Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft

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Annett Schulz / Foto: privat

BERLIN. (hpd) Um die Frage, ob die Biologie zur Erklärungen sozialer Phänomene herangezogen werden kann, wird intensiv gestritten. Gerade in säkularen Kreisen stehen naturwissenschaftliche Argumentationen hoch im Kurs. Ein soeben erschienener Sammelband stellt diesen Ansatz in Frage.

Die Autorinnen und Autoren befassen sich mit der Schaffung vermeintlich „natürlich-normaler“ Ordnungen, aktuellen Tendenzen in den Lebenswissenschaften und historischen Traditionslinien. hpd sprach mit dem Herausgeberteam Annett Schulze und Thorsten Schäfer.
 

hpd: Was genau verstehen die Autorinnen und Autoren des Bandes unter „Biologisierung“ oder „Rassifizierung“?

Annett Schulze / Thorsten Schäfer: Beide Begriffe verstehen wir als soziale Konstruktionen, also von Menschen vorgenommene Einteilungen, meist nach dem Sichtbaren. „Biologisierung“ umfasst den Prozess der Suche nach Naturgegebenheit: Biologische Gesetzmäßigkeiten werden erdacht, wissenschaftlich festgeschrieben und soziale Bedingungen untergeordnet. In unserer Einleitung und in unserem Beitrag gehen wir auf beide Begriffe ein.

hpd: In welchen Bereichen von Gesellschaft und Wissenschaft lassen sich biologisierende Tendenzen feststellen?

Schulze / Schäfer: Vanessa Lux und Tino Plümecke stellen diese biologisierenden Tendenzen am Beispiel von Gen- und Hirnforschung dar. Pharmaindustrie, Institute für Ahnenforschung oder politische Öffentlichkeitsarbeit nutzen die Ergebnisse zur Vermarktung.

hpd: Geht es dabei um „schlechte Wissenschaft“ oder haltet ihr es mit Emile Durkheim für prinzipiell falsch, Naturwissenschaft zur Erklärung sozialer Phänomene heranzuziehen?

Schulze / Schäfer: Michael Gommel zeigt, dass es mindestens zwei Perspektiven auf eine Kritik gegenüber Wissenschaftspraxen geben muss. Standards wie Transparenz sind die offensichtlichen und auch in Publikationen wie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) nachlesbar. Aber was ist beispielsweise mit dem Kindchenschema von Konrad Lorenz, das bis heute nicht in der von Lorenz behaupteten Qualität nachgewiesen werden konnte?

hpd: Lässt sich über Medizin oder Genuss seriös diskutieren, ohne biologische Aspekte zu berücksichtigen?

Annett Schulze: Das kommt auf die Perspektive an. Wenn es um die gesellschaftlichen Bedingungen medizinischer Versorgung geht, also die Ausstattung von Krankenhäusern, Outsourcing, das Personal etc., dann sind die biologischen Aspekte nicht ausschlaggebend. Auch Genuss ist unserer Meinung nach ein soziales Produkt und erlernbar. Ich erinnere mich noch gut an meinen Spinatekel als Kind. Heute ist es eines meiner Lieblingsessen.

hpd: Lassen sich Naturverhältnisse in gleicher Weise umwerfen wie gesellschaftliche Verhältnisse?

Schulze / Schäfer: Wissen ist historisch und damit veränderbar. Was als natürlich galt – Frauen könnten z.B. aufgrund ihrer Gehirnbeschaffenheit nicht studieren –, ist heute durch die Praxis widerlegt. Das sehen wir auch am Beispiel der Astronomie sehr gut, z.B. an der Theorie: Die Erde sei der Mittelpunkt des Universums. Heute gilt als anerkanntes Wissen, dass es verschiedene Sonnensysteme gibt. Der Naturbegriff selbst, das, was wir als Natur bezeichnen, ist ebenso erst durch den Menschen geschaffen worden.

hpd: Im Titel ist von „Re-Biologisierung“ die Rede. Wie unterscheiden sich biologisierende Zuschreibungen heute vom „klassischen“ Rassismus?

Schulze / Schäfer: Biologisierung umfasst nicht nur Rassifizierung, sondern alle Prozesse, die das „Andere“ herstellen und ausgrenzen, u.a. Vergeschlechtlichungen, Heteronormativität und die Hierarchisierung von (Einkommens- und Bildungs-)Milieus. Zudem bleibt in der Frage offen, was unter „klassischem“ Rassismus zu verstehen ist. Auch hier gibt es verschiedene Definitionen, Theorien und Forschungsansätze.

hpd: Welche Kontinuitätslinien werden im Buch aufgezeigt?

Schulze / Schäfer: Am Beispiel von Ernst Haeckel, Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt haben wir eine der Kontinuitätslinien skizziert. Sie nahmen biologisierendes Wissen für wahr und lehrten dieses an unterschiedlichen Forschungseinrichtungen. Wir wollen betonen, dass es nicht allein Diskurse (also anerkannte Wissensformationen) sind, die das Handeln von Menschen bestimmen. Es sind auch die Entscheidungen der Menschen für das Vertreten und Darstellen dieses anerkannten und machtvollen Wissens. Es gab im Untersuchungszeitraum immer auch VertreterInnen eines Wissens, die diesem naturalisierenden Wissen widersprachen.

Christoph Kopke setzt sich mit der Nutzung von ökologischem Wissen und gesellschaftspolitischer Verantwortung auseinander. Er geht u.a. den Fragen nach: Wie politisch ist der Kompost? Oder wie verwerteten extrem rechte Akteure ökologische Nutzverfahren? Und welche Chancen bietet die Auseinandersetzung mit Geschichte heutigen umweltpolitisch Engagierten?

hpd: In welchen aktuellen politischen Debatten kommt eine „re-biologisierende“ Perspektive besonders zum Tragen?

Schulze / Schäfer: Zum Beispiel in Bezug auf die sexuelle Orientierung, die in einer Studie aus Schweden im Gehirn verortet wurde. Das Ergebnis ist bis heute umstritten und wird politisch, abhängig von dem jeweiligen Standpunkt, für oder gegen Gleichberechtigung eingesetzt. Oder in Bezug auf kulturelle Zuschreibungen und Normierungen, die als dem Körper innewohnend und unabänderlich konstruiert werden wie z. B. in Migrations- oder Leitkulturdebatten.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 

Annett Schulze / Thorsten Schäfer (Hrsg.): Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft. Menschenfeindliche Konstruktionen im Ökologischen und im Sozialen. Mit einem Vorwort von Alex Demirović. Aschaffenburg: Alibri 2012, 209 Seiten, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-088-3

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.