Die Erosion des religiösen Diskurses

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Podium / Foto: Harald Stücker

ERLANGEN. (hpd) Die Hugenottenkirche in Erlangen hat zur Podiumsdiskussion geladen. Thema: Das Kölner Beschneidungsurteil und seine Folgen. Für den Gastgeber, Pfarrer Johannes Mann, ist es ganz klar: Die Juden und Muslime haben ein Recht darauf, ihre Kinder aus religiösen Gründen zu beschneiden. Der Pfarrer versteht diese Parteinahme wohl als gelebte Ökumene: Christen, Juden und Muslime Hand in Hand gegen die Bedrohung durch einen aggressiven Säkularismus.

Auf dem Podium bietet sich allerdings genau das gegenteilige Bild: Der Strafrechtler Holm Putzke und der Leiter der Erlanger Kinderklinik Wolfgang Rascher sehen sich als alleinige Verteidiger der Rechte des Kindes fünf Anwälten für das Traditionsrecht der Eltern gegenüber. Aber trotz dieser Überzahl und einer deutlich überwiegenden Sympathie des Publikums für die religiöse Position kann Holm Putzke rhetorisch immer wieder punkten. Vielleicht ist es seine Rolle als Schwarzer Peter („die ich aber gerne annehme“), die dazu führt, dass er als personifizierter Stein des Anstoßes zum Zentrum der Debatte wird. Sicherlich ist es auch seine rhetorische Brillanz, aber entscheidend scheint mir etwas anderes zu sein, das sich nicht nur in dieser Diskussion, sondern in der gesamten Debatte zeigt, und das ist eine merkwürdige Zurückhaltung auf Seiten der Beschneidungsbefürworter. Das wird im Verlauf der Diskussion deutlich.

Für die islamische Vertreterin Grit Nickel dreht sich die Diskussion viel zu sehr um das Rationale. Religion sei aber wesentlich nicht rational zu fassen. Das stimmt zwar, ist aber nur wieder der Appell, bitte die religiösen Gefühle zu respektieren. Es bleibt offen, warum das ausreichen soll, um die Verletzung kleiner Kinder zu rechtfertigen.

Dr. Fellmann, ehemaliger Oberarzt am Jüdischen Krankenhaus in Berlin, bringt das Kunststück fertig, seine eigenen Argumente selbst zu widerlegen. Er führt Studien an, die den Nutzen einer Beschneidung zu belegen scheinen, gibt dann aber gleich zu, dass sie durch Gegenstudien entkräftet wurden. Es gebe keine zuverlässige Datengrundlage, daher könne man genauso dafür wie dagegen argumentieren. Aber, so Putzke, wer hat denn die Beweispflicht, wenn es um die medizinisch nicht notwendige Verletzung von Kindern geht? Doch wohl diejenigen, die einen solchen unnötigen Eingriff vornehmen wollen.

Der Pfarrer fragt empört: „Wo kommen wir denn hin, wenn Gerichte entscheiden, was Religionen dürfen?!“ Putzke verwandelt diese Vorlage sicher: „Wo wir hinkommen? Ich sage: Wir kommen direkt in den Rechtsstaat, da landen wir.“ Dann rät er allen, die das anders sehen, einen Blick in Länder, in denen dies tatsächlich anders ist. Er warnt davor, dass eine Legalisierung der männlichen Beschneidung den Ansprüchen etwa einer schafiitischen Kultur, ihrerseits ihre Mädchen „beschneiden“ zu lassen, Tür und Tor öffnet.

Heiner Bielefeldt, Theologe und Inhaber eines Lehrstuhls für Menschenrechte in Erlangen, hält das für nicht begründeten Alarmismus und wundert sich seinerseits, warum der Jurist Putzke die weitreichendsten medizinischen Argumente vorträgt. Darauf kontert Putzke: Er beschäftige sich seit einigen Jahren mit diesem Thema und habe in der Tat versucht, sich umfassend auch mit den medizinischen Aspekten vertraut zu machen. „Und ich finde, das muss man auch tun, bevor man überhaupt in so eine Debatte einsteigt!“ Die höflichere Form einer schallenden Ohrfeige.

Bielefeldt demonstriert noch an anderer Stelle Kenntnislücken in Bezug auf die Historie des Rituals, als er bestreitet, dass auch die männliche Beschneidung – so wie die weibliche – ursprünglich und lange Zeit als eine Maßnahme zur Beschneidung der Sexualität gerechtfertigt wurde. So wurde ein beherzter Zwischenruf, der den geplanten Gesetzesentwurf sexistisch nannte, von Bielefeldt und allen anderen Befürwortern der Beschneidung empört zurückgewiesen. Kinder werden vor Beschneidung geschützt, wenn sie Mädchen sind, nicht aber, wenn sie Jungen sind. Warum ist es so absurd, das Sexismus zu nennen?

Dann wirft er Putzke vor: „Sie wischen die Religionsfreiheit vom Tisch! Sie verweigern die Abwägung!“ Aber Abwägung womit? Hier vermisst man ein stärkeres Argument, eine stärkere Begründung, warum es gerechtfertigt sein sollte, ein Kind aus rituellen Gründen zu verletzen. An dieser Stelle wird jetzt deutlich, dass die Debatte um die Amputation der Vorhaut auf eigentümliche Weise selbst amputiert wirkt. Denn die Befürworter der Beschneidung sprechen zwar unablässig von Religion, scheuen sich aber, die für das religiöse Verständnis entscheidenden Argumente vorzubringen.

Das wurde deutlich, als ein offenbar tief religiöser Diskussionsteilnehmer die Frage an Holm Putzke richtete, ob er denn Kindeswohl nicht zu sehr auf die körperliche und seelische Gesundheit fixiere. Wie bitte? Ganz recht: Für Religiöse geht es immer noch erst ganz zuletzt um diese diesseitigen Aspekte. Zuallererst kommt die jenseitige Heilserwartung. Und es ist ganz klar: Ein Jude kommt nach orthodoxer Auffassung nur beschnitten in den Himmel, bzw. wenn er seinen Sohn am achten Tag beschneidet!

Diese Frage verdeutlicht einen viel übersehenen Aspekt der gesamten Debatte. Wenn wir die Religion ernst nehmen, dann geht es hier um das Seelenheil. Und dann kann es keine Kompromisse geben. Wenn wir diese zentralen Glaubensinhalte ernst nehmen, dann schrumpft die Vorhaut tatsächlich auf ein unbedeutendes Stückchen Haut zusammen. Dann geht es für Juden wörtlich und tatsächlich um den Bund mit Gott und tatsächlich um die Angst, als Unbeschnittener „aus dem Volke Israel ausgemerzt“ zu werden.

Aber wir nehmen die Religion nicht mehr ernst. Nicht einmal die religiösen Teilnehmer an der Debatte nehmen die Religion noch ernst. Zumindest scheuen sie sich, diese im Kern der Religion liegenden Argumente vorzubringen. Sie wissen oder spüren vielleicht, dass diese Argumente nicht mehr, wie vielleicht noch vor wenigen Jahrzehnten, in ihrem Sinne wirken würden. Ebenso wie beim Streit um Blasphemie geht es auch in dieser Debatte nur um den Schutz der religiösen Gefühle, nur um die Freiheit bei der Ausübung von Ritualen, nicht aber um den Inhalt der Rituale, nicht um den Kern dessen, was da angeblich geglaubt wird. Nicht Gott wird mehr in Schutz genommen, sondern die Gefühle dessen, der an Gott glaubt.

Und so kommt es zu dem Eindruck, dass die Befürworter der Beschneidung – trotz ihres Erfolgs beim Gesetzgeber – einen großen Nachteil in der Debatte haben: Es fehlen ihnen die entscheidenden Argumente. Denn wenn es nur noch um das religiöse Gefühl im Diesseits, nicht aber mehr um das tatsächliche Seelenheil im Jenseits geht, dann kann es doch wohl keine Frage sein, dass die Verletzung wehrloser Kinder dazu in keinem vernünftigen Verhältnis steht.

Daher hat diese Debatte, auch wenn sie jetzt durch den wenig demokratischen Schnellschuss des Gesetzgebers abgewürgt wird, doch eines sehr deutlich gezeigt: Unsere Debattenkultur ist säkularisiert, und sie ist erwachsen geworden. Es mag sein, dass die Unterlassung der religiösen Argumente aus strategischen Gründen erfolgt, dass tatsächlich insgeheim immer noch an Himmel und Hölle geglaubt wird. Aber dass diese strategischen Gründe überhaupt bestehen, ist ja mein ganzer Punkt! Der Hinweis auf das Seelenheil als wichtiger Aspekt des Kindeswohls wirkt bizarr und deplatziert, sogar in einer Kirche in Erlangen.

Interessanterweise entdecken auch die Gläubigen in dieser Debatte die Vorzüge der säkularen Prinzipien. Denn auch der monotheistische Schulterschluss ist nur um den Preis zu haben, dass die religiösen Inhalte zurückgehalten werden. Der Streit um das Beschneidungsritual war einmal ein erbitterter religiöser Streit, inzwischen müssen die alten Streithähne koalieren, um gegen einen mächtigeren Feind zu kämpfen. Christen, Juden und Muslime müssen von ihren Inhalten abstrahieren, um diese gemeinsame Front überhaupt bilden zu können, die jetzt offenbar so erfolgreich war.

Aber dieser Sieg der monotheistischen Phalanx gegenüber dem säkularen Rechtsstaat ist ein Pyrrhussieg. Denn er offenbart die Erosion des religiösen Diskurses. Der Trend zeigt eindeutig in Richtung Säkularisierung. Und auf lange Sicht hat ein Ritual, das insbesondere den Müttern ein solch großes Opfer abverlangt, nämlich die medizinisch völlig unnötige Verletzung des eigenen Kindes, keine Chance ohne Unterfütterung durch eine sehr ernst genommene Religion.

Harald Stücker