Pro Ethik – damit Erziehung zur Beziehung wird

BERLIN (hpd) Auf Beschluss des Abgeordnetenhauses hat Berlin im Schuljahr 2006/07 für alle Klassen von 7 bis 10 einen zweistündigen Ethik-Unterricht

eingeführt. Der freiwillige Besuch von Religions- und Weltanschauungsunterricht bleibt selbstverständlich erhalten. Im Mai 2006 trat ein Rahmenlehrplan Ethik in Kraft, bald danach lagen die ersten Unterrichtsmaterialien vor, die Humboldt-Universität und die Freie Universität konzipieren inzwischen einen entsprechenden Studiengang. Bereits im Februar 2006 hatten 135 Lehrkräfte, die die Lehrbefähigung für Philosophie oder die Unterrichtserlaubnis für den Schulversuch Ethik/Philosophie besaßen, Wochenendseminare zur Vorbereitung auf den Ethik-Unterricht besucht. Bisher wurden insgesamt 750 qualifiziert; zurzeit laufen sechs Weiterbildungskurse.
Dieses neue „Wertefach“ gefällt nicht allen; eine Initiative „ProReli“ will das Pflichtfach wieder abschaffen, eine andere; „ProEthik“ votiert für beibehalten.

Dazu ein Kommentar des Berliner Landesschulamtsleiters a.D. Wilfried Seiring, seit zehn Jahren Direktor des Ausbildungsinstituts für Humanistische Lebenskunde:

Worum geht es wirklich?

Kürzlich besuchte der CDU-Fraktionsvorsitzende ein Berliner Gymnasium. Die Schulleiterin informierte eingangs, dass 78% der Schüler ausländische Wurzeln haben, in den unteren Klassen sogar 90%, 11 verschiedene Religionen gäbe es. Im März hatte ein muslimischer Schüler dort einen Gebetsraum verlangt und per Gerichtsbeschluss durchgesetzt. So ist es nicht überall, aber man muss dem Bundestagsvizepräsidenten Thierse doch zustimmen, dass „Berlin die multikulturellste Stadt Deutschlands ist“. Unterschiedlichkeit wird größer, und tatsächlich wird das Zusammenleben von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Milieus, Religionen, Ethnien und Herkunftsländern schwieriger, parallelgesellschaftliche Erscheinungen beunruhigen, Aggressionen und gegenseitige negative Stigmatisierungen ebenfalls.

Die Diskussionen um einen Werteunterricht für alle bekamen durch den Mord zweier türkischer Jugendlicher an ihrer Schwester, weil sie angeblich durch ihren „westlichen Lebensstil die Familienehre“ verletzt habe, einen zusätzlichen Impuls. Toleranz und Friedfertigkeit, die Anerkennung des anders Denkenden, aber auch die Akzeptanz unseres Grundgesetzes, der Berliner Verfassung, des §1 unseres Schulgesetzes, der Menschenrechte allgemein müssen aber die Grundlage des gemeinsamen Lebens in unserer Stadt bleiben. Natürlich könnten diese Werte auch im Fach Sozialkunde, im Fach Deutsch, ja durch das Schulleben generell vermittelt werden.
Es geht aber doch um mehr. Der tief greifende gesellschaftliche Wandel stellt hohe Anforderungen insbesondere an die Identität. Formen der sozialen Verelendung und der Kriminalisierung in bestimmten Bereichen zeigen, dass Liberalisierung ambivalent ist, dass traditionelle Normen in Frage gestellt werden und Verhaltensunsicherheit erzeugen. Wirtschaftliche und soziale Unsicherheiten, die Zunahme sog. Patchwork-Beziehungen wirken sich auf das Erziehungsverhalten in den Elternhäusern ungünstig aus; unkontrollierter Medienkonsum tut ein Übriges. Lehrer klagen über einen spürbaren Erziehungsverlust in den Familien, über die Zunahme von Gewalt aus nichtigem Anlass und über die Abnahme gegenseitiger Achtung. Die Fülle derartiger Fakten ist bedrückend, auch wenn es immer wieder bemerkenswerte Gegenbeispiele in Berlins Schulen gibt.

Das Fach Ethik kann selbstverständlich all diese Probleme nicht lösen. Es kann aber in der vertrauten Umgebung des Klassenraumes mit dem speziell ausgebildeten Lehrer, also in einer Atmosphäre des Vertrauens, die Bereitschaft und die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler fördern, sich gemeinsam mit den grundlegenden ethischen Problemen des persönlichen Lebens, des menschlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinanderzusetzen.
Die 13- bis 16-jährigen Jugendlichen sollen ausgehend von ihrer Erlebniswelt über die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen und Weltanschauungen unserer Zeit reflektieren. Sie sollen das menschliche Handeln unter dem Gesichtspunkt moralischer Prinzipien wahrnehmen. Die Hoffnung ist, dass sie dadurch Verschiedenheit als legitim beurteilen, dass die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes aufgegeben wird, dass tradierte Auffassungen über „Gott und die Welt“ überdacht und dann begründet werden, dass schließlich über den Perspektivwechsel und empathische Anteilnahme Verständnis erreicht wird über die Grundsätze der gegenseitigen Achtung, der Toleranz und Hilfsbereitschaft, dass man miteinander spricht, nicht übereinander schimpft und (ver)urteilt, letztendlich, dass „der Riss der Sprachlosigkeit nicht das eigene Haus entzweit“, wie Habermas als Grundproblem unserer Gesellschaft diagnostizierte.

Bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral

Die Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 bis 10 haben wie bisher in der Grundschule freiwillig den Religions- oder den Lebenskunde-Unterricht besucht und damit eine Grundlage je nach Familientradition und -entscheidung erworben. Manche werden auch vor der Schule tiefgehende Erfahrungen durch die überzeugenden Haltungen der Eltern oder durch Vorschuleinrichtungen gemacht haben. Daran ändert das neue Pflichtfach Ethik, das bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet wird und selbstverständlich nicht indoktrinieren darf, nichts, denn das Berliner Schulgesetz kennt seit 1948 die auch im Grundgesetz (Art.141) verankerte Regelung des freiwilligen Angebots der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Eine Regelung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass in Berlin nur noch gut ein Drittel der Bevölkerung den beiden großen christlichen Konfessionen angehört und schon gegenwärtig ungefähr die Hälfte der Bewohner sich keiner institutionalisierten Religionsgemeinschaft zuordnet.

Diese Regelung will die Initiative ProReli durch ein Volksbegehren beseitigen; zugleich will sie Religion zum Pflichtfach für alle konfessionsgebundenen und Ethik für die konfessionslosen Schüler schulgesetzlich verankert haben. Das zentrale Anliegen des gemeinsamen Unterrichts wäre damit zerschlagen. Die Initiative ProEthik will dagegen am planmäßigen Ausbau des Ethik-Unterrichts festhalten, auch wenn sich dadurch einige Schüler vom Religionsunterricht abgemeldet haben, bisher 3,58%, und einige Schüler auch dem Lebenskunde-Unterricht verloren gehen. Sie steht damit in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Berliner Bevölkerung, wie eine Umfrage kürzlich ergab.
So auch in der Schweiz, wo sich sogar die Kirchen für einen gemeinsamen Pflichtunterricht Ethik einsetzen. Der Vorsitzende der Initiative gab nach einer Auswertung der zweijährigen Erfahrungen mit dem Unterricht am 22. Mai im Abgeordnetenhaus eine positive Einschätzung und erklärte, dass das Fach Ethik für „die Entwicklung von gegenseitigem Verstehen, von Akzeptanz und Respekt voreinander unverzichtbar“ sei. Bei einem Forum mit Lehrern der Praxis seien „Bestrebungen, die Verbindlichkeit dieses Faches für alle Schüler abzuschaffen, durchweg mit Unverständnis zur Kenntnis genommen“ worden.

Wie geht es weiter?

Die Durchsetzung eines Volksbegehrens ist in Berlin dreistufig. Zunächst muss ein Antrag zur Durchführung von mindestens 20 000 Stimmen unterstützt werden. Das ist bereits erfolgt. Auch wenn Bischof Huber die hohen Kosten von mindestens 500.000 Euro bedauert, haben die Kirchen sich der Initiative angeschlossen. Nun müssen 170 000 Unterschriften gesammelt werden, von Mitte September bis Mitte Januar 2009 ist dies vorgesehen (Das Volksbegehren Flughafen Tempelhof ist noch in guter Erinnerung.).
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Das gegenwärtige freiwillige Angebot von Lebenskunde- und Religionsunterricht soll erhalten bleiben, denn es drückt einerseits die Achtung gegenüber grundlegenden Überzeugungen aus, die Eltern ihren Kindern vermitteln wollen und es bedeutet andererseits eine Bereicherung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens unter Beachtung der historisch gewachsenen Traditionen, solange sich alle grundgesetzkonform verhalten. Auf dieser Basis kooperieren übrigens die unterschiedlichen Bekenntnissen zugehörenden Lehrkräfte der Berliner Schule durchaus konstruktiv und harmonisch. Sie beachten aber die Trennung von Staat und Kirche und tragen so zu einem friedlichen Miteinander bei – ein Modell für ihre Schülerinnen und Schüler.

Hätte das Anliegen von ProReli Erfolg, gingen katholische Kinder zum katholischen, evangelische Kinder zum evangelischen Lehrer, muslimische zum muslimischen und jüdische zum jüdischen Lehrer usw. Und wie muss es im eingangs beschriebenen Gymnasium bei 11 Religionen gelöst werden?
Schulorganisatorisch ist es schlicht nicht machbar. Man muss das Absonderliche dieser Vorstellungen konkret beschreiben: Die katholischen Kinder werden u.a. erfahren, dass „die evangelische Kirche keine richtige Kirche“ (Papst Benedikt XVI.) sei, bei den Muslimen wird der Koran so ausgelegt, dass der terroristische Selbstmörder das Paradies erwarten darf, wenn er Nichtgläubige tötet usw. Die Beispiele ließen sich häufen, aus denen Alleinvertretungsansprüche und Feindseligkeiten folgen, aus denen fehlende Empathie und Rechthaberei wachsen, die zu aggressiven Auseinandersetzungen führen, zu Auseinandersetzungen übrigens, die mitunter jeden anderen Unterricht und die Atmosphäre in der Schule belasten. Die Gefahr eines Kulturkampfes in der Stadt droht, der Streit würde in den Elternhäusern und vor allem in den Schulen zu beträchtlichen Belastungen führen, womöglich neue Gräben schaffen.
Wünschenswert aber ist, dass die verschiedenen Ansichten über „Gott und die Welt“ unter der kundigen Führung eines Lehrers vorgetragen und begründet werden, dass Jugendliche lernen, einander anzuhören und – ganz wörtlich – auszuhalten, dass sie nicht „ausrasten“, sondern mehr und mehr akzeptieren, dass das Anderssein und Andersdenken legitim und manchmal auch eine Bereicherung ist. Tragfähige Beziehungen sollten das Ergebnis einer fairen Diskussionskultur sein, Beziehungen in der Klassen- und Schulgemeinschaft, die sich durch den Willen zum Ausgleich und durch Respekt auszeichnen. Dies ist die Grundlage friedfertigen Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft. Und darum muss es uns gehen.