Kirchenarbeitsrecht und Grundrechte

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Prof. Dr. Hartmut Kreß, Foto: © R.Stieber, Karlsruhe

BERLIN. (hpd) Im Oktober legte Dr. Kreß das Gutachten "Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht - sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten" im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung vor. Bevor es demnächst in Buchform erscheinen wird, erläutert der Professor für Sozialethik und Systematische Theologie an der Universität Bonn hier seine Sicht auf die Problematik des kirchlichen Arbeitsrechts im Zusammenhang mit den Grundrechten.

hpd: Schon alleine der Titel Ihres Gutachtens dürfte für viele Kirchenfunktionäre und Würdenträger sowie Kirchenjuristen eine Provokation darstellen, zumal Sie Professor für Systematische Theologie, insbesondere Ethik, an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn sind. Ist die Zeit für eine offene und kritische Auseinandersetzung auch in kirchlichen und theologischen Kreisen reif?

Hartmut Kreß: Das Gutachten ist nicht als Provokation gemeint – das wäre wenig sinnvoll –, sondern als sozialethischer und rechtsethischer Problemhinweis. Es erörtert, in welcher Hinsicht das Arbeitsrecht der beiden großen Kirchen zu den persönlichen Grundrechten von Arbeitnehmern in Spannung steht.

Ein Hintergrund der Fragestellung: Das Verhältnis der Kirchen zu Grundrechten bzw. Menschenrechten ist belastet. Bekanntlich hat die römisch-katholische Kirche erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Grund- und Menschenrechten ihren Frieden gemacht. Im Jahr 1965 akzeptierte sie dann im Prinzip auch die Religionsfreiheit als Grundrecht. Andererseits ist der Vatikan der Europäischen Menschenrechtskonvention bis heute nicht beigetreten. Auch auf evangelischer Seite gab es lange Zeit gegen die Idee der Menschenrechte große Vorbehalte. Im Jahr 1985 erschien schließlich die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie". Diese Denkschrift ist ein Symbol dafür, dass evangelische Kirchen zu Demokratie und Grundrechten heutzutage Ja sagen.

Jedoch ist eine Einschränkung zu sehen. Für ihren eigenen Bereich haben sich die beiden Kirchen die Grundrechte bisher noch nicht zu eigen gemacht. Juristisch gesagt: Für die Kirchen besteht keine Grundrechtsbindung. Dies wirkt sich besonders auf das kirchliche Arbeitsrecht aus. Für kirchliche Arbeitnehmer gelten der persönliche Grundrechtsschutz und auch weitere Arbeitnehmerrechte nur eingeschränkt. Hierzu besteht Diskussionsbedarf.

Dreh- und Angelpunkt für die Sonderrechte im kirchlichen Arbeitsrecht ist die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts, das die Kirchen aus der Weimarer Reichsverfassung unter Berufung auf Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 Absatz 3 WRV ableiten. Darin heißt es: "Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." Ist es haltbar, daraus ein Streikverbot, den Ausschluss konfessionsloser Pförtner und Pfleger sowie ein abgeschwächtes Mitbestimmungs- und Tarifrecht zu rechtfertigen?

Für die Sonderregeln in ihrem Arbeitsrecht berufen sich die Kirchen auf das Selbstverwaltungsrecht, von dem in Artikel 140 Grundgesetz die Rede ist. Inzwischen wird staatskirchenrechtlich noch ein zusätzlicher Gesichtspunkt genannt. Ihm zufolge ist das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus der Glaubens-, Religions- und Bekenntnisfreiheit abzuleiten, die das Grundgesetz in Artikel 4 garantiert.

Hierzu ist freilich anzumerken, dass Artikel 4 im Kern die Religionsfreiheit der einzelnen Menschen schützt. Die korporative Religionsfreiheit, die Kirchen als Institutionen in Anspruch nehmen, lässt sich auf Artikel 4 nur mittelbar, nur indirekt stützen. Normlogisch ist zu sagen, dass die persönlichen Grund- und Freiheitsrechte der Menschen vor korporativen Rechten den Vorrang haben. Das korporative Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sollte daher nicht in Fremdbestimmung über Arbeitnehmer umschlagen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Arbeitnehmer unter Druck geraten, aufgrund der kirchlichen Ehelehre keine zweite Ehe einzugehen, oder wenn eine Kirchenmitgliedschaft die Voraussetzung dafür ist, eine Arbeitsstelle zu erhalten, oder wenn die römisch-katholische Kirche Mitarbeitern untersagt, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu leben, obwohl diese Lebensform durch staatliches Gesetz geregelt ist und die Betreffenden sie ihrem Selbstbestimmungsrecht gemäß wünschen; und anderes. Auch das kirchliche Streikverbot gehört in diesen Zusammenhang.

Sie kritisieren das Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen vor dem Hintergrund der Säkularisierung und Pluralisierung der deutschen Gesellschaft. Zudem entspricht es Ihrer Meinung nach nicht dem christlichen Verständnis von Nächstenliebe – warum?

Eigentlich akzeptieren kirchliche Texte und Dokumente das Streikrecht. Die Kirchen lehnen es nur für ihren eigenen Bereich ab. Auf diese Weise spalten sie ihre Aussage zum Streikrecht außerkirchlich und innerkirchlich auf. Für die innerkirchliche Ablehnung müssten triftige und durchschlagende Gründe genannt werden. Wirklich durchschlagende Gründe fehlen aber. Besonders bedenklich ist es, wenn Kirchen das Nein zum Arbeitsstreik, das sie für ihre Einrichtungen aussprechen, dogmatisch oder religiös überhöhen. Ein Beispiel war die Formel, die 2010 von einer evangelischen Kirche in Umlauf gebracht wurde: "Gott kann man nicht bestreiken". Das innerkirchliche Streikverbot wird dann geradezu zu einer Bekenntnisaussage erhoben. Das ist auch theologisch nicht haltbar.

In Ihrer Frage erwähnen Sie die Nächstenliebe. Kirchliche Dokumente begründen das innerkirchliche Streikverbot oft damit, dass in kirchlichen Einrichtungen die Nächstenliebe "unterbrochen" werde, falls dort eine Streikmaßnahme erfolge. Dieses Argument halte ich nicht für überzeugend. Es setzt die schwächere Seite, die Arbeitnehmer, moralisch vorschnell ins Unrecht. Und es ist doch ohnehin nicht möglich und nicht realistisch, "ununterbrochen" Nächstenliebe zu verwirklichen, auch nicht in kirchlichen Einrichtungen. Im übrigen verhalten sich trotz aller guter Bemühungen kirchliche Arbeitgeber ihrerseits nicht immer strikt im Sinn der Nächstenliebe.

Andere Punkte wären zu ergänzen. Bei all dem gilt, dass ein Arbeitsstreik für Arbeitnehmer die letzte Möglichkeit der Interessenswahrung ist und er in gesetzlich geordneten Bahnen verlaufen soll. Patienten oder andere dürfen nicht zu Schaden kommen.

Halten Sie das Streikverbot auch für juristisch unhaltbar – und wie schätzen Sie den Gang nach Karlsruhe ein?

Am 20. November 2012 hat das Bundesarbeitsgericht zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen sein vielbeachtetes Urteil verkündet. Es fiel doppeldeutig und doppelseitig aus. Formal war die Gewerkschaft ver.di, die für das Streikrecht eintrat, die Gewinnerin des Prozesses. Inhaltlich entschied das Bundesarbeitsgericht aber im Wesentlichen zugunsten der Kirchen. Hieraus erklärt sich, dass ver.di im April 2013 gegen das kirchliche Streikverbot Verfassungsbeschwerde eingelegt hat. Der Marburger Bund hat sich angeschlossen.

Sollte es zur verfassungsrechtlichen Prüfung des kirchlichen Streikverbots kommen, werden das Selbstverwaltungsrecht und der Standpunkt der Kirchen auf die eine Waagschale zu legen sein. Dabei wird eingehender als vom Bundesarbeitsgericht zu klären sein, wie plausibel die Argumente der Kirchen sind. Auf der anderen Waagschale befinden sich die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer gemäß Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz und die Gewerkschaftsrechte. Die Sicht der Gewerkschaften ist ebenfalls grundrechtsgestützt. Daher wird sie deutlicher zu berücksichtigen sein als im November 2012 vom Bundesarbeitsgericht.

Davon ganz abgesehen: Bei anderen Trägern sozialer Einrichtungen, etwa dem Deutschen Roten Kreuz oder der Arbeiterwohlfahrt, sind Arbeitsstreiks statthaft. Ihr öffentliches Ansehen, ihre Reputation haben darunter nicht gelitten. Mir scheint, in Deutschland haben die Kirchen dem innerkirchlichen Nein zum Streikrecht zu viel Gewicht, einen viel zu hohen Symbolwert verliehen. Im europäischen Ausland kommen Kirchen damit zurecht, dass Arbeitsstreiks theoretisch möglich sind.

Bei der Problematik der Einschränkung individueller Grundrechte von Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen geht es um die Ausgrenzung Konfessionsloser und Andersgläubiger sowie zusätzliche Anforderungen an einen moralischen Lebenswandel durch die katholischen Arbeitgeber. Sehen Sie diese Sonderrechte problematisch, weil sie zum Glaubwürdigkeitsverlust der Kirchen führen oder weil die individuellen Grundrechte der Beschäftigten missachtet werden?

Beide Aspekte sind zu sehen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat in einer Pressemitteilung über mein Gutachten berichtet. Ein Kern- und Ausgangspunkt des Gutachtens ist der Schutz der persönlichen Grundrechte. Für den weltanschaulich neutralen Staat stellen die Achtung der Menschenwürde und der persönlichen Grundrechte die ideelle Grundlage dar. Das Bundesverfassungsgericht hat einmal gesagt, der Staat sei als Heimstatt aller Staatsbürger zu begreifen. Daraus folgt zugleich, dass er für die Grundrechte aller Staatsbürger Schutzpflichten zu übernehmen hat. Kirchliche Arbeitnehmer können hiervon nicht ausgenommen werden; sonst wären sie Staatsbürger mit verminderten, heruntergestuften Rechten. Aus ethischer und rechtsstaatlicher Perspektive ist also der Schutz der Grundrechte zu betonen.

Wenn man nun einen Perspektivenwechsel vornimmt und aus der Sicht der Kirchen ihr Arbeitsrecht bedenkt, dann ist zusätzlich zu sagen: Die Kirchen verspielen moralischen Kredit, wenn sie sich über legitime Interessen und persönliche Grundrechte von Beschäftigten hinwegsetzen. Einem Arzt in einer katholisch getragenen Klinik die Wiederverheiratung zu untersagen, stellt ihm gegenüber eine unbillige Härte dar. Oder: Von kirchlichen Arbeitnehmern ist zu hören, sie könnten es nicht nachvollziehen, dass ihnen für den Notfall das Streikrecht fehlt. Denn ihre Kolleginnen und Kollegen in benachbarten nichtkirchlichen Einrichtungen, die die gleiche Arbeit leisten, haben dieses Recht. Das heißt, manche Einschränkungen, die das kirchliche Arbeitsrecht vorsieht, sind unverständlich geworden. Insofern würde es dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Kirchen nutzen, wenn Korrekturen vorgenommen würden.

Kirchenmitgliedschaft als Voraussetzung statt Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kündigungen statt Schutz der Privatsphäre und Diskriminierung - eigentlich hätte doch Rechtsprechung und Gesetzgebung längst feststellen müssen, dass eine Abwägung zwischen den Grundrechten nicht stattfindet, weil in den meisten Urteilen und den aktuellen Gesetzen das vermeintliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen als vorrangig gesehen wird – bis hin zum letzten Urteil aus Karlsruhe aus 1985. Und zwar trotz der verfassungsrechtlich vorgegebenen praktischen Konkordanz, also des Abwägungsgebotes, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall des gekündigten Kirchenmusikers 2010 angemahnt hatte. Das Straßburger Gericht sah die unterlassene Abwägung durch deutsche Gerichte sogar als Menschenrechtsverletzung an. Wie schätzen Sie die Rechtsentwicklung ein, könnte es bald zu einem neuen, anderen Grundsatzurteil zu den Loyalitätspflichten kommen?

Vor allem wäre sinnvoll gewesen, wenn die beiden Kirchen selbst eine Reform ihres Arbeitsrechts vorangetrieben hätten. Im kirchlichen Arbeitsrecht stehen Theorie und Realität, Theorie und Praxis in manchen Punkten nicht mehr in Einklang. Nochmals ein Beispiel: Bis heute sehen die kirchlichen Vorgaben vor, dass kirchlich getragene Einrichtungen grundsätzlich nur Mitarbeiter einstellen, die der eigenen Konfession oder zumindest einer christlichen Kirche angehören. Faktisch beschäftigen sie aber auch zahlreiche Menschen, die einer anderen Religion angehören oder konfessionslos sind. Derartige Widersprüche und die daraus resultierenden Alltagsprobleme hätten schon lange aufgearbeitet werden sollen.

Stattdessen werden Streitfälle, die aufbrechen, vor Gerichten ausgetragen. Die Gerichte entscheiden nicht ganz einheitlich. Manchmal folgen sie kirchlichen Standpunkten ganz weitgehend. In anderen Fällen blicken sie genau hin und messen dem Grundrechtsschutz der Arbeitnehmer großes Gewicht zu. Auf Dauer wird sich in der Rechtsprechung wohl die zweite Tendenz durchsetzen. Dies entspricht den Schutzpflichten, die der Staat und die Rechtsordnung für die persönlichen Grundrechte der Arbeitnehmer zu übernehmen hat.

Eine spekulative Frage: Könnte das Urteil zum Streikrecht aus Karlsruhe zu einem Umdenken in der Rechtsprechung bzw. der Gesetzgebung bezüglich der Loyalitätspflichten führen? Welche Argumente der Richter könnten dazu beitragen?

Unter anderem das Anliegen der Nichtdiskriminierung. Dieses Anliegen war in den letzten Jahren zum Beispiel auch bei den Karlsruher Entscheidungen zur Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften tragend. Grundrechtsschutz und Nichtdiskriminierung sind oft zwei Seiten einer Medaille.

Darüber hinaus beginnt sich aber auch die Politik für das kirchliche Arbeitsrecht zu interessieren. Als zwischen CDU, CSU und SPD der Koalitionsvertrag verhandelt wurde, war zunächst wörtlich hineingeschrieben worden, die künftige Regierung wolle die Kirchlichkeit "auch im kirchlichen Arbeitsrecht" achten. In der Endfassung ist der Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht gestrichen worden. Hieran sieht man, dass auf politischer Ebene das Thema wahrgenommen und dass offensichtlich auch kontrovers diskutiert wird.

Allerdings wird es wohl noch nicht gründlich und umfassend genug erörtert. Das Grundgesetz enthält die Vorgabe, dass den Kirchen Weltanschauungsgemeinschaften und andere Religionsgemeinschaften gleichgestellt sind; das gilt zum Beispiel auch für islamische Gemeinschaften. Theoretisch könnten auch sie, wie die Kirchen, ein eigenes nebenstaatliches Arbeitsrecht aufbauen. Ist es sicher, dass die Grundrechte und die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer dann immer hinlänglich gesichert wären? Und wie sieht es mit dem Humanistischen Verband (HVD) als einer nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaft aus? Der HVD verfolgt eine Doppelstrategie. Einerseits kritisiert er das tradierte Staatskirchenrecht. Andererseits bemüht er sich, dass Regelungen, die bislang für die Kirchen galten, auf ihn übertragen werden. Wenn der HVD ein eigenes Arbeitsrecht etabliert: Dürfte zum Beispiel eine von ihm eingestellte Muslima ein Kopftuch tragen? Würde sie in einer Kindertagesstätte eine leitende Funktion übernehmen dürfen? Offenbar wohl nicht. Auch hierzu besteht Bedarf an kritischer Diskussion. Bei künftigen Überlegungen zur Sonderstellung eines religiösen Arbeitsrechts ist nicht nur auf die Kirchen zu blicken, sondern gleichfalls nach Grundrechten und Rechtssicherheit in anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu fragen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist im Sozial- oder auch im Bildungs- oder Gesundheitswesen die Pluralität von Anbietern wichtig. Darüber darf das Arbeitsrecht aber nicht weiter zersplittert werden.

In der Kirchenklausel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 9 AGG) räumten deutsche Politiker eine "zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung" ein, die über die Intentionen der EU-Richtlinie aus 2000 hinausgeht. Diese erlaubt Ungleichbehandlungen nämlich nur in verkündigungsnahen Berufen, die deutsche Kirchenklausel erlaubt sie für das gesamte Personal, von der Gärtnerin über den Arzt bis zum Pastor. Inwiefern sollte es Kirchen selbst überlassen bleiben, den Stellenwert der Verkündigungsnähe selbst du definieren? Halten Sie §9 AGG für novellierungsbedürftig?

Ein erster Schritt könnte sein, § 9 AGG arbeitnehmerfreundlich und tolerant auszulegen. Entsprechende Ansätze sind im Schrifttum bereits vorhanden. Folgt man ihnen, dann wäre es für die katholische Kirche nicht mehr möglich, einen Arbeitsplatzbewerber abzuweisen, nur weil er in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Denn § 9 AGG erlaubt eine Ungleichbehandlung "wegen der Religion". Das heißt nicht ohne weiteres, dass die katholische Kirche einen Arbeitnehmer wegen seiner Lebensform und seiner sexuellen Identität zurückweisen darf. Denn hier geht es um elementare persönliche Grundrechte und um die Menschenwürde; und eine Zurückweisung oder Benachteiligung darf laut § 9 Absatz 1 AGG nur erfolgen, wenn sie sich konkret mit einer "gerechtfertigten beruflichen Anforderung" begründen lässt. Das ist eine hohe Hürde. Trotzdem sollte sich um des persönlichen Grundrechtsschutzes und der Rechtsklarheit willen letztlich der Gesetzgeber erneut mit dem Thema befassen.

Was den anderen Aspekt anbelangt: Es ist evident, dass Geistliche und Seelsorger der eigenen Konfession angehören müssen. Eine evangelische Pastorin muss evangelisch sein. Ich habe jedoch Zweifel, ob die Unterscheidung "verkündigungsnah" / "verkündigungsfern" für kirchlich getragene Einrichtungen im Sozial- oder Gesundheitswesen begriffsscharf genug ist und ob sie überhaupt handhabbar ist. Zum Beispiel wurde geäußert, in einer evangelisch getragenen Klinik sollten Ärzte, die Untersuchungen durchführen, evangelisch oder zumindest christlich sein; für die Anästhesie gelte dies nicht so streng. Solche Abgrenzungen sind unplausibel. Kirchlich getragene Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens erfüllen öffentliche Aufgaben. Hierfür werden sie weitgehend refinanziert. Sie stehen im Wettbewerb mit anderen Anbietern. Daher sollten bei ihnen die Fachkompetenz der Mitarbeiter und die Qualität der Dienstleistungen den Ausschlag geben.

Die Kirchenmitglieder werden weniger, aber die kirchlichen Einrichtungen nehmen zu. Um diese überhaupt betreiben zu können, wird auch mit weniger "lupenreinem" Personal gearbeitet. Belegt diese Tatsache nicht, dass es eben doch möglich ist, nicht ausschließlich mit Kolleginnen und Kollegen des gleichen Glaubens den "Dienst am Herrn" in einer sogenannten Dienstgemeinschaft zu erfüllen? Welche weiteren Probleme sehen Sie bei der sowohl theologischen als auch juristischen Verteidigung des Begriffs als geradezu zwingendes Argument der Kirchen für die Sonderrechte?

Die Formulierung "Dienst am Herrn" kenne ich so nicht, wohl aber den Begriff der Dienstgemeinschaft. Er wird oft verwendet, um die Sonderstellung der Kirchen in der Arbeitswelt zu begründen und zum Beispiel das Nein zu Arbeitsstreiks zu rechtfertigen. Mit dem Wort "Dienstgemeinschaft" verknüpfen sich freilich Vorstellungen von Überschaubarkeit, Harmonie und Homogenität, die auf Caritas und Diakonie als Großorganisationen heute nicht mehr zutreffen. Um stattdessen einen anderen Begriff ins Spiel zu bringen, der in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts geprägt wurde: Die Kirche sei als "Kirche für andere" zu verstehen. Diesem Leitbild zufolge würde es heute zum Selbstverständnis der Kirche hinzugehören, sich in sozialer Hinsicht, in Brennpunkten der Kinder- und Jugendhilfe, im medizinischen oder im pflegerischen Bereich zu engagieren. Aus dem Begriff lassen sich keine Sonderrechte der Kirche ableiten; aber er kann als Impuls dienen, in kirchlich getragenen Einrichtungen eine humane, arbeitnehmerfreundliche und adressatenorientierte Unternehmenskultur auszubauen.

Anfang November beschloss die Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) ein neues Gesetz, das eine nur leicht modifizierte Beibehaltung des "Dritten Wegs" kircheninterner Lohnfindung bedeutet. Der dort beschlossene Stillstand wird auch Sie bezüglich kircheninterner Reformbestrebungen nicht gerade optimistisch stimmen, oder?

Die EKD-Synode hat auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. November 2012 reagiert. Sie blieb beim Nein zum Streikrecht und hat zum Beispiel auch keine Unternehmensmitbestimmung angebahnt. Immerhin ist sie ein Stückweit auf Gewerkschaften zugegangen und hat theoretisch offengehalten, dass neben dem herkömmlichen Dritten Weg für kirchliche Einrichtungen Tarifverträge abgeschlossen werden dürfen. Es wird viel darauf ankommen, wie die einzelnen Landeskirchen mit den EKD-Beschlüssen umgehen. Das neue, im November 2013 beschlossene EKD-Gesetz stellt zwar keinen Durchbruch dar. Aber es wird deutlich, dass angestoßen von Rechtsprechung und Richterrecht auch in den Kirchen Bewegung entstanden ist.

Herzlichen Dank

Das Gespräch führte Corinna Gekeler für den hpd.

Hartmut Kreß, Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht - sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, erscheint 2014 in der Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung im Nomos-Verlag

Kurzdarstellung der Projektergebnisse durch die Hans-Böckler-Stiftung: "Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht", online

Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 6.11.2013: "Sozialethiker warnt vor Glaubwürdigkeitsproblemen. Gutachten: Arbeitsrechtlicher Sonderweg der Kirchen ethisch und theologisch nicht mehr zu rechtfertigen", online

Böckler-Impuls 18/2013 vom 13.11.2013: "Arbeitsrecht. Kirchen missachten Grundrechte", online