Denkwürdige Tage im Mai

MOSKAU, im Mai (hpd). Unbemerkt wie fast jedes Jahr ist er in der Bundesrepublik verstrichen – der 8. Mai, seinerzeit „Tag der Befreiung vom

Hitlerfaschismus“ in der DDR, als solcher noch existent in Frankreich und anderen Ländern Europas, seit 2002 wieder Gedenktag in Mecklenburg-Vorpommern. Wegen der Zeitverschiebung begeht Russland das Ereignis am 9. Mai als „Tag des Sieges“ und gedenkt der Helden seines Großen Vaterländischen Krieges. Inzwischen veranlasst manchen dieses Datum, auch darüber nachzudenken, welchen Sieg man auf Dauer davongetragen hat. Denn Faschismus in Form fremdenfeindlicher und menschenverachtender Ideologien flammt weltweit bis heute auf. Auch in Russland, das die größten Opfer bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus erbrachte. Nikolai Alexejew, Moskauer Bürgerrechtler und Aktivist für die Belange sexueller Minderheiten, hat sich dazu folgende, sehr persönliche Gedanken gemacht. Der hpd veröffentlicht sie auszugsweise am Vorabend des 17.5., eines weiteren, noch jungen Gedenktages im Mai – dem Internationalen Tag gegen Homophobie:

Sieg mit Tränen in den Augen

„Der 9. Mai 1945 ist ein großer Tag nicht allein für Russland, sondern für die gesamte Menschheit. Wir besiegten nicht nur den Feind, sondern die Ideologie des Hasses und der Menschenverachtung. Wir besiegten den Faschismus, der die Menschheit mit Ausrottung und Erniedrigung bedrohte. Dieser Tag war gleichzeitig Anlass zur Freude und Bitterkeit. In diesem Krieg verloren viele ihre engsten Verwandten und Freunde. An jenem Tag lud man meine Großmutter zur Siegesfeier ein, doch sie ging nicht hin. Für sie war dieser Sieg – wie es in einem bekannten Lied heißt – ein Sieg mit Tränen in den Augen. Sie hatte ihren Mann verloren und konnte ihren kleinen Sohn nicht retten.

In Russland sagt man manchmal über einen Toten, der nicht mehr sehen kann, was nach seinem Ableben passiert: ‚Wenn er dass wüsste, würde er sich im Grabe umdrehen.‘ Mein Großvater, den ich nur von Fotos her kenne, kann sich nirgendwo umdrehen. Er liegt in keinem Sarg und in keinem Grab, das seine Verwandten besuchen könnten. Doch sicher wäre er darüber entsetzt, wenn er sehen könnte, in was für einem Land wir heute leben. Großvater starb mit 31 Jahren im April 1943. Schwer vorzustellen, dass er kaum älter war, als ich es heute bin. Ihm zu Ehren bekam ich den Namen Nikolai.

Vor Kurzem hat das russische Verteidigungsministerium nach einem Erlass von Präsident Putin eine Datenbank im Internet (www.obd-memorial.ru) mit Informationen über Militärangehörige angelegt, die im Großen Vaterländischen Krieg gestorben und verschollen sind. Vor wenigen Tagen fand ich in diesem Archiv den Namen meines Großvaters und sogar noch einen seiner nach Hause verfassten Briefe vom 10. Februar 1943. Er hatte einen künstlerischen Beruf und sah in allem das Gute und Schöne.
(...)
In der Hauptstadt gab es damals Lebensmittelkarten. Doch Großmutter lebte in Peredelkino, einem Moskauer Vorort. Nachdem ihr Mann zur Front musste, zogen die Kinder aus der Stadt zur Großmutter und wurden beim Moskauer Einwohnermeldeamt ausgetragen. Von da an war an Lebensmittelkarten nicht mehr zu denken. Sie waren allein auf das Stückchen Land bei Moskau als Selbstversorger angewiesen, mit Hühnern und der Ziege ‚Sorka‘.

Unser Haus steht bis heute, auch wenn es baufällig geworden ist. Der Großvater hatte es in den Dreißigerjahren vor dem Krieg gebaut. Peredelkino aber, der früher für seine zahlreichen Schriftsteller bekannte Moskauer Vorort, hat sich völlig verändert. Von den typisch sowjetischen und heute noch anderswo anzutreffenden Hütten mit ihrem Komfort im Hof ist nichts mehr geblieben.“

Das System Luschkow

„Heute ist hier Moskau. In die Höhe ragen private Villen von Millionären und Milliardären, die ‚ehrlich‘ ihren Reichtum nach dem Zerfall der Sowjetunion erworben haben. Immer wenn ich nach Peredelkino fahre, fällt mir auf, dass die Schlösser noch größer und noch prunkvoller werden.

Die Eigentümer dieser Häuser haben keine Probleme mit den Behörden. Gegen Geld erkaufen sie jede Genehmigung. Und einigen ist es gelungen, ihr Grundstück in Privateigentum umzuwandeln, obwohl das bei den heutigen Behörden in Moskau keineswegs einfach geht. Gleichzeitig müssen Alteingesessene die Mühlen der Moskauer Bürokraten ertragen, um ihre kleinen Parzellen zu retten. Dafür reicht vielen nicht die Geduld, sie geben auf oder werden aufgefordert wegzuziehen. Uns hat man das auch schon angeraten. Die Willkür der Moskauer Behörden hat ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Und der Name desjenigen, der dieses erniedrigende System geschaffen hat, ist Juri Michailowitsch Luschkow – seit 1992 ununterbrochen regierender Bürgermeister der russischen Haupstadt.

Herr Luschkow ist nicht nur Bürgermeister und Diener des Volkes. Er ist der Hausherr von Moskau. Und er ist der Ehemann der begütertsten Frau Russlands, die nach seinen Worten keineswegs durch die herausragende Stellung ihres Mannes, sondern allein aufgrund ihrer unternehmerischen Qualitäten reich geworden ist.

Während seiner gesamten Amtszeit an der Spitze der Stadtverwaltung hat Herr Luschkow nicht einen einzigen Gerichtsprozess verloren. Er kann bauen, was er will und wo er will. Nach eigenem Gutdünken kann er Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen vertreiben. Durch seine unmittelbare Einflussnahme wurde das System der Kindergärten faktisch abgeschafft, da man heute nur noch gegen viel Geld einen Kindergartenplatz bekommen kann. Herr Luschkow hat das Recht, beliebig öffentliche Demonstrationen in Moskau zu verbieten. Schon zum dritten Mal hintereinander untersagt dieser Mann meinen Gefährten und mir, dass wir in der Öffentlichkeit für die Menschenrechte sexueller Minderheiten demonstrieren, er bezeichnet uns unverhohlen als Satanisten und Massenvernichtungsmittel.

Am 27. Mai 2006 wollte ich im Rahmen des ersten Moskauer Gay Pride Blumen am Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer als Zeichen des Kampfes gegen den Faschismus niederlegen. Das Einzige, was man mir zubillligte, war, bis an das verschlossene Tor des Alexandergartens heranzutreten, wo mir faschistische Extremisten des heutigen Russlands die Blumen entrissen und zertrampelten. Doch nicht sie, sondern ich wurde wie ein Verbrecher von der Miliz verhaftet. Am nächsten Tag erklärte Bürgermeister Luschkow, die Schwulen hätten einen heiligen Platz schänden wollen und ‚richtig so, dass man ihnen eine verpasst hat‘.“

Faschismus heute

„In seinem Brief nach Hause schrieb mein Großvater: ‚Es sind nur noch wenige Tage und Stunden, bis wir den Befehl des Oberkommandos erhalten werden, diese Faschistenbande zu bekämpfen. Wir hören die Schüsse unserer großen Batterien, die die Faschisten schlagen und von unserer heimatlichen Erde verjagen. Bald wird das alles ein Ende haben und wir werden wieder ein glückliches Leben führen.‘ Wenn er vor 65 Jahren, als er diese Zeilen schrieb, davon gehört hätte, dass in Russland einmal ein eigener Faschismus aufkeimt, er hätte es nicht geglaubt. Doch im heutigen Russland sind Hunderte von Menschen Opfer der Gewalt von Skinheads und Neonazis. Und das nur, weil sie anders sind – mit anderer Hautfarbe, Nationalität, Glaubensrichtung oder sexueller Orientierung. Die russischen Behörden halten es nicht für nötig, gegen diesen Faschismus vorzugehen. Ist das etwa ein intaktes Land, in dem Ausländer Angst haben müssen, auf die Straße zu gehen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, weil jederzeit junge Kahlgeschorene über sie herfallen könnten und im Nachhinein von den Gerichten auf Bewährung wegen Rowdytums verurteilt werden? Herr Luschkow verbietet Menschrechtsaktionen sexueller Minderheiten und gestattet Demonstrationen der Nationalisten, die zur Vernichtung aller Nichtrussen aufrufen wie jüngst am 1. Mai dieses Jahres.“

Stolz worauf?

„Am 9. Mai findet die Siegesparade auf dem Roten Platz statt, in einem Ausmaß, wie es sie in der Geschichte des modernen Russlands und seit dem Kalten Krieg noch nie gegeben hat, nicht einmal 1995 zum 50. Jahrestag des Sieges. – Ständig werde ich gefragt, was wir mit unseren Demonstrationen der sexuellen Minderheiten eigentlich erreichen wollen. – Ich für meinen Teil frage mich, worauf will Russland eigentlich stolz sein, wenn es Militärtechnik und Tausende Soldaten in Moskau aufmarschieren lässt und die zivilisierte Welt aufschreckt? Auf kontrollierte Gerichte? Auf die vollständige Demontage der mit Blut erkämpften demokratischen Freiheiten? Auf das höchste Ausmaß an Korruption in der gesamten Geschichte des Landes? Auf Millionen von vernachlässigten Kindern in den Straßen russischer Städte? Auf den Ausverkauf von kleinen Kindern durch Kinderheime? Oder vielleicht auf Tausende Soldaten, die zu Friedenszeiten in der Armee umkommen? Vielleicht auch auf den unkontrollierten Ausverkauf der Bodenschätze des Landes? Auf die unverschämte Ignoranz gegenüber einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit und des Nationalismus im Lande? Eine Parade, die das Land schon Milliarden gekostet hat, wird nur jener politischen Elite gebraucht, die in Russland die Macht an sich gerissen hat und mit den niedrigen Instinkten des eigenen Volkes spielt. Denn Machtdemonstrationen entstehen immer dann, wenn jemand seine Schwächen spürt. (...)“

Ausblick

„Das Schlimmste ist, dass die Wut und der Hass auf die deutschen Faschisten, die meinen Großvater getötet haben, im Laufe der vielen Jahre verflossen sind. Die Ideologie des Faschismus wurde auf den Kopf gestellt. Deutschland hat seine begangenen Verbrechen eingestanden und sich bei den Opfern entschuldigt. Viel größeren Zorn aber rufen heute russische und Moskauer Behörden hervor, die ihr Volk in einen Zustand der völligen Rechtlosigkeit und Unsicherheit getrieben haben. Es ist furchtbar zu erkennen, dass sich kein Vertreter dieser Mächte jemals für seine Verbrechen verantworten muss und niemals die Kraft finden wird, sich dafür zu entschuldigen.“

Nikolai Alexejew
Vorsitzender des LGBT-Menschenrechtsprojekts GayRussia.Ru
Chef des Organisationskomitees Moskauer Gay Pride

Übersetzung: Tibor Vogelsang

Quelle: http://www.gayrussia.ru/actions/detail.php?ID=11378