Die Religion vergiftet alles

Ein Auszug aus dem Buch „God is Not Great“ ("Der Herr ist kein Hirte") von Christopher Hitchens

Es gibt vier nicht reduzierbare Einwände gegen religiösen Glauben: Dass er den Ursprung des Menschen und des Kosmos völlig falsch wiedergibt, dass es ihm aufgrund dieses Urfehlers gelingt, das Maximum an Unterwürfigkeit mit dem Maximum an Solipsismus1 zu kombinieren, dass er sowohl das Resultat als auch die Ursache von gefährlicher sexueller Unterdrückung darstellt, und dass er letztendlich auf Wunschdenken begründet ist.

Ich denke nicht, dass es arrogant von mir ist zu behaupten, dass ich diese vier Einwände bereits entdeckt hatte (als auch den vulgären und offensichtlichen Fakt, dass Religion von denen benutzt wird, die zeitweilig herrschen, um sich selbst mit Autorität auszustatten), bevor meine Knabenstimme gebrochen war. Ich bin mir moralisch sicher, dass Millionen anderer Menschen zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen in sehr ähnlicher Weise gekommen sind und ich habe seitdem in Hunderten von Orten und in Dutzenden verschiedener Länder solche Menschen getroffen. Viele von ihnen haben nie geglaubt und viele von ihnen haben den Glauben nach einem schwierigen Kampf aufgegeben. Einige von ihnen erlebten blendende Momente der Nicht-Überzeugung, die haargenau so spontan waren, obgleich weniger epileptisch und apokalyptisch (und später mehr durch Vernunft und mehr durch Moral gerechtfertigt) wie die von Saulus von Tarsus2 auf der Straße nach Damaskus.

Und dies ist für mich und alle Gleichgesinnten der springende Punkt. Unser Glaube ist kein Glaube. Unsere Prinzipien sind kein Glaube. Wir verlassen uns nicht nur auf Wissenschaft und Vernunft, weil dies nötige, aber keine ausreichenden Faktoren sind, aber wir misstrauen allem, was der Wissenschaft widerspricht und der Vernunft frevelt. Wir mögen uns in vielen Dingen nicht einig sein, aber was wir respektieren ist freie Forschung, Aufgeschlossenheit und die Verfolgung von Ideen zu ihrem eigenen Zweck. Wir halten unsere Überzeugungen nicht dogmatisch aufrecht: Die Uneinigkeit zwischen Professor Stephen Jay Gould und Professor Richard Dawkins bezüglich der punktuierten Evolution und die ungefüllten Lücken in der neodarwinistischen Theorie sind recht weit und auch recht tief, aber wir werden sie durch Belege und Nachdenken auflösen und nicht durch gegenseitige Exkommunikation. (Mein persönliches Problem mit Professor Dawkins und Daniel Dennett wegen ihres extrem peinlichen Vorschlags, dass sich Atheisten eingebildet dazu vorschlagen sollen, „Brights“ genannt zu werden, ist Teil einer fortschreitenden Auseinandersetzung). Wir sind nicht immun gegenüber der Verlockung von Wundern und Mysterien und Ehrfurcht: Wir haben Musik und Kunst und Literatur und ich finde, dass die ernsthaften ethischen Dilemmata besser von Shakespeare und Tolstoy und Schiller und Dostoyevsky und George Eliot behandelt werden als in den mythologischen Moralgeschichten der heiligen Bücher. Literatur, nicht heilige Schrift, stützt den Geist und – da es keine andere Metapher gibt – auch die Seele. Wir glauben nicht an Himmel oder Hölle und keine Statistik wird jemals aufzeigen, dass wir ohne diese Schmeicheleien und Drohungen mehr Verbrechen aus Gier oder Gewalt verüben als die Gläubigen. (Tatsächlich, falls jemals eine ordentliche statistische Untersuchung gemacht werden könnte, bin ich mir sicher, dass die Belege in die andere Richtung weisen würden.) Wir sind damit versöhnt, nur einmal zu leben, außer durch unsere Kinder, für die wir vollkommen glücklich sind, festzustellen, dass wir für sie den Weg frei machen müssen und auch den Raum. Wir spekulieren, dass es zumindest möglich ist, dass, sobald die Leute den Fakt ihrer kurzen und mühevollen Leben akzeptiert haben, sie sich gegenseitig besser behandeln könnten und nicht schlechter. Wir glauben mit Sicherheit, dass ein anständiges Leben ohne Religion geführt werden kann. Und wir wissen es faktisch, dass die logische Folge wahr ist – dass Religion unzählige Menschen nicht nur dazu gebracht hat, sich keineswegs besser zu benehmen als andere, sondern sich die Erlaubnis zu erteilen, auf eine Weise zu handeln, die bei Zuhältern oder Massenmördern, die ethnische Säuberungen durchführen, Missfallen erregen würde.

Am wichtigsten ist vielleicht, dass wir Ungläubigen keine Maschinerie brauchen, um unseren Glauben zu stärken. Wir sind diejenigen, die Blaise Pascal mit einbezog, als er demjenigen schrieb, der sagte: „Ich bin so erschaffen, dass ich nicht glauben kann.“

Es gibt keinen Grund für uns, uns jeden Tag zu versammeln, oder alle sieben Tage, oder an einem hohen und verheißungsvollen Tag, um unsere Rechtschaffenheit kundzutun oder uns in unserer Unwürdigkeit zu suhlen und zu kriechen. Wir Atheisten brauchen keine Priester oder irgendeine Hierarchie über ihnen, um unsere Doktrin zu überwachen. Opfer und Zeremonien sind uns zuwider, so wie alle Reliquien und die Anbetung irgendwelcher Bilder oder Objekte (sogar einschließlich Objekten in Form einer Erfindung, die zu den nützlichsten des Menschen zählt: Ein gebundenes Buch). Für uns ist kein Ort auf Erden „heiliger“ als ein anderer, noch könnte er es sein: Der wichtigtuerischen Absurdität der Pilgerfahrt oder des blanken Horrors, Zivilisten im Namen irgendeiner heiligen Mauer oder Schrein oder Felsen zu töten, können wir den gemächlichen oder eiligen Gang von einer Seite der Bibliothek oder der Galerie zu der anderen entgegensetzen, oder ein Essen mit einem angenehmen Freund, auf der Suche nach Wahrheit oder Schönheit. Einige dieser Ausflüge zum Bücherregal oder zum Essen oder zur Galerie werden uns offensichtlich, wenn sie ernst sind, in den Kontakt mit Glauben oder Gläubigen bringen, von den größten hingebungsvollen Malern und Komponisten zu den Arbeiten von Augustinus, Äquinas, Maimonides und Newman. Diese mächtigen Gelehrten haben viele bösartige oder viele dumme Dinge geschrieben und waren lachhaft ignorant gegenüber der Theorie der Erregung von Krankheiten durch Bakterien oder gegenüber dem Platz ihres Erdenglobus im Sonnensystem, mal ganz abgesehen vom Universum, und dies ist der klare Grund, warum es heute keine mehr von ihnen gibt und warum es morgen keine mehr von ihnen geben wird. Die Religion hat ihre letzten einleuchtenden oder erhabenen oder inspirierenden Dinge vor langer Zeit gesagt: Entweder das, oder sie mutierte in bewundernswerten, aber nebulösen Humanismus, wie es, sagen wir, Dietrich Bonhoeffer getan hat, ein mutiger lutherischer Pastor, der von den Nazis gehängt wurde, weil er sich weigerte, mit ihnen zusammenzuspielen. Wir sollen keine weiteren Propheten oder Weisen aus dem antiken Zeitalter haben, weshalb die Andachten von heute nur die nachhallenden Wiederholungen von gestern sind, manchmal aufgedreht bis zum Punkt, an dem man nur noch schreien möchte, um die schreckliche Leere abzuwehren.

Während einige Versuche, die Religion zu verteidigen in ihrer beschränkten Art wunderbar sind – man könnte Pascal zitieren – und einige von ihnen öde und absurd – hier kommt man nicht umhin, C. S. Lewis zu erwähnen – haben beide Stile etwas gemeinsam, nämlich den erschreckenden Kraftaufwand, den sie aufbringen müssen. Welche Anstrengung doch nötig ist, um das Unglaubliche zu bestätigen! Die Azteken mussten jeden Tag einen menschlichen Brustkorb aufreißen, nur um dafür zu sorgen, dass die Sonne aufgehen würde. Von Monotheisten wird erwartet, dass sie ihre Gottheit noch öfter belästigen, vielleicht aus Furcht, dass sie taub sein könnte. Wie viel Selbstgefälligkeit muss verdeckt werden – nicht sehr erfolgreich – um vorzutäuschen, dass man das persönliche Objekt eines göttlichen Plans ist? Wie viel Selbstrespekt muss man aufgeben, um sich immer wieder im Bewusstsein der eigenen Sünde zu drehen und zu winden. Wie viele überflüssige Annahmen muss man machen und wie viele Verrenkungen sind nötig, um jede neue wissenschaftliche Erkenntnis aufzunehmen und sie so zu manipulieren, dass sie mit den offenbarten Worten antiker menschengemachter Gottheiten „zusammenpassen“. Wie viele Heilige und Wunder und Konzile und Konklaven sind nötig, um zunächst ein Dogma aufzustellen und dann – nach unendlichem Schmerz und Verlust und Absurdität und Grausamkeit – gezwungen zu sein, eines dieser Dogmen zu widerrufen? Gott hat den Menschen nicht nach seinem Bilde erschaffen. Offenkundig war es andersherum, was die schmerzlose Erklärung für die Überfülle von Göttern und Religionen darstellt und für den Brudermord zwischen und innerhalb von Glaubenssystemen, die wir überall um uns herum erkennen und welche die Entwicklung der Zivilisation so sehr behindert hat.

Die mildeste Religionskritik ist sogleich die radikalste und die verheerenste. Religion ist das Werk des Menschen. Sogar die Männer, die sie gemacht haben, können sich nicht darauf einigen, was ihre Propheten oder Erlöser oder Gurus tatsächlich gesagt oder getan haben. Noch weniger können sie hoffen, uns die „Bedeutung“ späterer Entdeckungen und Entwicklungen zu erklären, die, als sie begannen, entweder von ihren Religionen gehemmt wurden oder von ihnen gebrandmarkt. Und doch – die Gläubigen behaupten immer noch zu wissen! Nicht nur zu wissen, sondern alles zu wissen. Nicht nur zu wissen, dass Gott existiert und dass er die ganze Unternehmung erschuf und überwachte, sondern auch, was „Er“ von uns verlangt – von unserem Speiseplan bis zu unserer Sexualmoral. Mit anderen Worten, in einer umfangreichen und komplizierten Diskussion, in der wir immer mehr über immer weniger wissen, dabei noch immer auf einige Aufklärung hoffen können, während wir fortfahren, hat eine Fraktion – ihrerseits zusammengesetzt aus sich gegenseitig bekriegenden Fraktionen – die schiere Arroganz, uns zu sagen, dass wir bereits über alle notwendigen Informationen verfügen, die wir brauchen. Eine solche Dummheit, verbunden mit einem solchen Stolz, sollte alleine bereits ausreichen, um „Glauben“ von der Debatte auszuschließen. Die Person, die sich sicher ist und die göttliche Vollmacht für diese Sicherheit zu haben vorgibt, gehört nun zu den Kleinkindern unserer Spezies. Es mag ein langer Abschied sein, aber er hat begonnen und sollte, wie jeder Abschied, nicht hinausgezögert werden.

Der Streit mit dem Glauben ist das Fundament und die Wurzel allen Streits, weil er der Anfang ist – aber nicht das Ende – von allen Auseinandersetzungen über Philosophie, Wissenschaft, Geschichte und die menschliche Natur. Er ist auch der Anfang – aber keinesfalls das Ende – von allen Streitigkeiten über das gute Leben und die gerechte Stadt. Religiöser Glaube ist, gerade weil wir Kreaturen sind, die sich noch entwickeln, unauslöschbar. Er wird niemals aussterben, oder zumindest nicht, bis wir unsere Furcht vor dem Tod und von der Dunkelheit und vor dem Unbekannten und vor einander hinter uns lassen. Aus diesem Grunde würde ich ihn nicht verbieten, selbst wenn ich glaubte, ich könnte es. Sehr großzügig von mir, könnten Sie sagen. Wird mir jedoch die Religion die selbe Nachsicht gewähren? Ich frage, weil es einen echten und ernsthaften Unterschied gibt zwischen mir und meinen religiösen Freunden und die echten und ernsthaften Freunde sind ehrlich genug, das zuzugeben. Ich wäre ganz zufrieden damit, zur Bar Mitzwa ihrer Kinder zu gehen, ihre gotischen Kathedralen zu bewundern, ihren Glauben, dass der Koran, obwohl ausschließlich in Arabisch, einem analphabetischen Händler diktiert wurde, zu „respektieren“, oder mich für den Trost von Wicca, Hindu und Jain zu interessieren. So wie es aussieht, werde ich das weiterhin tun, ohne auf höfliche Gegenseitigkeit zu beharren – aber nur, wenn sie mich dafür in Ruhe lassen. Dies jedoch ist etwas, was die Religion letztlich nicht tun kann. Während ich diese Worte schreibe und während Sie sie lesen, planen Leute des Glaubens auf ihren verschiedenen Wegen Ihre und meine Zerstörung und die Zerstörung all der hart erkämpften menschlichen Errungenschaften, die ich angesprochen habe. Religion vergiftet alles.

 

1Laut dem Solipsismus existiert nur das eigene Ich wirklich, während die Außenwelt aus Bewusstseinsinhalten des eigenen Ichs besteht. „Die Welt ist meine Vorstellung“ (Schopenhauer, selbst kein Solopsist)

2Besser bekannt als Paulus von Tarsus, der Begründer des Christentums. Er soll auf der Straße nach Damaskus vom Blitz getroffen worden sein, worauf ihn Jesus befahl, nach Damaskus zu gehen. Als er aufstand, war er für drei Tage blind und aß nichts (siehe Apg 9).

 

Übersetzung und Fußnoten: Andreas Müller

Original: Slate, 27. April 2007

 

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