Ein sanfter Revolutionär

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Prof. Dr. Johannes Neumann / Foto © Evelin Frerk

OBERKIRCH. (hpd) Er kämpfte für Gerechtigkeit ohne jede Spur von Selbstgerechtigkeit, gab wichtige Impulse, ohne sich selbst wichtig zu nehmen: Am Abend des 5. Mai starb der ehemalige Dekan der Theologischen Fakultät Tübingen und spätere Religionskritiker Johannes Neumann nach langer schwerer Krankheit im Kreis seiner Familie.

Michael Schmidt-Salomon erinnert an einen großen Aufklärer und Humanisten.

Es gibt ein schönes Foto, das Evelin Frerk vor vier Jahren auf einem Treffen der Giordano-Bruno-Stiftung fotografiert hat: Johannes Neumann steht in der Mitte dieses Bildes, umringt von zahlreichen Beiräten und Mitarbeitern der Stiftung. Auffällig daran ist, dass Johannes, inmitten der Gruppe mit roter Jacke – im Kontrast zu allen anderen – eine gebückte Haltung auf dem Foto einnimmt, um bloß nicht den Blick auf die hinteren Reihen zu verdecken.

Dies war natürlich dem Umstand geschuldet, dass Johannes auch in körperlicher Hinsicht ein großer Mann war, der viele überragte. Für mich hat dieser Schnappschuss aber zudem etwas Sinnbildliches: Denn Johannes hat sich oft kleiner gemacht, als er tatsächlich war. Niemals hätte er mit eigenen Leistungen geprahlt oder versucht, andere in den Schatten zu stellen. Das Imponierende an ihm war, dass er so frei von jeglichem Imponiergehabe war. Bei Johannes paarte sich größte Kompetenz mit größter Bescheidenheit – und eben dies machte ihn zu einem der angenehmsten, sanftesten, klügsten, ja, ich möchte sagen: weisesten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe.

Albert Einstein sagte einmal: „Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.“ Auch wenn die Formulierung „wahrer Wert eines Menschen“ unglücklich ist, trifft Einsteins Aussage einen entscheidenden Punkt: Denn es kommt in der Tat darauf an, „in welchem Grad“ und „in welchem Sinn“ man sich vom „Ich“ befreien kann. Johannes Neumann war in dieser Hinsicht ein großes Vorbild. So sehr er auch für die Selbstbestimmungsrechte des Individuums eintrat und so entschieden er es gegen Angriffe von religiöser oder politisch-ideologischer Seite verteidigte, so sehr hatte er sich zugleich von der Illusion des „grandiosen Selbst“ verabschiedet, das sich als erhaben über die Naturgesetze wähnt.

Aus dieser Sichtweise rührte auch die enorme Ruhe und Gelassenheit, die Johannes bei all seinem Engagement für eine freiere, gerechtere Gesellschaft ausstrahlte. Seine Bescheidenheit war nie aufgesetzt, sondern entsprach der Weise, in der er die Welt sah. Statt sich selbst als „ungemein wichtig“ zu präsentieren (eine Haltung, die bei anderen Religionskritikern durchaus zu beobachten ist), konzentrierte er sich darauf, Dinge in Bewegung zu setzen, die für einen humanen Fortschritt tatsächlich wichtig waren und sind.

In dieser Hinsicht war das Foto vom gbs-Treffen alles andere als sinnbildlich: Denn Johannes Neumann war beileibe kein Mensch, der sein Leben in gebückter Haltung bestritt. Im Gegenteil: Er war ein Musterbeispiel für aufrechten Gang! Nicht ohne Grund war er der erste deutsche Theologieprofessor, der von sich aus den kirchlichen Lehrauftrag zurückgab. Weil er von der Theologie in die Soziologie wechseln konnte, war dieser Schritt zwar mit keinen schwerwiegenden ökonomischen Nachteilen verbunden, doch er markierte eine wichtige Zäsur in seinem Leben, immerhin hatte er als Theologe bis dahin eine regelrechte Bilderbuchkarriere hingelegt: 1929 in Königsberg geboren, hatte Johannes in Freiburg und München Philosophie, Geschichte, Soziologie und Theologie studiert. Nach der Promotion und Habilitation in München wurde er zum Professor für Kirchenrecht an die renommierte Theologische Fakultät der Universität Tübingen berufen, wo er u.a. an der Seite von Hans Küng und Joseph Ratzinger lehrte.

Sein Verhältnis zum späteren Papst war höchst ambivalent. Einerseits nahm Johannes ihn aus Kollegialität mit seinem Wagen zu unzähligen Konzerten und Veranstaltungen mit, andererseits war er dessen schärfster Widersacher innerhalb der Fakultät. Ratzinger blieb das nicht verborgen und bezeichnete seinen Kollegen als „Wolf im Schafspelz“. Die Konflikte zwischen beiden verschärften sich, als Johannes den Posten des Dekans der Theologischen Fakultät abgab und Ratzinger übernahm. Der despotische Führungsstil des Bayern führte sogar dazu, dass Johannes eine Fakultätssitzung voreilig, die Türe zuknallend, verließ – wer Johannes kannte, weiß, wie schwer es gewesen sein muss, ihn zu einer derartigen Reaktion zu bewegen.

Nachdem Ratzinger Tübingen Richtung Regensburg verlassen hatte, kehrte zunächst etwas Ruhe ein. Johannes, bei dem die Glaubensgewissheiten nun mehr und mehr schwanden, wandte sich vermehrt administrativen Aufgaben zu. So übernahm er von 1970 bis 1972 den Posten des Rektors der Universität Tübingen. In den theologischen Vorlesungen und Seminaren, die er danach abhielt, wurde er immer häufiger mit Fragen konfrontiert, die er nicht im Sinne des Kirchenamtes beantworten konnte, so dass er vom zuständigen Bischof vorgeladen wurde, der ihn im vorwurfsvollem Ton fragte, warum er denn alles, was er wisse, unbedingt vor Studenten und Laien ausbreiten müsse.

Während die einen Johannes vorwarfen, mit seiner Kritik an der Kirche zu weit zu gehen, ging er anderen mit seiner Kritik noch nicht weit genug. Letzteres brachte auch seine damalige Assistentin zum Ausdruck, die Johannes erst schätzen und dann lieben lernte – ein Ereignis, das seinem Leben eine völlig neue Wendung gab. Nach dem Abschied aus der Theologie 1977 und der Heirat mit Ursula Neumann wandte sich Johannes neben seinem Engagement für behinderte Menschen (u.a. gründete er das „Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen“) verstärkt religionskritischen Fragestellungen zu. Er schrieb maßgebliche und bis heute wegweisende Arbeiten zur Trennung von Staat und Kirche, wurde Mitglied der Humanistischen Union und der Humanistischen Akademie Berlin, Beirat des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) und Mitherausgeber der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“.

Persönlich traf ich Johannes das erste Mal auf einer Tagung der „Internationalen Erich Fromm Gesellschaft“, die er mitbegründet und eine Zeit lang als 1. Vorsitzender geleitet hatte. Intensiver ins Gespräch kamen wir jedoch erst einige Jahre später, als Johannes und Ursula Neumann im Oktober 2000 mit dem Erwin-Fischer-Preis des IBKA ausgezeichnet wurden. Mit dieser Ehrung sollten nicht nur die herausragenden theoretischen Beiträge gewürdigt werden, die das Ehepaar Neumann verfasst hatte. Anlass für die Auszeichnung war nicht zuletzt auch der bis heute immer wieder zitierte Rechtsstreit, den Ursula und Johannes Neumann gegen den Ethikunterricht in Baden-Württemberg angestrengt und bis in die letzte Instanz durchgefochten hatten. Am Rande dieser Preisverleihung diskutierten wir gemeinsam über die Idee, einen „Giordano-Bruno-Fonds für die Opfer religiöser Gewalt“ einzurichten. Damals fehlten uns zwar die Mittel, um einen solchen Fonds zu stiften, aber der Gedanke, ein neues säkulares Projekt mit dem Namen „Giordano Bruno“ zu verbinden, blieb in unseren Köpfen.