Von "Bonjour Tristesse" zur Tristesse

Man möge sich das mal vorstellen, da findet eine verhinderte Schriftstellerin in der Kamera ihres verstorbenen Vaters, eines einstmals berühmten Fotografen, noch einige Fotos, die noch nie ein anderer gesehen hat, entwickelt sie – und bearbeitet sie. So ist das – im umgekehrten Falle – dem Fotografen Denis Westhoff ergangen, dem Sohn und "Erben" Françoise Sagans. Deren letzte Lebensgefährtin, Ingrid Méchoulam, hatte das unvollendete Manuskript nach dem Tod der Sagan 2004 gefunden.

Westhoff hat dieses unfertige Manuskript nun in seinem Sinne ergänzt, "verfeinert" – und, nach einem unerklärlichem Vorgehen, Lücken gefüllt und "vervollständigt" dem französischem Verlag Plon angeboten, der das Buch unter größtmöglicher Geheimhaltung im November 2019 herausgab. Doch auch dann musste der von dem angekündigten Ziel, 250.000 Exemplare zu drucken, schnell Abstand nehmen – nur 70.000 Bücher wurden daraufhin gedruckt.

Nun ist der fragmentarische Roman der Sagan ("Les quatre coins du coeur") auch bei uns unter dem Titel "Die dunklen Winkel des Herzens" (Ullstein) erschienen.

Um es gleich vorwegzunehmen, den Übersetzerinnen ist da kein Vorwurf zu machen, haben doch sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und das Fragmentarische gut übersetzt. Ab und an blitzt nämlich die alte Sprache der Sagan da durch, wie man sie aus "Bonjour Tristesse" kennt bei Beschreibungen von Charakterzügen:

Sie war blasiert und ungebildet, hatte sich aber dank einer Mischung aus zeitgemäßen Lektüren, Plattitüden und Tabus eine brauchbare Fassade zugelegt, so dass man ihr, in ihren Kreisen, eine wendige Intelligenz zuschrieb, wie sie gerade absolut en vogue war. Sie wollte über ihr Dasein bestimmen, also über das der anderen, sie wollte "ihr Leben leben", wie sie selbst sagte. Doch sie wusste weder, was das Leben war, noch was sie wollte, außer Luxus. Sie wollte einfach die Erfüllung all ihrer Wünsche.

In diesen Sätzen, den ineinander verschlungenen Schachtelsätzen ist die Magie der 'alten' Sagan sichtbar, wie man sie aus "Bonjour Tristesse" kennt. Davon ist sicherlich vieles noch so vorhanden, darüber sind die Übersetzerinnen auch sicherlich dankbar, aber für Auslassungen und Ergänzungen können sie ja nichts. Und die Absätze zwischen den Texten konnten auch sie nicht zusammenfügen, wenn eben nichts da war, man ahnt, wozu die Pünktchen unter, zwischen, einigen Abschnitten führten.

Um das Buch dennoch ein wenig zu verstehen, ist der Klappentext im deutschen Buch auch sehr hilfreich – man könnte sonst über die nicht ganz logisch zusammengefügten Sätze stolpern:

Ein schwerer Autounfall hätte Ludovic Cresson beinah das Leben gekostet. Doch gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt er das Unglück, und nicht nur das: Nach einiger Zeit ist er vollständig genesen. Sehr zum Bedauern seiner Frau Marie-Laure, die sich in ihrer Rolle der vermögenden Witwe gut gefiel. Sie erträgt die zärtlichen Avancen ihres wiederauferstandenen Mannes kaum, schließlich hatte sie bereits die Musik für seine Beerdigung ausgewählt. Eines Tages belauscht Henri, Ludovics Vater, eine unschöne Szene zwischen den Eheleuten, er bangt um das männliche Selbstwertgefühl seines Sohnes und beschließt einzugreifen. Sein Plan scheint zunächst aufzugehen, bis plötzlich Fanny auftaucht, die charmante Mutter der launischen Marie-Laure, und für einigen Wirbel in der Industriellenvilla sorgt.

Das riecht natürlich nach einer Vorlage zu einem Film, dem "Erben" schwebte das auch vor – die letzte Lebensgefährtin Sagans versuchte noch selbst, Gérard Dépardieu zu gewinnen, scheiterte aber und der Sohn erhielt vom Verleger selbst eine Abfuhr mit der außergewöhnlichen Warnung, das Fragment überhaupt zu veröffentlichen. So bekommt man eben nicht genau mit, an welchen Stellen das Manuskript erweitert oder ganz verändert wurde.

Cover

Man wird sicherlich jetzt fragen, warum ich überhaupt eine Kritik über ein Buch schreibe, das ich nicht gut finde. Das hat natürlich mit der Ikone Sagan zu tun, die mit ihrem ersten Erfolg zu tun hatte, der sie, knapp neunzehnjährig auf die Bestsellerlisten katapultierte und auf die Titelseiten der französischen und ausländischen Presse brachte. Es war was Anderes, was Neues, das einen faszinierte, nicht allein der rebellische Geist. Ich habe das Buch erst viel später lesen können als 1954. Und Sagan mag selbst von dem Hype damals mehr als überfordert gewesen sein – in der Folgezeit hatte sie ja auch mit Drogenproblemen zu tun, was den anderen nachfolgenden Büchern aber nicht anzumerken ist.

Einer, der die sogenannte Moral bei "Bonjour Tristesse" in erster Linie anprangerte, war übrigens auch der bei uns bekannte französische (auf das 'katholische', fast als Beinamen bei dessen Nennung, hat man immer hingewiesen) Schriftsteller Mauriac, der damals auf den Titelseiten der französischen Presse (Le Figaro) gegen das Buch protestierte. Sicherlich entfachte das Buch einen Skandal, den man heute nicht mehr so ganz versteht, aber Francoise Sagan ließ es sich nicht nehmen, neben anderen Beschreibungen auch im neuen vorliegenden Buch "Die dunklen Winkel des Herzens" spöttisch eine Spitze gegen Mauriac zu setzen, fast so nebenbei ...

Diese bourgeoisen und skurrilen Charaktere hatten etwas Überzogenes an sich, etwas so aus der Zeit, der Epoche und der Moral Gefallenes, dass es ihr ein wenig Angst machte. Es waren Großbürger, deren einer ihre Tochter geheiratet hatte und dessen Familie ihn nun wieder rehabilitieren wollte, nachdem sie ihn erst in seine aktuelle Lage, sprich, ins Unglück gebracht hatte. Schon lange war Fanny niemand mehr so eng mit dem Unglück verbunden wie dieser Junge ... Vielleicht war es schlimmer als in einem Roman von Mauriac oder anderen, in denen lauter Scheusale aufeinandertreffen, denn es gab hier niemand wirklich Abscheuliches, außer ihrer Tochter vielleicht, doch sie zog es vor, nicht darüber nachzudenken.

Dieses letzte Buch, 65 Jahre nach ihrem ersten Erfolg "Bonjour Tristesse" erschienen, vielleicht in den Neunzigern geschrieben, bleibt also leider nicht in guter Erinnerung.

Schade. Wie wenig Denis Westhoff von dem Text verstanden hat, von allen anderen wahrscheinlich auch, zeigt sich in seinem Nachwort, das er noch im Oktober 2019 geschrieben hat, nicht ohne noch beiläufig anzufügen, sämtliche fünfzehn Romane seiner Mutter auch noch neu herauszugeben:

Der Text kehrte ins Dunkel zurück, was mich nicht daran hinderte, ihn in den folgenden Monaten wieder und wieder und mit größerer Aufmerksamkeit zu lesen. Die Stimmen mehrten sich, die mir zu verstehen gaben, dass der Roman unbedingt veröffentlicht werden müsste, in welchem Zustand er auch sei.

Nicht mal mehr das kann man sagen: Si tacuisses.

Françoise Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens, Ullstein, 192 Seiten, ISBN-13 9783550200915, 20,00 Euro

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