(hpd) Die Vorschrift des Kirchenrechts, derzufolge die Akten von Sittlichkeitsverfahren zu vernichten und nur ein Tatbestandsbericht und das Endurteil aufzubewahren sind, bezieht sich auf kirchliche Verfahren, nicht auf staatliche. Außerdem sind die Verfahrensakten bei Missbrauchsfällen an die Glaubenskongregation in Rom zu übersenden. Demzufolge dürfte es in den deutschen Bistümern gar keine Akten zu abgeschlossenen Verfahren mehr geben.
Nach der Kündigung der groß angekündigten Missbrauchsstudie durch die deutschen Bischöfe wurde immer wieder eine Vorschrift des Kirchenrechts (can. 489 § 2 CIC) erwähnt, derzufolge "die Akten der Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, deren Angeklagte verstorben sind oder die seit einem Jahrzehnt durch Verurteilung abgeschlossen sind, zu vernichten [sind]; ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils ist aufzubewahren."
Nach der Ankündigung des Forschungsvorhabens hatte das „Netzwerk katholischer Priester“ Prof. Pfeiffer auf diese Vorschrift hingewiesen und auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass bischöfliche Geheimarchive nach Ansicht mehrerer Kirchenrechtsexperten nicht "ohne Erlaubnis des Heiligen Stuhles geöffnet und die darin befindlichen Akten entgegen ihrer Bestimmung verwendet werden" können.
Nachdem dies letzte Woche bekannt wurde, beeilten sich die deutschen Bischöfe, zu beteuern, dass es keine Aktenvernichtung gäbe – oder zumindest keine, die das Forschungsprojekt behindern würde. Der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, erklärte vor Journalisten, das Kirchenrecht sei sogar strenger als das staatliche Strafrecht, weil zumindest ein Tatbestandsbericht und der Wortlaut des Endurteils aufzubewahren seien.
Was Kopp nicht sagte: Der Begriff "Strafsachen" in der Vorschrift bezieht sich nicht auf das staatliche Strafrecht, sondern auf das kirchliche. Und mit "Sittlichkeitsverfahren" sind Verstöße gegen den Zölibat gemeint: Das kann z.B. auch Sex mit einer erwachsenen Frau sein – etwas, was die Staatsanwaltschaft nicht interessiert.
Hier ist also nicht das Urteil eines staatlichen Strafverfahrens aufzubewahren, sondern das Endurteil des kirchlichen Verfahrens. Außerdem werden nicht nur die Akten von Fällen vernichtet, wo der Täter vor einem staatlichen Gericht verurteilt wurde – sondern auch die Akten all der Fälle, wo der Täter überhaupt nicht bei den staatlichen Behörden angezeigt wurde, sondern nur ein kirchliches Verfahren stattfand.
Sexuelle Handlungen mit Minderjährigen gelten im Kirchenrecht als "schwerwiegendere Straftaten" (delicta graviora). Alles, was damit zusammenhängt, unterliegt dem "päpstlichen (Amts-)Geheimnis". Seit 2001 sind nach dem Abschluss solcher Verfahren die gesamten Akten an die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom zu übersenden, sofern diese das Verfahren nicht ohnehin an sich zieht. (Der Glaubenskongregation steht seit Juli 2012 der emeritierte Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller vor.)
Damit dürften sich die verbleibenden Akten zu kirchlichen Missbrauchsverfahren gar nicht mehr bei den deutschen Bistümern befinden, sondern bei der Glaubenskongregation in Rom. Wenn sie nicht vernichtet sind, können sie im Prinzip noch ausgewertet werden.
Die deutschen Bischöfe haben die Bereitschaft, ihre Akten für das Forschungsprojekt zur Verfügung zu stellen, als Beleg für ihren Aufklärungswillen angeführt. Wenn die Akten noch vorhanden sind, kann nun die Katholische Kirche als solche ihren Aufklärungswillen unter Beweis stellen, indem die Glaubenskongregation die Akten – zumindest für die deutschen Fälle – für die Auswertung zur Verfügung stellt.
Matthias Krause
Seite 2: Vorschriften aus dem Codex Iuris Canonici