Im zweiten Teil unseres Interviews mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin zu seinem neuen Buch "Über Migration denken" geht es um gefährliche Botschaften in der öffentlichen Debatte, um echte ethische Dilemmata im Umgang mit der weltweiten Wanderung sowie die doppelte Ungerechtigkeit, die mit dem Import von Billigwaren aus den Entwicklungsländern etabliert wird. Den ersten Teil des Interviews können Sie hier nachlesen.
hpd: Herr Nida-Rümelin, inwiefern war Angela Merkels humanitär-trotziges "Wir schaffen das!" ethisch bedenklich?
Ich glaube, dieser Satz war eine Art Selbstermutigung. Ich vermute, dass dieser Satz auch ein Impuls des Augenblicks war. Sie sah, dass die Situation in Ungarn unerträglich geworden war und sah sich in der Pflicht, zu reagieren. Sie hat dann überstürzt reagiert. Auf den einen oder anderen Tag, an dem man eine europaweite Abstimmung der Regierungschefs hätte vornehmen können, wäre es nicht mehr angekommen. Deshalb war der Vorgang sicher kein Beispiel großer Staatskunst, aber die Öffnung selbst ist – auch aus heutiger Sicht – ethisch absolut verständlich. Den Impuls, den paar tausenden, die in Ungarn gestrandet waren, zu helfen, kann man absolut nachvollziehen.
Und dennoch lief danach einiges schief.
In den Folgemonaten gab es gefährliche Botschaften. Aussagen wie "Im 21. Jahrhundert lassen sich Grenzen nicht sichern." oder "Der Staat kann das nicht kontrollieren." hätten nicht fallen dürfen. Denn der Staat muss die Kontrolle behalten können, sonst bekommen die Menschen Panik. Zumal weiterhin behauptet wurde, dass die Außengrenzen der EU gesichert werden müssen. Wie soll das gehen, wenn man sich vorher hinstellt und sagt, dass sich Grenzen im 21. Jahrhundert grundsätzlich nicht mehr sichern lassen würden.
Schaut man sich die Grenzsicherungsmaßnahmen weltweit an, dann muss man die Forderung des Grenzschutzes doch zwangsweise als gesellschaftlichen Rückschritt an Menschlichkeit und Humanität deuten.
Es gibt in meinen Augen eine massive Schieflage, wenn wir über Grenzsicherung sprechen. Da bekommt man den Eindruck, Grenzen würden nur noch durch Zäune, Mauern und Schussanlagen gesichert werden können. Ich würde ganz einfach behaupten, dass die beste Methode, Grenzen effektiv zu sichern, eine gut funktionierende öffentliche Verwaltung ist. Die Menschen kommen ja nach Europa oder in die USA, um zu arbeiten. Dafür brauchen Sie eine Arbeitsgenehmigung und müssen irgendwo gemeldet sein. Für den Fall, dass sie Schutz suchen oder nicht arbeiten können, brauchen sie die Unterstützung der Sozialbehörden. Dann können zwar immer noch einige Kleinkriminelle ihr Unwesen treiben, aber das ist ja nicht das Gros der Immigranten. Nur winzige Teile landen in der Drogenkriminalität, der Großteil der Einwanderer will hier besser leben als in den Herkunftsregionen oder flüchtet vor Krieg und Verfolgung. Wenn also die öffentlichen Verwaltungen funktionieren, sind auch die Grenzen gesichert, was allerdings – eine bittere Pille – bedeutet, dass diejenigen, die illegal im Land sind und kein Bleiberecht haben, wieder gehen müssen. Das ist wiederum mit Bildern verbunden, die nicht angenehm sind.
Ist das eines der ethischen Dilemmata, von denen Sie in Ihrem Buch sprechen?
Nein, das nicht, aber es gibt bei der Betrachtung der internationalen Migration tatsächlich mindestens eines, wenn nicht sogar mehrere echte Dilemmata. Man unterscheidet in echte und unechte Dilemmata, wobei es sich bei einem echten Dilemma um Situationen handelt, bei denen wir, was immer wir auch tun, Schuld auf uns laden. Das Paradebeispiel dafür nennt sich "Sophies Choice". In diesem Szenario wird eine Mutter vom KZ-Aufseher aufgefordert, eines ihrer Zwillingskinder ins Vernichtungslager zu schicken, um das andere zu retten. Es gibt in dieser Situation keine richtige Entscheidung. Was immer die Mutter tut, sie wird Schuld auf sich laden. Ähnlich missliche Lagen gibt es bei der Migrationsthematik ebenfalls.
Welche sind das?
Menschen, die sich auf einem Staatsgebiet aufhalten, genießen, unabhängig davon, ob sie Staatsbürger sind oder nicht, den vollen Schutz der Menschenrechte. Sie dürfen diesbezüglich nicht schlechter behandelt werden als andere Menschen in diesem Staatsgebiet auch. Deshalb sind Versuche, die Standards der Flüchtlingsversorgung abzusenken, an den Verfassungsgerichten immer wieder gescheitert. Neben diesem territorial begrenzten Schlechterstelllungsverbot gibt es ein globales Gleichbehandlungsgebot gegenüber den Hilfsbedürftigen. Diejenigen, die unserer Hilfe am stärksten bedürfen, kommen aber gar nicht erst zu uns. Diejenigen, die es über die transkontinentale Migration bis nach Europa schaffen, sind in ihren Herkunftsregionen fast immer die relativ Bessergestellten. Die wirklich Armen, die von zwei Dollar Kaufkraft am Tag leben müssen, können die tausenden Dollars Transferkosten gar nicht aufbringen. Wir machen uns also etwas vor, wenn wir meinen, wir helfen hier den Ärmsten der Armen. Das sind zwar Menschen, die aus unserer Sicht meist bettelarm sind, in Eritrea oder im Senegal gehören Sie aber nicht zu den Ärmsten in der Gesellschaft.
Wie sollten wir uns denn dann verhalten?
Wenn wir eine Hilfspflicht haben, sollten wir nach dem Gleichbehandlungsprinzip denen mehr helfen, die auch mehr Hilfe bedürfen. Wir müssen unsere Anstrengungen aber auch auf die konzentrieren, die es bis in unsere Gesellschaften schaffen, um sie hier nicht schlechter zu behandeln. Dann benachteiligen wir aber sofort und implizit diejenigen, die in den Herkunftsländern geblieben sind. Das ist ein echtes Dilemma, das nicht so einfach aufzulösen ist. Deshalb plädiere ich für den bereits erwähnten Paradigmenwechsel. Die Bekämpfung des Weltelends muss durch eine sozialere, gerechtere, fairere und humanere Weltwirtschaftsordnung erfolgen und nicht vorrangig durch eine großzügige Aufnahmepolitik.
Ich stimme Ihrer Analyse nur zum Teil zu. Diejenigen, die sich auf den Weg nach Europa machen, finanzieren das selten nur mit eigenen Mitteln. Meist legen ganze Familien und Clans zusammen, um ein Mitglied auf die gefährliche Reise zu schicken. Deshalb sind es meist auch Männer, die hier ankommen, weil diese mit höherer Wahrscheinlichkeit die Strapazen einer Saharadurchquerung und der Mittelmeerüberquerung überstehen.
Das ist korrekt, das belegen auch die Daten, die ich mir angeschaut habe. In der Tat bringen meist ganze Gruppen oder Sippen die Kosten für eine solche Reise auf. Aber ich bleibe dabei: 8.000 US-Dollar sind in solchen Regionen eine Menge Geld, die nicht jede Sippe aufbringen kann. Diejenigen, die es schaffen, sollen dann Gelder zurücküberweisen, um die Familien in der Heimat zu ernähren. Dieses Investitionsmodell verstehe ich, aber die Hoffnung dahinter geht in den seltensten Fällen auf. Denn in Italien, Spanien und Griechenland wartet man nicht auf ungelernte Hilfskräfte aus Afrika. Diese Länder haben eine Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent und mehr zu bewältigen. Immigranten, die in diesen Ländern stranden, können meist nichts in ihre Heimatländer zurücküberweisen und aus Schamgefühl auch nicht zurückkehren.
In einer Gesellschaft, die ins Schwarz-Weiß-Denken verfallen ist, scheint es mir nicht ohne Brisanz, sich gegen offene Grenzen auszusprechen. Haben Sie keine Angst, mit Ihren Argumenten in die rechte Ecke gestellt oder von rechtspopulistischen Kräften missbraucht zu werden?
Das gehört zum Schicksal der public intellectuals, Urteilskraft hat eben ihren Preis. Letztlich wäge ich Dinge – vielleicht auch für andere – miteinander ab und lande am Ende meist irgendwo zwischen den Stühlen. Mir ist das schon mehrfach so gegangen. Vor Jahren habe ich mich gegen die vorherrschende Meinung gegen die immer weitere Akademisierung ausgesprochen. Inzwischen sehen das viele genauso, weil in den Lehrberufen sowie in der mittelständischen Wirtschaft der Nachwuchs fehlt und viele Akademiker keine guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben. Damals aber haben mich einige in Ecken gestellt, in die ich nicht gehöre. Das kann bei diesem Thema auch passieren. Aber ich hoffe, mit meinem Ansatz einer gerechteren Weltordnung zu zeigen, dass ich da nicht hingehöre. Ich frage in meinem Essay nach der kosmopolitischen Perspektive und der Rolle von Staatlichkeit. Brauchen wir überhaupt Staatlichkeit? Ich denke schon. Brauchen wir dann die Nationalstaaten? Naja, zumindest solange, wie wir keine Institutionen haben, die sie in ihrer Rolle ersetzen.
In ihrer Vision für eine Politik der globalen Gerechtigkeit sprechen sie auch über die Rolle von Wirtschaftsabkommen und den Einfluss transnationaler Konzerne? Was können diese zu einer gerechteren Welt beitragen?
Unternehmen haben ein Interesse an Arbeitskräften, die hier fehlen. Die Herkunftsländer haben wiederum ein Interesse daran, dass die Menschen, die sie ausgebildet haben, entweder bleiben oder ihnen die Ausbildungskosten, die sie aufgebracht haben, erstattet werden. Internationale oder bilaterale Rahmenverträge, wie sie die Wissenschaftlerin und Philosophin Gillian Brock vorschlägt, könnten das regeln. Bei der Aufteilung sollte man fairerweise auch die Arbeitnehmer in die Pflicht nehmen, die von solchen Abkommen durch die Vervielfachung des Einkommens profitieren, aber auch die Unternehmen, die diese Arbeitskräfte einsetzen. Und nicht zuletzt die aufnehmenden Staaten, die damit ihr demografisches Problem einhegen. Warum sollen diese drei Akteure nicht jeweils einen Teil von dem zu zahlenden Betrag an die Herkunftsländer aufbringen? Die Herkunftsländer können dank einer solchen Ausgleichszahlung die Abwanderung viel leichter verkraften, weil sie das Geld in weitere Bildungsanstrengungen investieren können.
Warum sollte eine humane Migrationspolitik in einer inhumanen Gesellschaft erfolgreich sein?
Es gibt die globalen Millennium-Ziele der Vereinten Nationen, von denen es immer heißt, wir wären auf dem richtigen Weg. Wenn man aber genau hinschaut, wird deutlich, dass der Prozentsatz der absolut Armen nur deshalb abnimmt, weil die Weltbevölkerung insgesamt zunimmt. Die tatsächliche Zahl der Armen ist jedoch kaum zurückgegangen. Zugleich muss ich aber einräumen, dass es in einigen Bereichen Entwicklung gegeben hat. Nehmen Sie nur die Lebenserwartung, die in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich gestiegen ist. Das ist schon ein Indiz, dass es den Menschen besser geht. Die medizinische Versorgung in den Elendsregionen hat massiv zugenommen. In China hat sich sozio-ökonomisch ebenfalls viel getan. Die Welt ist insgesamt in Bewegung.
Dann sind wir beim Stichwort der Globalisierung angekommen. Können wir Menschen verwehren, was wir Waren und Wirtschaftsgütern erlauben, nämlich den unbegrenzten Verkehr?
Die Frage muss doch lauten: Wohin geht das? Löst sich alle Staatlichkeit auf und wir haben am Ende einen chaotischen Welt- und Finanzmarkt, der die Staaten in Abhängigkeit hält? Hier sage ich ganz klar, dass das nicht sein kann. Es braucht im Weltmaßstab das Primat der staatlichen Strukturen, die das Weltchaos verhindern und Mindeststandards einer halbwegs gerechten und fairen Arbeitswelt aufrechterhalten. Wir würden in Europa beispielsweise nie die Ausbeutung von Kindern auf dem Arbeitsmarkt dulden, importieren aber massenweise Handys und Jeans, die nur deshalb so billig sind, weil sie mit Kinderarbeit hergestellt wurden.
Mit diesen billigen Produkten wird die Unterschicht ruhig gestellt? Durch demonstrativen Konsum können die Abgehängten das Gefühl der Ungerechtigkeit verdrängen.
Die schlechte soziale Entwicklung hat tatsächlich zur Folge, dass die unteren Einkommensschichten quasi nicht mehr am Wirtschaftswachstum partizipieren. Das wird kompensiert durch Billigimporte, die unter grausigsten Bedingungen produziert worden sind. So etabliert sich eine doppelte Ungerechtigkeit: die zwischen Arm und Reich in den Industriegesellschaften, in denen die Abgehängten mit Billigprodukten zum Schweigen gebracht werden. Und die Ungerechtigkeit in den Entwicklungsländern, wo man Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis hält. Hier liegt die eigentliche Herausforderung unserer Zeit und nicht in der Aufnahme eines geringen Prozentsatzes der Ärmsten der Welt in den Industriestaaten.
Herr Nida-Rümelin, vielen Dank für das Gespräch.
Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands. In "Über Grenzen denken" diskutiert er verschiedene Fragen der Migration unter ethischen Gesichtspunkten. Warum müssen wir über die Steuerung der Migration gerade jetzt nachdenken? Zuletzt veröffentlichte er neben den bereits genannten Titeln eine "Philosophie einer humanen Bildung".