Rezension

Julian Nida-Rümelin zur Ethik der Migration

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin legt mit "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration" einen Essay zur aktuellen Flüchtlingsentwicklung vor. Seine differenzierte Auffassung (auch zur "Legitimation von Grenzen") liegt quer zu den Polen der Debatte und ist von daher um so wichtiger für die Kontroverse, welcher es häufig genug an Tiefgründigkeit mangelt.

Die aktuelle Flüchtlingsentwicklung löste auf den unterschiedlichsten Ebenen viele Kontroversen aus. Sie war Bestandteil alltäglicher ebenso wie politischer Debatten. Dabei dominierten häufig Emotionen und Polarisierung. An Differenzierung und Substanz fehlte es demgegenüber. Da stellt sich die Frage, was aus ethischer Perspektive hier gesagt werden kann. Die dazu berufenen Philosophen schwiegen sich dazu weitgehend aus. Dies gilt nicht für Julian Nida-Rümelin, der an der Universität München zu einschlägigen Themen forscht und lehrt. Mit "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration" legt er eine eigene Monographie zur Problematik vor. Darin versteigt der Autor sich aber keineswegs in Gedankenspiele ohne gesellschaftliche Bodenhaftung, was bestimmte Skeptiker vielleicht befürchten würden. Er will in dem Essay den Versuch unternehmen, "ethische Aspekte der Migration einer rationalen Klärung zuzuführen und damit auch die irreführende … Entgegensetzung von Ethik … und sogenannter Realpolitik" (S. 13) überwinden.

Am Beginn steht eine Erörterung der eingenommenen ethischen Perspektive, wobei der Autor zunächst kontraktualistische und utilitaristische Ansätze kritisiert, um dann für seine kohärentistische Herangehensweise zu werben. Diese wird aber weniger klar begründet als die anderen Perspektiven kritisiert werden. Deutlich macht der Autor indessen, dass er sich als dezidierter ethischer Realist versteht. Dem folgen Betrachtungen zur Deutung von individueller Verantwortung, welche in der Entwicklung von Gründen für Handlungen bestehe. Und dann geht es noch um den Gegensatz von Kommunitarismus als Ausrichtung an der lokalen Gemeinschaft und Kosmopolitismus als Orientierung an der Weltgesellschaft in der Sozialphilosophie. Und im letzten Kapitel bevor es dann zur eigentlichen Thematik geht, fragt Nida-Rümelin nach der internationaler Gerechtigkeit als globale Herausforderung, denn: "Die Welt ist ungerecht, weil ein Großteil der Weltbevölkerung im Elend verharrt, obwohl dieses Elend durch fairere Kooperation weltweit zu beheben wäre" (S. 85).

Erst danach finden sich Aussagen und Reflexionen zu den ethischen Aspekten der Armutsmigration, der Kriegs- und Bürgerkriegsmigration und der Wirtschaftsmigration. Dabei geht der Autor davon, aus dass es hierbei hauptsächlich um die Bekämpfung von Weltarmut gehe, was aber so sicherlich gar nicht der Fall sein muss. Danach leitet Nida-Rümelin aus seinen bisherigen Betrachtungen sieben ethische Postulate für die Migrationspolitik ab, womit man es mit dem Kernbestand seiner Reflexionen zu tun hat. Hier formuliert er wichtige Einsichten, die sich auch auf den Grad gesellschaftlicher Akzeptanz in den Aufnahmegesellschaften beziehen. Gerade das dabei deutlich werdende Differenzierungsvermögen - fern von den bisherigen Fronten der bisherigen Kontroverse - spricht für die Notwendigkeit von deren öffentlicher Wahrnehmung. Gleiches gilt für die Betrachtungen zur Legitimation von Grenzen. Nida-Rümelin stellt hier auf das diesbezügliche "kollektive Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft" (S. 163) ab.

Aus einer Auffassung zu einem universellen Recht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung für Individuen, Kollektive und Staaten gleichermaßen, skizziert er gegen Ende inhaltliche Elemente und praktische Wege zu einer gerechteren Welt. Dabei bleibt der Autor relativ allgemein, er argumentiert aber auch als Ethiker und nicht als Politiker. Im Ergebnis spricht Nida-Rümelin sich "aus kosmopolitischen und humanitären Erwägungen gegen eine Politik der offenen Grenzen zur Bekämpfung des Weltelends aus" (S. 24). Es kann mit guten Gründen aber gefragt werden, ob der letztgenannte Punkt wirklich als postulierte Strategie zumindest bei relevanten politischen Akteuren so gesehen wird. Ein solcher Aspekt wie andere Ausführungen können kritisch diskutiert werden. Dies ohne "ideologische Voreingenommenheit" (S. 198) zu tun, will der Autor anregen. Man kann tatsächlich in der Auseinandersetzung mit seinen Einsichten die eigene Urteilskraft schulen. Das Buch befördert insofern eine in Differenzierung und Tiefgründigkeit überfällige Kontroverse.

Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Hamburg 2017 (Edition Körber-Stiftung), 241 S., 20 Euro

Vgl. auch das zweiteilige Interview mit Julian Nida-Rümelin im hpd:
"Die Welt verträgt mehr Migration"
"Wir brauchen einen Paradigmenwechsel"