Ein Jahr Patientenverfügungsgesetz

BERLIN. (hvd/hpd) Der Humanistische Verband Deutschlands zieht eine gemischte Bilanz. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes fordert der Verband, die Möglichkeiten zur Wahrung der eigenen Wertvorstellungen, die das Gesetz bietet, endlich mit Leben zu füllen.

 

Das zivilrechtliche Patientenverfügungsgesetz, das seit dem 1. September 2009 gilt, garantiert, dass der Patientenwille bis zum Lebensende verbindlich zu befolgen ist. Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der die Bundeszentralstelle Patientenverfügung betreibt und deren Leiterin Gita Neumann in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet hat, gehört zu den klaren Befürwortern des Patientenverfügungsgesetzes.

Zwar sei einerseits die Nachfrage nach Patientenverfügungen deutlich gestiegen, gleichzeitig würden aber verstärkt Probleme und Unsicherheiten mit älteren „Pauschalverfügungen“ auftreten, die noch im Geist der Beschränkung auf den Sterbeprozess abgefasst sind, wie er vor dem 1. September 2009 vorherrschte.

In der Bundeszentralstelle für Patientenverfügung und Humanes Sterben beraten hauptamtliche Mitarbeiter des Verbands zu Patientenverfügungen und helfen beim Verfassen einer solchen. Interessierte können dabei zwischen einer auf Textbausteinen basierenden Standardpatientenverfügung oder einer nach individuellen Bedürfnissen und Wertvorstellungen abgefassten Optimalen Patientenverfügung wählen. Seit Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes ist die Nachfrage nach beiden Modellen im Jahresvergleich um etwa 40% gestiegen. Zwischen dem 1. September 2008 und dem 1. September 2009 wurden in der Bundeszentralstelle insgesamt 1.390 Standard- und 500 Optimale Patientenverfügungen angefertigt. Seit dem 1. September 2009 stiegen diese Zahlen auf 1.840 Standard- und 860 Optimale Patientenverfügungen.

„Bewusstseinswandel und deutlich gesteigerte Beratungsnachfrage, auch seitens der Ärzteschaft, sind aber erst in diesem Sommer so richtig spürbar geworden. Ich gehe davon aus, dass 95% aller bestehenden Patientenverfügungen, vor allem die formal-juristisch abgefassten, dringend der Überprüfung bedürften.“, meint die Leiterin der Bundeszentralstelle Gita Neumann.

Diese Vermutung stützen die Zahlen der Monate Juni bis August, die sich von 2009 auf 2010 verdoppelt haben. Etwa zehn Patientenverfügungen pro Tag fertigen die sechs Mitarbeiter/-innen der Bundeszentralstelle Patientenverfügung momentan an. Sie leisten dabei zusätzlich etwa 30 Beratungen, ob persönlich, am Telefon oder schriftlich, auch zu Änderungs- und Überprüfungswünschen bestehender Patientenverfügungen. Der gestiegene Beratungsbedarf zeigt, dass das Patientenverfügungsgesetz mit der Auflösung der Reichweitenbeschränkung weitgehende Möglichkeiten zur Selbstbestimmung geschaffen, die alten Scheinsicherheiten zum humanen Sterben aber ins Wanken gebracht hat.

Bei der Umsetzung der Patientenverfügungen kann die Bundeszentralstelle des HVD nicht feststellen, dass sich Krankenhäuser und Ärzte schwer tun, diesen nachzukommen, wenn sie konkret formuliert sind. Die Probleme, die auch ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes auftreten, stammen aus den Formulierungen der Verfügungen, die nicht an die neue Gesetzeslage angepasst wurden. Dabei kann es sogar vorkommen, dass „alte“ Patientenverfügungen, die bis vor wenigen Jahren als revolutionär und weitreichend galten – wie z.B. die Patientenverfügung des Bayrischen Justizministeriums – inzwischen den Möglichkeiten des Gesetzes hinterherhinken. Denn während vor dem Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes durch die Begrenzung der Reichweite einer Verfügung überhaupt erst die Möglichkeit ihrer Geltung eröffnet werden musste, ist diese Reichweitenbeschränkung heute aufgehoben. Wurde damals also eine geschlossene Tür mit der Definition des Geltungsbereichs überhaupt erst geöffnet, wird die heute völlig geöffnete Tür dadurch wieder partiell geschlossen. Dies gilt bspw. für die ehemals sehr weitgehende Bayrischen Patientenverfügung, wonach ein Unterlassen von intensivmedizinischer Lebenserhaltung nur für Maßnahmen gelten soll, „die den Todeseintritt verzögern und dadurch mögliches Leid unnötig verlängern würden“.

Irreversible Prozesse sind solche erst im Nachhinein

Auch Formulierungen wie „Diese Patientenverfügung gilt, wenn ich mich irreversibel im unmittelbaren Sterbeprozess befinde“ stehen im Zentrum der heute auftretenden Probleme – auch und erst recht, wenn es um die Umsetzung einer Patientenverfügung im Krankenhaus geht. Denn eine Irreversibilität des Sterbeprozesses ist mit Sicherheit erst im Nachhinein, also nach Eintritt des Todes festzustellen. Patientenverfügungen, die diesen oder ähnliche Sätze weiterhin enthalten, erfüllen oft nicht die Vorstellung der betroffenen Personen, die im Falle geringer Besserungsaussichten, im hohen Alter oder bei fortgeschrittener schwerer Krankheit auf die monatelange Ernährung durch Magensonden oder die Einleitung lebenserhaltender Maßnahmen generell verzichten wollen. Auf der Basis einer Verfügung mit dieser oder ähnlich lautender Formulierungen werden lebenserhaltende Maßnahmen stets weiterhin ergriffen, weil die Reichweite der Verfügung dann auf die – so gut wie nicht feststellbare – Irreversibilität des Sterbeprozesses beschränkt ist. Zudem wären alle anderen Fälle wie Koma oder schwere Demenz dadurch definitionsgemäß ausgeschlossen.

„Einschlägige Organisationen haben dieses Problem erkannt, die wenigsten aber ziehen daraus auch die Konsequenzen und gehen zu verstärkter Aufklärung über“, beklagt Gita Neumann. „Meiner Kenntnis nach ist unsere Bundeszentralstelle die einzige Anlaufstelle, wo Interessierte völlig ergebnisoffen unter Abwägung aller Eventualitäten beraten und professionell (d. h. nicht durch Ehrenamtliche) aufgeklärt werden und dann mit einer von uns abgefassten individuellen Patientenverfügung nach Hause gehen können. Dies bestätigen mir auch immer wieder Ärzte und Notare, die ihre eigenen Grenzen erkannt haben.“

Probleme der christlichen Reichweitenbeschränkung

Die evangelische und katholische Kirche kündigten schon 2009 an, ihre Christliche Patientenverfügung an die neue Gesetzgebung anzupassen. Dies kann nur die Reichweitenbeschränkung betreffen, die die Geltung der Verfügung auf den „unmittelbaren Sterbeprozess“, bei dem „jede lebenserhaltende Maßnahme das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf erfolgreiche Behandlung verlängern würde“ bzw. auf den „nicht behebbaren Ausfall lebenswichtiger Funktionen“, die zum Tod führen, beschränkt. Bis heute ist diese Formulierung in der christlichen Patientenverfügung nicht geändert. Auch die Bayrische Patientenverfügung hat zu ihrem Nachteil die Formulierung aus der christlichen Patientenverfügung übernommen und schränkt ihre Geltung auf den „unmittelbaren Sterbeprozess“ ein – allerdings mit der wichtigen Ausnahme, dass ausdrücklich bei irreversiblem Koma oder Demenz auch auf künstliche Ernährung verzichtet werden kann. Die christliche Patientenverfügung sieht diese Möglichkeit nicht vor.

Nur transparente Aufklärung und gegebenenfalls individuelle Beratung können dazu führen, dass die Unzulänglichkeiten der „alten“ Patientenverfügungen aufgelöst und diese an den tatsächlichen Patientenwillen angepasst werden können. Erst wenn dies geschieht, kann das Patientenverfügungsgesetz umfänglich seine absichernde Wirkung entfalten. Dieser Aufklärung entziehen sich aber zahlreiche Akteure. Von den Kirchen ist eine Aufklärungsabsicht derjenigen mit einer christlichen Patientenverfügung nicht zu erkennen. Schlimmer noch aber ist, dass Organisationen wie die Deutsche Hospiz Stiftung, eine selbst ernannte Patientenschutzorganisation, erst gar nicht offen und transparent zeigen, welche Materialien sie verwenden. Eine Vorlage der Patientenverfügung wird Nicht-Mitgliedern der Hospiz Stiftung nicht zur Verfügung gestellt, weder auf Anfrage noch über die stiftungseigene Homepage. Welche Formulierungen deren Dokumente genau vorsehen und wie weitgehend diese sind, ist nach außen hin bis heute nicht transparent.

Alles was man als Nicht-Mitglied z.B. von der Deutschen Hospiz-Stiftung in Erfahrung bringen kann, ist die Tatsache, dass der Vorsitzende Eugen Brysch eindringlich vor der Formulierung eines absoluten Behandlungsabbruchs warnt. „Eine solch pauschale Aussage würden wir niemals treffen, denn manchmal kann ein solcher Abbruch durchaus sinnvoll sein. Darüber hinaus können wir auch den Bedarf für eine solche Äußerung nicht erkennen. Die Zahlen derjenigen, die einen solchen absoluten Behandlungsabbruch wünschen, sind bei uns seit Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes nicht gestiegen.“

Ein Vorgehen wie das der Deutschen Hospiz Stiftung oder auch die ausbleibende Aufklärung der Kirchen zu ihrer Patientenverfügung verbessert die Situation im Umgang mit dem Patientenverfügungsgesetz nicht, sondern erschwert sie für die Betroffenen nur zusätzlich.

Thomas Hummitzsch
für den HVD-Berlin