hpd: Aber in dem zuvor schon angesprochenen Interview verweist die Bundesjustizministerin darauf, dass auch kritische Stimmen gehört worden seien. Wieso wurden deren Argumente nicht aufgenommen?
Holm Putzke: Ein weiterer Versuch, die Wahrheit zu verdrehen. Bis zur Präsentation der Eckpunkte des Justizministeriums gab es keine Beteiligung kritischer Experten. Das war ja auch gar nicht gewollt, weil es dann ziemlich schwierig geworden wäre, medizinisch unnötige Beschneidungen als kindeswohldienlich zu verkaufen. Mit dem Kindeswohl haben medizinisch unnötige Beschneidungen so viel zu tun wie Reinhold Messner mit einem Tiefseetaucher. Hätte das Justizministerium das durch Studien solide belegte Schädigungspotential von Beschneidungen objektiv dargestellt, wäre die Mehrheit für das Gesetz bedrohlich ins Wanken geraten, weil vielen Bundestagsabgeordneten dann klar geworden wäre, dass sie keine Entscheidung treffen, die dem Wohl von Kindern dient.
hpd: Nun hat aber auch im Rechtsausschuss die Mehrheit der Sachverständigen für das Beschneidungsgesetz votiert. Ist dieses Votum gar nichts wert?
Holm Putzke: Genau – keinen Pfifferling! Überlegen Sie doch mal: Bei allen Eingeladenen war völlig klar, wie sie votieren würden, weil sich die meisten vorher schon irgendwo geäußert hatten. So standen von vornherein viele Beschneidungsbefürworter wenigen Kritikern gegenüber. Völlig überraschend war am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen, dass eine große Mehrheit der Sachverständigen das Gesetz gutheißt. Wer keine Ahnung hat, den beeindruckt so ein scheinbar klares Votum natürlich. Bei genauerem Hinsehen haben die gezielt ausgewählten Sachverständigen genau das produziert, was die Politik bei ihnen bestellt hat: einen Persilschein. So funktioniert Politik: Man lade sich die Applaudierer und Ja-Sager ein, die man braucht, und schon bekommt man das Ergebnis, das man haben möchte.
Warum wurden neben oder anstelle der jüdischen Beschneiderin Antje Yael Deusel und des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, nicht Andreas Gotzmann, Professor für Judaistik an der Universität Erfurt, geladen oder Michael Wolffsohn, Historiker und emeritierter Professor? Warum wurde der gerade zum Bundesgerichtshof berufene Hennig Radtke gehört und nicht der langjährige BGH-Richter Thomas Fischer, Autor des bekanntesten StGB-Kommentars? Was qualifiziert Hans Kristof Graf, Chefarzt im Jüdischen Krankenhaus Berlin, gegenüber Boris Zernikow, Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums, oder gegenüber Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie? Oder was hat der Ehrenvorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzki, für besondere Kompetenzen etwa im Vergleich zu einer Vertreterin oder einem Vertreter der Deutschen Kinderhilfe? Wieso wurde Aiman A. Mazyek eingeladen, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, aber kein einziger von denen, die ihre Beschneidung beklagen und unter ihrem Zustand leiden? Und mit welchem Recht erhält der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig den Vorrang etwa gegenüber Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts?
Wie man sieht: Leicht hätte die Sachverständigenrunde ganz anders besetzt werden können und dann wäre ein ganz anderes Ergebnis herausgekommen und die Medien hätten am nächsten Tag vermelden müssen: „Sachverständige uneins über Beschneidungsgesetz“ oder „Sachverständige lehnen Beschneidungsgesetz ab“. Aber das hätte Sand ins Getriebe der überhastet angeworfenen Gesetzgebungsmaschinerie gestreut. Und mehr Bedenkzeit wollte sich die Politik nicht gönnen, weil sie den auf sie ausgeübten Druck als zu groß empfand.
hpd: Die Bundesjustizministerin meint, dass das Gesetz nicht hastig zustande gekommen oder gar durchgepeitscht worden sei. Auch habe man keinem Druck nachgegeben. Sie sehen das anders?
Holm Putzke: Was soll Frau Leutheusser-Schnarrenberger denn sagen? Das sind doch typische Beschwichtigungs- und Ausweichfloskeln einer Politikerin, die mit dem Rücken zur Wand steht. Ich kann nur hoffen, dass es niemanden gibt, der sich von solchen Äußerungen den Verstand vernebeln lässt. Man muss sich doch nur einmal anschauen, welche Drohkulisse allein von jüdischer Seite aufgebaut wurde, nämlich dass bei einem Beschneidungsverbot „jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich“ sei und dass es sich um „den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust“ handele. Das sind Drohungen, die in Deutschland schlicht nicht steigerungsfähig sind. Die Politik hätte den Mut haben müssen, solche Aussagen als „substanz- und taktlos“ zurückzuweisen, so wie es der Historiker Michael Wolffsohn getan hat.
Natürlich gab es einige Leute, die das Urteil des Landgerichts Köln und die Diskussion nutzen wollten, um ihren Ressentiments gegenüber Juden und Muslimen Ausdruck zu verleihen. Aber das waren Wenige. Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass die Kritik an medizinisch unnötigen Beschneidungen mehrheitlich weder antisemitisch oder antimuslimisch noch antireligiös ist, es vielmehr um das Wohl von Kindern geht, das in einem Rechtsstaat nicht allein von religiösen Vorstellungen abhängen darf.
Leider hat sich die Mehrheit der Politiker einschüchtern lassen. Und wenn man einmal mit Insidern spricht und erfährt, was da für eine Hektik und ein Druck im Justizministerium geherrscht haben, dann wundert man sich auch nicht mehr darüber, dass das Gesetz und die eiligst zusammengeschusterte Begründung handwerklich derart miserabel sind.
hpd: In der Anhörung vor dem Rechtsausschuss hat Michael Heinig gesagt, dass der Gesetzentwurf „über jeden Zweifel erhaben“ sei.
Holm Putzke: … was sich über seine Stellungnahme leider nicht sagen lässt. Das beginnt schon damit, dass er sich auf ein pseudowissenschaftliches Kampfpapier des American Jewish Committee beruft, Kritiker pauschal und ohne dies zu belegen der Falschdarstellung bezichtigt, die Frage des Schädigungspotentials von Vorhautamputationen völlig unzureichend behandelt und nicht zuletzt die verfassungsrechtlichen Probleme nicht ansatzweise erfasst. Kirchenrechtler Heinig hört genau dort auf nachzudenken, wo die eigentlichen Probleme beginnen.
hpd: Wo liegen denn die Schwächen des Gesetzes?
Holm Putzke: Die Mängelliste ist lang und hier reicht die Zeit nicht, um auf alles einzugehen. Zunächst einmal: Das Beschneidungsgesetz ist verfassungswidrig! Neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und negative Religionsfreiheit ist auch Artikel 3 des Grundgesetzes verletzt. Obwohl dieses Grundrecht erklärt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt und geschlechtsabhängige Bevorzugungen oder Benachteiligungen verboten sind, knüpft der Gesetzgeber die Erlaubnis zur Körperverletzung ausdrücklich an das Geschlecht des Kindes. Offenbar soll der Gleichheitssatz für Jungen und Mädchen nicht gelten. Das ist mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren. Bei der Genitalverstümmelung von Mädchen – die mit Blick auf leichte Formen ohne weiteres mit der männlichen vergleichbar ist – gehört das empörte Ablehnen dieser Form von Gewalt inzwischen zum guten Ton. Es gibt keinen sachlichen Grund, Jungen anders zu behandeln. Stattdessen ebnet der Gesetzgeber mit dem Beschneidungsgesetz den Mädchenbeschneidern den Weg – auch wenn dies die Befürworter der männlichen Vorhautamputation nicht wahrhaben wollen und über den Vergleich schimpfen wie Rohrspatzen.
Sodann ist es skandalös, Nichtmedizinern zu erlauben, operative Eingriffe an Säuglingen vorzunehmen. Ich bin sicher: Kein einziger Jude hätte Deutschland verlassen, wenn man die Durchführung der Brit Milah an die Voraussetzung geknüpft hätte, dass sie nur dann von Mohalim vorgenommen werden dürfen, wenn diese zugleich approbierte Ärzte sind.
Deutliche Kritik ist an der missglückten Zweckklausel zu üben. Beschneidungen seien dann nicht erlaubt, wenn unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet sei. Das sei etwa der Fall, wenn Eltern ihr Kind zur Masturbationserschwerung oder aus ästhetischen Gründen beschneiden lassen wollen. Zum einen ist diese Regelung nicht justiziabel, weil Eltern nach dem Willen des Gesetzgebers ja zum Zweck der Beschneidung gar keine Angaben machen müssen. Aber selbst wenn sie es müssten, würde der Verweis auf „Religion“ oder „Gesundheit“ genügen, um das Kind beschneiden lassen zu dürfen. De facto erlaubt das Gesetz Eltern also, ihren Kindern nach Lust und Laune die Vorhaut zu amputieren.
Die Zweckklausel ist aber auch aus einem ganz anderen Grund Regelungsunfug: Für die Legitimation eines Eingriffs sind – bezogen auf das Kind – allein objektive Parameter ausschlaggebend. Ist ein Eingriff objektiv kindeswohldienlich, vermögen die niederträchtigsten Motive, aus denen heraus Eltern ihn verlangen, nichts an der Kindeswohltauglichkeit zu ändern. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Einwilligung der Eltern in eine dringend notwendige Zahnbehandlung ihres Kindes ist nicht deshalb unwirksam, weil die Eltern einwilligen, um sich an den Schmerzen und der Angst ihres Kindes zu ergötzen.