Ein Esel wehrt sich

(hpd) Vor fast genau 140 Jahren, am 9. Februar 1874, starb Sophie de Ségur, die erste Kinderbuchautorin der Welt. 1860 erschienen bei Hachette in Paris die “Erinnerungen eines Esels”, ein Roman für Kinder, zugleich ein erster flammender literarischer Appell für die Würde der Tiere. Nun ist er unter dem Titel “Abenteuer des Esels Cadichon” auf Deutsch zu lesen.

“An meine früheste Kindheit erinnere ich mich nicht mehr so genau. Wahrscheinlich war sie ebenso unglücklich und sorgenvoll, wie es die Jugend der meisten Esel gewöhnlich ist. Nichts desto trotz war ich schön und gewandt, wie wir Esel alle sind.” So beginnt die Geschichte. Wer wird dabei nicht an den Sprengel, “an den zu erinnern sich nicht lohnt”, den Geburtsort des Ritters von trauriger Gestalt in Cervantes´ Anfangssatz des “Quijote” denken, des ersten Romans der Neuzeit.

Sophie de Ségur greift auf ganz große Vorlagen zurück. Auch der noch ältere “Lazarillo de Tormes” mag Pate gestanden haben, anonym in Spanien verfasst, mit dem der arabische Schelmenroman in Europa Einzug hielt. Er erzählt von einem Waisenjungen, der von Herrn zu Herrn irrt, von ihnen misshandelt und ausgebeutet wird, bis er schließlich der Geliebten eines Dorfpfarrers angetraut wird und von nun an sein einträgliches Einkommen hat. Zu nennen wäre natürlich auch, wenn nicht gar zuerst von Apuleius “Der goldene Esel”, der Held des antiken griechischen Romans, in dem ein Mensch in einen Esel verzaubert wird und nun ein Eselsschicksal erleidet und doch wie ein denkender Mensch all den Aberglauben des ausgehenden Hellenismus erfährt und bespöttelt.

Sophie de Ségur
Sophie de Ségur

Sophie de Ségur, 1799 geboren in Sankt Petersburg als Sofia Fjodorowna Rostoptschina, mit 18 Jahren an einen wie sie hoch geborenen Adligen mit einem Schloss in der Normandie in Frankreich verheiratet und fortan Comtesse, war gewiss eine gebildete Frau. Zu schreiben begann sie allerdings erst mit 56 Jahren, nachdem sie acht Kinder geboren hatte, danach erkrankte und 15 Jahre bettlägerig war. Wieder gesundet schrieb sie bis zu ihrem Tod für jedes ihrer 31 Enkelkinder ein Buch. “Cadichon” war ihr Viertes, gewidmet ihrem Enkel Jakob de Ségur.

Ihr Cadichon ist wirklich ein Esel, ein besonders mutiger, schneller, stolzer, freiheitsliebender und listiger Esel freilich. Ein Esel, der sich wehrt. Er schlägt aus und beißt, wenn er misshandelt ist. Er flieht in den Wald und erduldet lieber Hunger und Kälte, als sich bis aufs Blut drangsalieren zu lassen. Vertrauensvollen Kindern aber, die ihn lieben, begegnet er mit Sanftmut. Ja, der todkranken Pauline rettet er sogar das Leben, indem er sie aus der Gefahrenzone eines Feuers rettet, wofür er allerdings wenig Dank erntet und von der eifersüchtigen Mutter des Mädchens vom Hofe gejagt wird.

Er besteht wilde Abenteuer. Cadichon hilft Räuber im Wald zu fangen, gewinnt ein Eselsrennen, um einer armen alten Frau zu einem kleinen Preisgeld zu verhelfen, und entlarvt einen angeblich klugen, aber nur dressierten Jahrmarktsesel und dessen Besitzer. Das hilft ihm aber alles nur zeitweise, bis das Rad des Schicksals sich wieder dreht. Cadichon erleidet entsetzlich viel Unglück und hat dann doch immer wieder Glück. Sein bester Freund wird der kleine Jakob, in dessen Hände er endlich gerät und der sich mit Geduld und Liebe um ihn kümmert. Ihm ist Cadichon stets zu rücksichtsvollsten und umsichtigsten Diensten bereit. Seine gütige Herrin, Jakobs Großmutter, ist mit 59 Jahren so alt wie Sophie de Ségur selbst und sicherlich ihr alter ego.

Illustration aus dem Buch
Illustration aus dem Buch

Doch kein Glück ist endgültig, genauso wenig wie das Unglück. Weil er nach einer nur kurzen Wiederbegegnung seinen alten Freund aus schlimmen Tagen, einen bald achtlos erschossenen Jagdhund, rächen will, wird er wie seine Feinde, bösartig und gemein und verspielt damit am Ende alles, ja sogar fast die Gunst des einzigen ihm verbliebenen treuen Freundes, des kleinen Jakob. Doch Cadichon besinnt sich, so ganz allein will er nicht sein. Reuig rettet er sogar dem Hundemörder, den er zuvor noch in eine Jauchegrube geschleudert und so in tödliche Gefahr gebracht hat, das Leben, als der später beim Fischen fast ertrinkt. Die Liebe aller zu diesem so verständigen und tapferen Esel kehrt zurück. Und auch sein geretteter Erzfeind kümmert sich von nun an verstohlen liebevoll um Cadichon. Auf den Schlosshof von Jakobs Großmutter führt er fortan ein friedliches Eselleben. Aufgeschrieben von ihm selbst.

“Was allein bleibt, sind unsere Erinnerungen. Oder sollte ich vielleicht besser sagen, die Erinnerungen unserer Erinnerungen? Denn unaufhörlich scheinen selbst die sich auf unerklärliche Weise zu verändern, so dass ich manchmal nicht einmal mehr weiß, was ich weiß. Und so bin ich froh, meine Erlebnisse und Abenteuer aufgeschrieben zu haben.”

Illustration aus dem Buch
Illustration aus dem Buch

Den Menschen hat Cadichon einiges voraus. Wie alle Tiere plagen ihn keine Phantasien und Vorstellungen, vor denen er sich folglich auch nicht zu ängstigen braucht. Das macht ihn stark und schlau. Er lebt im Moment, genießt die schönen Augenblicke des Lebens am liebsten in Gemeinschaft mit freundlichen Wesen. Kurz, Cadichon ist nicht nur ein stoischer, sondern auch ein durchaus epikuräischer Esel. Von den Tieren können sich die Menschen einiges abschauen, so die Botschaft. Leiden sie doch nicht unter dem Grundübel der Menschengemeinschaft und der Quelle auch allen tierischen Unglücks. Bei ihnen gibt es nicht Herr und nicht Diener, nicht Mächtige und Beherrschte.

Ulrich Taschow hat dieses bezaubernde Buch nach über 65 Jahren für den eigenen Verlag neu übersetzt und frei bearbeitet. Ausgestattet ist es mit über 50 prächtigen Lithographien der Originalausgabe, angefertigt von Horacio Castelli, einem Schüler Gustave Dorés. Ein Buch heute nicht nur für Kinder, aber über 150 Jahre nach seinem Entstehen immer noch bestens geeignet für kleine Leseratten.

Simone Guski

Sophie de Ségur: “Abenteurer des Esels Cadichon”, AVOX Verlag Leipzig 2013, 284 S., 51 Abbildungen, 19,90 Euro