Horst Herrmann: Mein wichtigstes Buch

MÜNSTER. (hpd) In einem „Sommerinterview" auf dem Balkon seiner Arbeitswohnung sprach Professor Horst Herrmann mit

Carsten Frerk über Politisches, Fachliches und Persönliches.

Horst Herrmann ist nicht jemand, den man umständlich auffordern muss, aus seinem Leben zu plaudern. Das Gespräch zwischen den beiden Autoren, die jeder für sich auch über die Finanzen der Kirchen gearbeitet und Bücher veröffentlicht haben, dreht sich zuerst um die Situation von Horst Herrmann als Kirchenkritiker und dann um seine Arbeiten als Soziologe. Am Anfang war die Frage, wie es „damals" war.

Horst Herrmann: Vor rund fünfundzwanzig Jahren habe ich ein Spiegel-Interview gemacht - fünf Seiten. Ich habe damals gesagt, ich beschränke meine kirchenkritische Tätigkeit künftig auf das Lesen der Heiligen Schrift, ich habe keine Lust mehr auf Kirchenkritik.

Damals war ich tatsächlich der Auffassung, jetzt hört's auf damit. Ich bin zu den Soziologen gegangen und habe dort etwas völlig anderes machen wollen. Das ist zum Teil auch gelungen. Aber rund zehn Jahre später - 1989 war das - rief mich jemand an und sagte: „Sie haben doch so viel Kirchenkritisches gemacht, könnten Sie nicht doch wieder einmal ein Buch für uns machen?" „Ach, Nein!" sagte ich, aber dann kam die Nachfrage: „Haben Sie nicht ein Lieblingsthema?" „Ja" meinte ich, „es gibt - in der allgemeinen Wahrnehmung - ein theologisches Randthema, das für mich allerdings zentral ist, und habe mich dann hin gesetzt und das von einigen Leuten ‚Pamphlet' genannte Buch geschrieben. Ich habe nichts anderes gemacht, als Fakten zusammenzustellen und das war damals sensationell. Das hat sich riesig verkauft und - was viel wichtiger war -, es hat die Leute aufgeschreckt. Vor allem die Bischöfe. Ein Beispiel gibt es, den Kardinal Meisner. Es war damals ein Spiegel-Team bei ihm und er sagte: „Wir sind hier ganz durcheinander. Haben Sie das Buch gelesen?" Und auf die Rückfrage, welches Buch er meine, soll er gesagt haben: „Es gibt nur ein derartiges Buch, ‚Die Kirche und unser Geld'." So war das damals. Das hat die wirklich - obwohl nichts Neues drin stand -, beunruhigt. Es war tatsächlich so etwas wie ein Pamphlet. Ich wollte eine Streitschrift machen.

 

Carsten Frerk: Ist das nicht etwas vergleichbar mit dem „Gotteswahn" von Richard Dawkins? Er hat inhaltlich ja auch nicht viel Neues geschrieben, sondern bereits Bekanntes pointiert in einem lesbaren und provokanten Stil zusammengefasst.

Ja, so kann man das sehen. Aber die ganze Arbeit mit Zahlen, das war für mich ausgeschlossen. Also, das könnte ich nie. Da bin ich, ehrlich gesagt, viel zu faul dazu - oder ich habe einfach viel zu viele Sachen und Themen am Hals. Man kann nicht fünfzig Bücher schreiben und dann jedes mit Statistiken erarbeiten. Aber Ideen, die ein Thema vorwärts bringen, die habe ich schon. Manchmal ist es ein Anreißen - bis zur ‚Eintagsfliege', wie es mir die Bischöfe vorgeworfen haben. „Ach, Sie haben da so Themen, die sind so..." Ich kann so ein Buch über Reliquien schreiben oder ein Buch über Kinder von Päpsten. Das schreibe ich am Stück, weil ich darin lebe, da muss ich nicht aufwändig recherchieren.

Nachdem ich „Kirche und Geld" geschrieben hatte, merkte ich, es ist eine neue Generation herangewachsen, und die wissen nichts von dem, von dem ich dachte, das ist klar. Ich hatte 1974 ein Buch über Staat und Kirche geschrieben, „Ein unmoralisches Verhältnis", deswegen meinen Lehrstuhl verloren - wenn man will -, und habe gedacht, das ist jetzt gelaufen. Aber ich habe zwei Dinge nicht bedacht. Erstens war ich der Meinung, wenn ein Professor ein Buch schreibt, dass dann die Sache klar ist. Die Leute sagen, sehr wohl und wir ändern uns...

C.F.: (lacht)

Ja, aber das dachte ich damals - ich war 34, da darf man noch so denken, na ja, wenigstens in der damaligen Zeit. Und ich habe damals nicht daran gedacht, dass neue Lesergenerationen nachwachsen, für die vieles einfach neu ist und - zu unserem gemeinsamen Thema -, für „Die Kirche und das Geld" auch etwas bedeutet. Es sind damals viele Leute aus der Kirche ausgetreten, und auch aufgrund Ihres Buches, Herr Frerk, Ihrer beiden Bücher, sind viele Leute aus der Kirche ausgetreten, aber es wachsen immer wieder neue nach. Ich habe einmal in einer Podiumsdiskussion zu einem Bischof gesagt: „Also, das hefte ich mir an, diese Kirchenaustritte, wie einen Orden!"

Aber die entscheidende Frage ist immer noch nicht gelöst, wenigstens in meinem Leben nicht gelöst, dass man mit den Kirchenaustritten nicht so viel bewirken kann. Man muss die riesigen Subventionen an die Kirche abschaffen. Darüber brauchen wir beide uns aber nicht zu unterhalten.

 

Sie galten doch seinerzeit als ‚Hoffnungsträger' der katholischen Theologie?

Ja, sicher. Ich war 30 Jahre alt, als ich den Lehrstuhl erhielt. Das hat noch nicht einmal Ratzinger geschafft, der war immerhin 31. (lacht herzlich)

Hoffnungsträger? Das war mir so gar nicht aufgefallen. Aber ich habe einmal in Speyer einen Vortrag gehalten, ein evangelischer Bischof und ein katholischer Bischof waren da, die nannten mich einen „Lichtstrahl in der deutschen Kirche", einen Menschen, der da kommt und plötzlich eine ganz andere Sprache spricht. Hoffnung machten sich viele Jugendliche, ich selber habe es aber nie so aufgefasst. Küng damals mit seinem endlosen Gerede - ich habe ja bei ihm studiert -, aber es hat mich nicht so interessiert, weil ich meinte, die Unfehlbarkeit des Papstes sei so tragisch nicht - wir müssten die Axt an die Wurzel legen, und die Wurzel heißt nach wie vor: Geld. Und Privilegien. Und das Staat-Kirche Verhältnis.

 

Das war vier bis fünf Jahre nach Ihrer Berufung? War es für die Bischöfe überraschend, dass sie nicht ‚in Linie' dachten?

Nein, man hätte es wissen müssen, zumindest wissen können. Ich habe bereits vor meinem Lehrstuhl entsprechend veröffentlicht. Aber die haben wahrscheinlich gedacht, Kirchenrecht, da kann er nicht viel anfangen.

Aber dann kam ich hier an und war sofort befreundet mit dem damaligen geistigen Führer der Theologie, Karl Rahner, der hier auch an der Fakultät war, und wir konnten es gut miteinander, obwohl unsere Themen weit auseinander lagen. Rahner hat für meine Bücher Nachworte geschrieben, und, und, und. Dann dachte ich, jetzt musst du etwas Kirchenrechtliches machen.

Ich hatte schon Vorträge gehalten und war schon ‚überwacht' von KNA und solchen Leuten. Die hatten überall ihre Leute sitzen, hoppla. Dann habe einen Vorschlag gemacht, 1972. Es war ein ganz normaler sonniger Tag, ich saß auf einer Veranda und sagte zu meiner Mutter, die damals noch lebte: „Also, ich denke ich muss jetzt etwas schreiben, da ist mir etwas eingefallen." Dann schrieb ich einen Artikel mit drei Seiten über Mandatssteuer, als Alternative zur Kirchensteuer, das war mir einfach eingefallen. Es wurde veröffentlicht, Karl Rahner hatte es in der Jesuiten-Zeitschrift ‚Stimmen der Zeit' untergebracht, und dann ging es los: „Extremer Kirchenfeind!", „Der macht die Kirche in Deutschland kaputt!", das war 1972/1973.

Ich habe das damals nicht verstanden, das war doch gut gemeint. Ich wollte denen für den Tag X klar machen: Die Kirchensteuer wird früher oder später fallen...

 

Sie wissen, dass es ganz realistische Einschätzungen dazu gibt, dass der Bund in etwa zehn Jahren die Absetzbarkeit der Kirchensteuer streichen wird, wenn die Beamtenpensionen den Bundeshaushalt immer weiter belasten und zur Finanzierung alle Steuervergünstigungen gestrichen werden müssen?

Ja, sicher. Das geht auf die Dauer nicht gut und das weiß die Kirche auch. Kardinal Meisner hat mir einmal gesagt, das Schlimmste für eine Kirche sei, wenn sie wie in Deutschland unter einer goldenen Kruste leben würde. Das ist erstaunlich, denn die goldene Kruste könnte man ja leicht wegbekommen, aber das ist eine andere Geschichte. Aber sie merken, so geht es nicht weiter.

 

Die Kirchen werden heute sehr stark dadurch betroffen, dass die Zahl der jungen Mitglieder so rapide absinkt, dass die Zukunftsaussichten der Mitgliederentwicklung sehr düster aussieht. Ich habe das jetzt für Stuttgart, Wiesbaden und Frankfurt gesehen und - man kann es nicht anders sagen -, es ist gnadenlos.

Ich habe das dieser Tage auch zitiert - hpd und fowid zitiere ich häufig -, ja, es bricht so weg. Es war damals bereits zu erkennen.

Ich habe dann auch weiter geschrieben, etwas Handfestes zu Staat und Kirche, und es entstand das Buch: „Ein unmoralisches Verhältnis". Das traf ...

 

Punktgenau!

Da war nicht nur Kirchensteuer drin behandelt, es ging um viele Dinge des Verhältnisses von Staat und Kirche. Wenn ich das heute lese, dann weiß ich, es trifft noch immer ins Schwarze, denn es hat sich bis heute nichts geändert. Der Status ist noch genauso wie damals - nur, sie werden es nicht aufrechterhalten können. Das bricht zusammen. Aber ich sage immer: Hirten und Herde sind mit Blindheit geschlagen, sie merken es nicht.

Auf jeden Fall, das Buch kam, es gab Ärger: Die Bischofskonferenz hat sich bemüht, Kardinal Döpfner hat mich zum Gehorsam aufgefordert, und das passte mir alles nicht. Ich sollte widerrufen. Das habe ich nicht gemacht. Ich habe bis heute keinen Satz von all dem, was ich geschrieben habe, widerrufen. Obwohl es keine Schande ist, wenn man sich bisweilen neu besinnt.

 

Dieses Buch brachte also das „Fass zum Überlaufen"?

Ja, und es kam das Angebot:„Sie retten Ihre Lehrtätigkeit, wenn Sie widerrufen oder in 14 Tagen sind Sie raus aus der Uni." Nur war ich ja der einzige von all denen, der wusste, was möglich ist - Ich war der Staatskirchenrechtler. Es passierten lustige Sachen. Zu der Zeit war ich auch Dekan der Fakultät und bekam dann Briefe des Bischofs an den Dekan Herrmann, Betreff: Vorgehen gegen Professor Herrmann. Solche Sachen gab es.

Ich konnte eigentlich ganz gut mit dem Bischof, denn der hatte mich nach Münster geholt und der zweite, der mich geholt hatte, war der damalige Dekan der Theologischen Fakultät, der heutige Walter Kardinal Kasper. Die waren völlig entsetzt, als die Sache dann bekannt wurde. Ich war begrüßt worden als die künftige konservative Spitze der Fakultät. Das war mir ganz klar. Ein Kirchenrechtler war das konservativste, was man haben konnte. Und dann kam da einer, der genau das Gegenteil machte.

 

Hat man nicht versucht, Sie umgehend vor die Tür zu setzen?

Ich habe nicht widerrufen und dann fragte mich der Bischof: „Wen kann ich eigentlich fragen, wie man gegen Sie vorgeht?" Ich sagte: „Es gibt eigentlich nur einen, mich!" „Ja, können Sie denn da trennen?" „Hundertprozentig! Ich rede hier nicht pro domo, ich versuche nicht, mich zu retten." Er sagte, das könne er nicht glauben und hat es dann glauben müssen, denn ich habe noch sechs Jahre in der Fakultät gesessen, ohne Einschränkungen, hatte Promotionen, Habilitationen, habe Wunder was gemacht, niemand konnte mich raus setzen.

Ich bin dann immer nach Düsseldorf gefahren, drei Wissenschaftsminister habe ich erlebt und sie fragten immer: „Was macht man mit Ihnen, wenn Sie nicht freiwillig gehen?" Es gab keine Handhabe, mich vom Lehrstuhl zu entfernen.

Johannes Rau und seine Leute, also Sozialdemokraten, haben später sogar das preußische Konkordat mit einem Zusatz ‚nachgebessert' und insofern verändert, dass Professoren bei Beanstandungen die Fakultät verlassen müssen.

 

Wenn heute jemand die Missio verliert, muss er die Theologische Fakultät verlassen?

Ja; aber damals galt es natürlich nicht rückwirkend. Die „Lex Herrmann" traf erst alle nach mir.

 

Wann gab es für Sie dann einen ‚Wendepunkt'?

1981 habe ich gesagt: Jetzt habe ich genug, ich hänge da nur rum bei den Theologen, ich muss etwas anderes anfangen. Ich bin dann nach Düsseldorf gefahren und der Wissenschaftsminister fragte: „Was schlagen Sie uns vor? Sie können überall hin, wohin Sie wollen. zu den Juristen, den Historikern..." Und ich sagte: „Ich will etwas Neues machen, ich gehe zu den Soziologen." Worauf er fragte: „Da gehen Sie freiwillig hin?" Damals war das Institut nicht nur „links", sondern marxistisch-leninistisch. Dort wurde ich aber mit offenen Armen aufgenommen.

Es war mir klar: In der Soziologie bin ich ein Seiteneinsteiger - der einzige Ordinarius für Soziologie, damit kokettiere ich immer etwas, der keine einzige Stunde Soziologie studiert hatte -, ich hätte ebenso Astrophysik machen können.

Dieser Seiteneinstieg war jedoch, das hatte ich bald bemerkt, die Chance schlechthin: Ich bin an keine ‚Schule' gebunden, ich brauche nicht zu Adorno zu fahren, nach Frankfurt oder nach Berlin, Luhmann ist mir völlig egal, und die hiesigen Soziologen waren mir zwar bald gute Freunde, aber wissenschaftstheoretisch auch egal. Ich konnte also tun und lassen, was ich wollte.

 

Sie hätten also die Soziologie gleichsam neu erfinden können?

Ja, sozusagen. Ich konnte Themen wählen, die mir wichtig und sinnvoll erschienen. In den fünfundzwanzig Jahren, die ich als Soziologe in Forschung und Lehre arbeitete, habe ich Themen nach meinem Gusto gewählt und hatte, was man nachprüfen kann, stets ‚volle Häuser'. Zum Beispiel „Soziologie der Märchen", wenn liebende Prinzessinnen Frösche küssen, „Soziologie des Kriminalromans", „Soziologie des Essens und Trinkens", und, und , und.

Mit der Zeit habe ich dann vier verschiedene Fachgebiete entwickelt, habe ein Wort dafür gefunden und in aller Stille vor mich hin studiert, geforscht und nie in einer soziologischen Fachzeitschrift etwas veröffentlicht. Ich dachte immer, das ist viel zu früh.

Ich habe so das Patriarchat wissenschaftlich aufgearbeitet, als „Paternologie", und mein bestes Buch ist: „Vaterliebe. Ich will ja nur dein Bestes." Für mich das zentrale Buch über Patriarchat, Vaterliebe, patriarchalische Religion. Dann gab es noch: „Die Angst der Männer vor den Frauen", inzwischen heißt es: „Begehren, was man verachtet". Ich bekomme Zuschriften von Feministinnen, die schreiben, endlich ein Feminist, und zwar ein Mann, der es mit jedem anderen Feminismus aufnehmen kann. Das war das eine.

Dann habe ich mir gesagt, ich muss etwas tun für Kinder. Da ist das Stichwort „Infantismus" aufgetaucht, ebenso wichtig, denn wer setzt sich schon wissenschaftlich für Kinder ein. Es gibt zwar Tierschutzverbände, die viel mehr Mitglieder haben, als die Kinderschutzverbände, aber es gibt eigentlich keine wirkliche wissenschaftliche Durchdringung dessen, was es bedeutet, Kind zu sein in einer patriarchalischen Gesellschaft.

Beim Nachdenken über Gemeinschaften und über die Ehe, kam ich darauf, dass es vor der Ehe auch noch etwas gibt: Partnerschaften. „Synontologie", die Lehre von der Partnerschaft habe ich es dann genannt und darüber gearbeitet und geschrieben. Dann fiel mir auf, dass noch etwas fehlt, was nicht bearbeitet wird, nämlich die Folter. Aus dem Zusammenhang der Arbeit zu „Sex und Folter in der Kirche" erhielt ich so viele Anfragen, dass ich mich da hinein vertiefte und über Foltermentalitäten, Foltermethoden, etc. gearbeitet habe. Das Buch, was daraus entstand, wurde immer dicker, und hatte schließlich, als „Lexikon der Folter", 440 Stichwörter.

Unwissenschaftlich habe ich dann Krimis geschrieben, über den Vatikan und so, durchaus mit Anerkennung. Vom Zeit magazin habe ich einmal einen Preis bekommen für die beste kriminalistische Kurzgeschichte. Über das Pseudonym Peter Simon habe ich mich allerdings geärgert, das wollte der Verlag so. Ich wollte Ernesto Porta.

 

Es geht das Gerücht, ihr frühester Berufswunsch sei Kardinal gewesen.

Das ist kein Gerücht. Das teile ich wieder mit dem bereits erwähnten Joseph Ratzinger. Ich fand das immer schön, nur wollte Ratzinger noch Anstreicher werden, das war seine Alternative, die hatte ich nie. Ich wollte immer nur Kardinal werden. Während des ganzen Gymnasiums hieß ich „Cardi". Darauf lege ich immer Wert: Ich wäre das heute, Kardinal. Damals war ich zwei Jahre in Rom und da gab es genügend Leute, die mich befördert hätten.

 

Und, sie hatten kein Problem mit „Männern in Frauenkleidern"?

Nun, das hat mich weniger fasziniert. Wir waren damals auch bei diesen entsprechenden Schneidereien und bei mir im Arbeitszimmer hängt so ein Hut - den habe ich dort, symbolisch und wortwörtlich, an einen Nagel gehängt. (Der Hut wird geholt und Horst Herrmann schaut ins rote Innenfutter) Den habe ich unter Johannes XXIII dort gekauft. (Er setzt ihn auf...)

 

Der steht ihnen aber vorzüglich.

Das will ich hoffen!

 

Eine symbolische Kopfbedeckung.

Ja, die haben schon Geschmack. Wer mit Medien umgeht und wer bunte Bilder will, der muss katholisch werden. Also, dieses Wittenberg und dieses Konfessionslose, das ist optisch nichts. Sie müssen schön sein für die Medien. Also, mit dem Hut auf, sieht man sofort, wer von uns hier katholisch ist.

 

Katholizismus ist eine Religion des Auges und der Sinne, Evangelisch ist eine Religion des Ohres und des Verstandes. ... Was hat Sie als Kind an dieser Religion fasziniert?

Es gab keine Alternative für mich. Ich war zwölf Jahre im Internat und Messdiener, das wurde gefördert und läuft von ganz alleine. Das war damals auch noch eine ganz andere Situation. Die 68er habe ich zum Beispiel völlig ‚verschlafen', da war ich damals in Rom, mit einem geschlossenen Weltbild. Und ich bin bekanntermaßen ein ‚Spätentwickler'.

 

(Lachen)

Beruflich war ich zwar immer schnell dran, das lief ganz glatt, aber wenn viele Menschen in der Pubertät sexuell und intellektuell ‚aufwachen', ich war das nicht. Ich habe die größten Nachdenklichkeiten in meinen Vorlesungen erzeugen können, wenn ich berichtete, dass ich den ersten Kuss meines Lebens mit zweiunddreißig bekommen habe. Durch die Reihen ging dann ein „Oooooh!" Und jetzt kommt es noch schlimmer: Es fehlte mir nichts. Wenn ich so ein ‚hechelnder Typ' gewesen wäre, das wäre anders gewesen, aber ich bin erzogen worden, wie viele andere auch, mit dem Stichwort: „Schlagt sie nieder! Die Augen." Wir lebten in einer Bewahrpädagogik und mir fehlte nichts. Ich war mit Sicherheit stets der Frömmste, den es gab. Ich betone auch immer wieder, wegen des Zölibats hätte ich meinen Beruf nicht aufgegeben.

 

Ein Mönch hat mir einmal erklärt, von den drei Gelübden - Armut, Keuschheit und Gehorsam - sei für einen wachen Geist der Gehorsam im Alltag das Schwierigste.

Das ist vermutlich richtig, aber Gehorsam gab es für mich nie. Ich konnte in meinem ganzen Leben keine Autorität anerkennen, meine eigene eingeschlossen. Mein Doktorvater in Bonn hat mich während der Promotionszeit einmal zur Seite genommen und gesagt: „Einige meiner Kollegen beschweren sich darüber, dass Sie sie wie Gleichrangige behandeln - Sie sind aber ein Doktorand!" Man musste damals sagen: „Herr Professor!" und so. Bis heute bin ich ... autoritätsunfähig.

Theologie und Kirche sind aber ein in sich geschlossenes System. Und das ist ein bewundernswertes System - solange man drin ist. Dann klappt alles. Ich könnte Ihnen jetzt auf Anhieb eine Predigt halten, über ein x-beliebiges Thema, da geht alles auf. Aber man muss eben drin sein. Und das ist in sich auch schlüssig, und das denken die Theologen ja auch, dass sie ein schlüssiges System haben und wer sie angreift, der muss irgendwie ‚doof' sein. Das kann ich nachvollziehen, das läuft in sich. Und wenn der Papst etwas redet, dann kann man das bestätigen und der nebenan sagt es auch, und so weiter. Und der liebe Gott hält die Hand drüber, das ist eh klar, und der Staat zahlt das Ganze, und das ist auch klar. Da gibt es keine Schwierigkeiten.

Aber wenn man einen Schritt aus diesem System hinaus geht und die Begründungszusammenhänge verlässt, dann stellt man plötzlich fest - mir fehlt jetzt das Bild für dieses Überraschungsereignis -, da stimmt gar nichts mehr. Wo Sie auch anfangen, es geht daneben. In der Exegese, in der Historie,... Nirgendwo stimmt es, nur den Ritus, den können sie. Deshalb konnte ich es auch verlassen und mich anderen Fragen zuwenden.

 

Sie haben länger als Soziologe gearbeitet als in der Theologie.

Ja.

 

Und dennoch gelten Sie als einer der beständigsten, qualifiziertesten und vielseitigsten Kirchenkritiker.

Ja, das ist merkwürdig. Ich habe es nicht geschafft, als Soziologe irgendwo Fuß zu fassen.

 

Sind es vielleicht die fehlenden ‚Seilschaften'?

Ich habe in keiner der anerkannten Fachzeitschriften der Soziologie auch nur einen Satz geschrieben. Ich schreibe jetzt eher soziologische Essays für medizinische Fachzeitschriften. Neuerdings werde ich auf Kongressen der Reproduktionsmediziner herumgereicht. Ich halte Vorträge über Mann und Frau, Kindheit heute und morgen, etc. das ist für die Leute neu. Ich versuche das Thema zu vertiefen, dass es nicht nur sinnvoll ist, Paaren zu Kindern zu verhelfen, sondern wie wichtig es ist, eine kinderfreundliche Umwelt zu schaffen. Das heißt, dort behandele ich infantistische oder auch paternologische Themen. Was ich dazu geschrieben habe, das wird wahrscheinlich erst posthum anerkannt werden: „Da gab es doch schon einmal jemanden..."

Kirchenkritiker zu sein war für mich immer nur ein Bereich. Ich möchte auch nicht vorrangig als Kirchenkritiker gesehen und erinnert werden. Zum Beispiel die Frage ob es Messdienerinnen geben dürfe oder diese ganzen Zölibatsdebatten (Herrmann schüttelt sich, als müsse er sich davon befreien) ich kann's nicht mehr hören. Diese ganzen innerkatholischen Auseinandersetzungen gibt es auch, wem sage ich das, bei Konfessionslosen, die etwas Kirchliches abarbeiten... Wir haben doch so viele Themen, die noch nicht bearbeitet sind. Wir sind doch auch so reich angelegt, dass wir nicht nur zu einem Thema etwas schreiben können. Zu meinem Leidwesen waren die Verlage immer langsamer als ich schreiben könnte. Ich konnte gar nicht alles unterbringen, was ich geschrieben habe. So liegen komplette fünf Bücher von mir unveröffentlicht im Safe. Zum Beispiel ein mehrfach durchgearbeitetes Manuskript über Thomas Münzer, das zurzeit nicht unterzubringen ist. Vielleicht, wenn ich achtzig oder neunzig bin. Oder „Zu sechst bin ich stark", zum Rudelverhalten der Männer.

Es hat einmal jemand zu mir gesagt, ich sei ein Füllhorn. Das mag sein, aber es ist auch gleichzeitig ein riesiger Nachteil, weil manche sagen, der ist wie Billy the Kid, der schießt aus der Hüfte, das ist alles oberflächlich. Das trifft mich schon, wenn meine Arbeit nicht anerkannt wird. Und wie oft müsste ich es zurückgeben. Diese vielen theologischen Bücher, die aus Unsinn Tiefsinn schürfen wollen und flach bleiben.

 

Wenn es eine Situation geben würde, dass sie von den vielen Büchern, die Sie geschrieben haben, nur ein einziges benennen können, das für Sie wichtigste Buch, das für Ihre Arbeit steht - welches Buch wäre das?

Jetzt habe ich mich an ein Buch über den Agnostizismus gewagt. Merkwürdig, wie viele Menschen sich mir gegenüber als Agnostiker outen. Doch ein Buch zum Thema gab es bisher nicht. Mein Agnostizismus-Buch liegt mir sehr am Herzen.

Ich habe auch bei Goldmann eine Taschenbuchreihe herausgegeben, „Querdenken" mit etwa zwanzig verschiedenen Büchern, die sich zum Teil noch heute verkaufen. Da gab es Titel von Drewermann, Deschner, Regine Hildebrandt, Achternbusch und anderen, die quer dachten.

Doch mein Taschenbuch „Vaterliebe", das bislang am tiefsten schürfende und innovativste Buch, ist mein Lieblingsbuch schlechthin. Da gibt es Themen, die bisher noch nicht aufgegriffen sind. Feuerbach hat seinerzeit gesagt, dass der Mensch sich Gott nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Das ist für das 19. Jahrhundert auch richtig, aber heute müssten wir formulieren, dass der Mann sich einen Gott erschaffen hat. Frauen haben bisher noch kein Gottesbild ersonnen. So wie wir es heute haben, hat es ausschließlich der Mann-Mensch erschaffen. Das ist eine kleine Sache, aber eine entscheidende. Deshalb sieht dieser Gott bis in die Details hinein so aus wie seine Väter.

 

Der eifersüchtige Gott...

Ja, das auch, und alles, was ihn als Mann charakterisiert.

 

Und die Jesusbilder als ‚Latin Lover'?

Wenn die Frauen das selber entwickelt hätten - da wäre mehr gelaufen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
...

 

 

Fotografien: Evelin Frerk