwendet. Für Stefan ist dieses Bild das Christliche schlechthin. Wahrer Christ ist nur, wer andere bekehren will.

Misserfolge werden ausgeblendet

Das mag theologisch und historisch eine richtige Interpretation sein. Mit der Lebensrealität selbst der meisten Pfarreien in westlichen Breiten hat das wenig zu tun. Das mag ein Grund sein, warum die Missionierungsaktionen am Westbahnhof von denkbar wenig Erfolg gekrönt sind. Die Missionare stört das offenbar nicht einmal auf Dauer. Diesen Teil der Wirklichkeit können sie ausblenden. Wenn von ein paar tausend Leuten, die jeden Mittwochnachmittag an ihnen vorübergehen auch nur einer beim CVJM vorbeischaut, wird das als Riesenerfolg gefeiert.

Jeder „gerettete“ Mensch ist für diese Leute ein Fortschritt. Zweckoptimismus gepaart mit religiösem Fanatismus und der Zuversicht, dass langjährige Missionierungsarbeit auch aus den evangelikalen Außenseitern eine Bewegung mit gesellschaftlichem Einfluss machen kann. Die vielleicht auch in Österreich die Frage stellen kann, ob Evolution in der Schule unterrichtet werden soll oder nicht doch abenteuerliche religiöse Interpretationen der Wirklichkeit als gleichwertig gesehen werden sollen. Das macht aus den eher schrulligen Missionaren des Untergrunds am Wiener Westbahnhof zumindest in ihrem Selbstverständnis die Avantgarde einer neuen Gesellschaft. Die Missionare nennen sich christlich und überkonfessionell. Die meisten Menschen würden die gleiche Gesellschaft als restriktiv und reaktionär bezeichnen. Damit zu tun haben wollen sie offenbar nichts.

Was die Missionare nicht davon abhält, auch am nächsten Mittwochnachmittag am Wiener Westbahnhof zu stehen.