Die Würde von Wal und Waschbär

BERLIN. (hpd) Die Geschichte der Entwicklung vom Tierschutz über die Tierrechts- bis zur Tierbefreiungsbewegung ist eine Geschichte der Grenzverschiebungen – der Grenze zwischen Menschlichem und Tierlichen, der Grenzen der Gemeinschaft von Lebewesen, denen wir verantwortlich sind. Friederike Schmitz hat jetzt bei Suhrkamp einen Sammelband "Tierethik" mit Grundlagentexten dieser jungen Disziplin herausgegeben.

 

In dem 2011 erschienenen Roman "Wenn das Schlachten vorbei ist" von T. C. Boyle liefert sich eine Gruppe Umweltschützer und radikale Tierschützer erbitterte Kämpfe. Die Umweltschützer wollen die Channel Islands vor Kalifornien von eingeschleppten Ratten befreien, die endemische Vogelarten bedrohen. Die Tierschützer dagegen handeln in der Überzeugung, dass unterschiedslos jedes leidensfähige Leben zu bewahren ist, und das, wenn es sein muss, auch mit subversiv terroristischen Maßnahmen. Der Kampf wird im Laufe des Romans immer unerbittlicher. Die Auseinandersetzung endet mit Toten unter den auf beiden Seiten unnachgiebigen Aktivisten.

Aus den USA, dem Land, wo die mächtigen Fleischfabrikanten Tyson Food und Smithfield Foods ihre Firmenstandorte haben, deren Verflechtungen zum Beispiel über Aosta und Tio Frio bis nach Europa reichen, kommt nicht nur dieser packende Roman, sondern auch fast alle Theorien über Tierethik. Und dies schon seit 1975. Das kann jetzt anhand des kompakten Taschenbuches nachvollzogen werden.

Peter Singer
Peter Singer

Peter Singer eröffnete die Diskussion in der furiosen, glänzenden Art, wie es nur den Ersten einer neuen Denkrichtung möglich ist. Er zerschlug gleich mehrere Gordische Knoten. Er schuf den Begriff des "Speziesismus", analog des "Sexismus" und des "Rassismus": Menschen maßen sich das Recht auf Herrschaft und Verfügungsgewalt über Tiere an mit dem Argument, über einzigartige Eigenschaften zu verfügen. Singer hält dagegen, dass es keine Eigenschaft des Menschen gibt, die nicht auch unter manchen Tieren vorkommt – und nicht einmal alle Menschen über die dem Menschen zugeschriebenen Eigenschaften verfügen. Relevant ist das Individuum, nicht die Artzugehörigkeit. Schutz brauchen Lebewesen nicht aufgrund ihrer Vernunft, sondern aufgrund ihrer Leidensfähigkeit. Darin folgt Singer dem Gründungsvater des Utilitarismus, George Bentham, der in der umgekehrten Richtung allgemein definierte, worauf es ankommen sollte: auf die Summe des größtmöglichen Glücks für alle. Rechte – Grundrechte - gestand Singer nur den uns ähnlichsten Wesen zu, den Menschenaffen. Die anderen können und müssen aber auf unser Mitgefühl rekurrieren dürfen. Was nicht heißt, dass sich Singer generell gegen die Nutzung von Tieren in der Landwirtschaft aussprach... Ja, sein Argument ließe sich sogar dahingehend anwenden, dass eine Landwirtschaft mit minimal verbesserten Haltungsbedingungen, was die Glücksbilanz angeht, immer noch besser wäre, als wenn die Tiere überhaupt nicht existieren.

Tom Regan
Tom Regan

Das war Tom Regan, bald der schärfste Opponent von Singer, zu wenig. Der Begründer der Tierrechtsbewegung vertrat die These, dass es nur auf eines ankomme, dass ein Wesen Subjekt sei, das heißt über eine Innenansicht verfüge, von der aus es die Welt wahrnehme. Weiter stellte er klar, dass es grundsätzlich nicht nur eine aktive Weise gibt über Rechte zu verfügen, sondern auch eine passive Weise, Rechte zu haben, für die es nicht des Nachweises von Fähigkeiten bedarf. Zum ersten Mal bekamen alle Tiere damit Rechte, die über den Anspruch auf Mitleid hinausgingen. Nun waren wir ihnen, nicht mehr nur uns etwas schuldig.

Weit radikaler formulierte es darauf bald Gary Lawrence Francione. Es reicht, dass ein Lebewesen Interessen und Zwecke verfolgt, um Rechtsträger zu sein. Gänzlich vom Tisch war die Gretchenfrage nach Selbst-Bewusstsein und Bewusstsein. Warum, fragt er, ist es eigentlich von Belang, wie ähnlich uns ein Wesen ist? Genauso gut kann man für entscheidend halten, wie gut ein Wesen fliegen kann! Oder aus dem Stand springen oder Ultraschallwellen hören … Worauf ein Tier unsererseits rechnen darf, kann nicht von einer mehr oder weniger große Ähnlichkeit zu uns abhängen.

Martha Nussbaum
Martha Nussbaum

Selbst der Begriff des Speziesismus geriet in der Diskussion der Tierrechtsbewegung bald in die Kritik. Martha Nussbaum, Theoretikerin der Rechte von Minderheiten, schaltete sich in den Disput ein und brachte den Begriff der Würde ein: Der zu sichernde und zu schützende Bedarf eines Lebewesen richtet sich nach seinen Fähigkeiten, die es ein Recht habe auszuleben. Zu fliegen etwa, zu jagen, zu klettern. Diese Fähigkeiten lassen sich aber nur artspezifisch bestimmen und werden von Art zu Art unterschiedlich sein.

Auch der empiristisch-utilitaristische Ansatz blieb bald nicht mehr der einzige. Aber Anspruch von Rechten hat nach traditioneller rationalistischer Auffassung nur derjenige, der auch Pflichten hat. So sah es Kant. So dachten ebenso die Kontraktualisten, für die Rechte sich aus einer Vereinbarung ergeben. Für den us-amerikanischen Philosophen der analytischen Schule John Rawls sind die Gesetze gerecht, denen alle zustimmen würden, wenn ihnen ihr sozialer Status, ihre Möglichkeiten aufgrund ihres Gesundheitszustands oder ihrer mentalen Fähigkeiten in einer zukünftigen Gesellschaft nicht bekannt wäre. Dahinter steckt das kantsche, rein formal bestimmte Legitimationskriterium jeglichen Tuns: Handele so, dass dein Tun jederzeit Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte. Nun können Tiere aber nicht zustimmen. Doch sie haben Interessen, sie haben Zwecke, die sie verfolgen. So haben sie also die elementaren Voraussetzungen des kantschen Subjekts. Handele so, dass es auch in ihrem Interesse wäre, lässt sich Kants Postulat erweitern, denkt Christine Korsgaard.

Wie aber entscheiden, wenn gar kein Rechtssubjekt auszumachen ist? Etwa wenn es eine Biospäre zu schützen gilt, zu der auch Pflanzen und Insekten zählen? Sind wir am Ende doch darauf zurückgeworfen, uns verantwortlich zu sein? Und sind wir allen Tieren gleichermaßen verantwortlich, den Hausgenossen wie den Wildtieren? Wieweit sind Wildtiere vor anderen Wildtieren zu schützen?

Elizabeth Anderson machte erstmals auf die unterschiedlichen Formen von Lebensgemeinschaften aufmerksam, die mit und die ohne uns, und den unterschiedlichen Grad an moralischer Verantwortlichkeit, die unter Umständen nur in der Nichteinmischung bestehen kann. In anderen Fällen, in denen wir mit Haustieren in einem quasi gesellschaftlichen Zusammenhang leben, haben wir ihnen gegenüber auch kontraktähnliche Verpflichtungen. Wobei auch Tiere wie etwa Hunde durch ihre ausgesprochene Fähigkeit zur Kommunikation Einwilligung und Nichtzustimmung zum Ausdruck bringen können und dies tatsächlich tun. Andere Tiere, etwa Herdentiere, leben in ihren eigenen Tiergesellschaften, denen Rechnung zu tragen ist. Dies sind Betrachtungen, die Folgen haben sollten.

Zunächst einmal geriet jedoch der Rechtsgedanke in die Kritik. Rechte stammen aus einer Sphäre des Eigentums und des Erwerbs, sie sollten jene kommerziellen Interessen garantieren, die gerade zum Leid der Tiere – und der Menschen - so viel beigetragen haben. Cora Diamond greift ein von der französischen Existenzialistin Simone Weil gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen einst vorgebrachtes Argument auf und setzt es für die Tierbefreiungsbewegung ein. Vertritt man diesen Standpunkt, dann bleibt, will man nicht wieder auf etwas altmodisch klingende Tugenden rekurrieren, nur die Instanz des Appells an das Gefühl, das nun zunehmend in der Diskussion wieder sehr ernst genommen wird.

Zählten zu Beginn der Tierschutzbewegung die Kriterien, die Tiere uns ähnlich machten, wurden nun also die mentalen Instanzen für unser eigenes Handeln als wertvoll gewürdigt, die – so wissen wir seit Frans de Waal – zum festen Repertoire auch von Tieren gehören: Einfühlung und Empfindsamkeit. Tiere können nicht nur leiden wie Menschen, Menschen können noch im Umgang miteinander auf die uralte bereits von den Tieren entwickelte Fähigkeit zur Einfühlung zählen, die auch Grundlage des gesellschaftlichen und globalen Umgangs miteinander sein kann und muss.

Aber das ist derzeit nicht die einzige Entwicklung. Am radikalsten ist wohl Will Kymlickas Forderung von Bürgerrechten für Tiere. Es deutete sich schon an: Rechte für Tiere lassen sich vielleicht am angemessensten nicht intrinsisch – welches Recht hat ein Tier an sich? - sondern als Souveränitätsrechte definieren. Kymlicka und seine Lebensgefährtin Sue Donaldson unterscheiden drei Gesellschaftstypen: Aus Tieren und Menschen zusammengesetzte, dort wo Haustiere mit uns zusammenleben. Die Tiere sind hier wie Mitbürger zu behandeln. Einwohnerrechte fordern sie hingegen immer dann, wenn tierliche Gesellschaften unter uns auf gleichem Raum leben, wie Fuchs und Fledermaus in der Großstadt. Souveränitätsrechte im Sinne des Völkerrechts reklamieren sie dagegen für Wildtiergemeinschaften wie Elefanten- oder Walherden.

Unüberhörbar klingt allerdings in mehr als einem Text an, dass es Lebensräume, die nicht vom Menschen beeinflusst sind, de facto auf unserem Planeten gar nicht mehr gibt. Denn unsere ökologische Fußspur haben wir bereits überall hinterlassen. So laufen lassen können wir also die Dinge auf keinen Fall. Nirgendwo. Es geht uns alles etwas an.

 


Friederike Schmitz (Hrsg.): „Tierethik. Grundlagentexte.“ Autoren: Peter Singer, Tom Regan, Evelyn Pluhar, David DeGrazia, Gary L. Frascione, Martha Nussbaum, Peter Carruthers, Christine Korsgaard, Elizabeth Anderson, Rosalind Hursthouse, Cora Diamond, Lori Gruen, Brian Luke, Birgit Mütherich, Ted Benton, Bob Torres, Sue Donldson und Will Kymlicka Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2014, 589 S. 24 Euro