MEDIEN. (hpd) Seit einigen Wochen bereist die österreichische Buchautorin Maria Blumencron (*1965) die Lande, um auf groß angelegter Lesetour ihr im Frühjahr 2008 bei Dumont erschienenes Werk „Auf Wiedersehen, Tibet" vorzustellen. Sie berichtet darin von ihren Erlebnissen als Fluchthelferin in Tibet. Wer sich die Details ansieht, gewinnt schnell den Eindruck, dass da etwas nicht stimmen kann.
Seit Ende der 1990er, so Blumencron, habe sie in abenteuerlichen Unterfangen tibetischen Kindern zur „Flucht in die Freiheit" verholfen. Schon im Jahre 2000 hatte sie unter dem Titel „Flucht über den Himalaya" einen selbstgedrehten Dokumentarfilm dazu vorgestellt, dem sie 2003 ein Buch gleichen Titels, verlegt bei Piper, samt Hörbuchfassung bei Steinbach, nachschob. Ihre aktuelle Dumont-Publikation ist gewissermaßen die Fortsetzung des seinerzeit zum Bestseller avancierten Piper-Bandes.
Blumencron, die gelegentlich mit Adelsprädikat als „Maria von Blumencron" auftritt, ist gelernte Schauspielerin. Außer ein paar Nebenrollen in unbedeutenden Theaterproduktionen und TV-Vorabendserien (z.B. „Kurklinik Rosenau" oder „Kommissar Rex") stand indes bis vor zehn Jahren nicht viel zu Buche.
Aufgerüttelt, wie sie schreibt, von einem Fernsehbeitrag über zwei angeblich auf der Flucht zu Tode gekommene tibetische Kinder, habe sie spontan beschlossen, sich selbst als „Flüchtlingshelferin" zu engagieren beziehungsweise als „Dokumentarfilmerin" die Welt auf die „Missstände im besetzten Tibet" aufmerksam zu machen.
Ohne ernstzunehmende eigene Kenntnisse von den politischen und sozialen Zusammenhängen in Tibet - Blumencron bezieht sich bis heute im Wesentlichen auf die Propagandaklischees und -behauptungen des Dalai Lama und seiner Verlautbarungsorgane -, ohne Kenntnis der tibetischen Sprache und vor allem: ohne die mindeste journalistische oder filmemacherische Ausbildung oder Erfahrung, gelang es ihr mit Hilfe eines befreundeten Redakteurs und einer Handvoll zu einem „Exposé" zusammengebastelter Urlaubsphotos aus Lhadak, einen Auftrag des ZDF an Land zu ziehen: die filmische Dokumentation der Flucht tibetischer Kinder über den Himalaya.
Im Frühjahr 2000 flog sie auf Kosten des ZDF nach Kathmandu, wo sie, eigenen Angaben zufolge, im Touristenviertel der Stadt per Zufall auf zwei Tibeter stieß, die sich als professionelle Fluchthelfer auswiesen und ihr erzählten, ein weiterer Guide sei eben nach Tibet unterwegs, einen Trupp Flüchtlingskinder über die Grenze nach Nepal zu holen. Mit Hilfe eines eigens eingeflogenen Kameramannes habe sie die Flucht dieser Kinder in Bild und Ton festgehalten. Der Film wurde Ende des Jahres auf 37° ausgestrahlt. Kurze Zeit später erhielt Blumencron dafür den „Axel-Springer-Preis für junge Journalisten", gefolgt von einer Unzahl weiterer Preise und Ehrungen. (Als mehrfach preisgekrönte „Dokumentarfilmerin" durfte sie für den Bayerischen Rundfunk gar einen offiziellen Film über den Besuch Papst Benedikts in Altötting drehen.)
Laut Klapppentext ihres drei Jahre später erschienenen Buches zum Film kämpften sich „rund tausend tibetische Kinder jedes Jahr über die eisigen Pässe des Himalaya. Ihr Ziel: die Schulen des Dalai Lama in Nordindien. Dort, so hoffen ihre Eltern, erwartet sie eine bessere, freie Zukunft. Für viele der kleinen Flüchtlinge ist es ein Abschied für immer." Blumencron habe „sechs Kinder auf ihrer Flucht begleitet", deren Geschichte stellvertretend stehe für die „Geschichte tausender tibetischer Kinder": „Schlecht ausgerüstet, mit Turnschuhen und gerade soviel Proviant, wie sie tragen können, ziehen sie (...) über einen fast sechstausend Meter hohen Pass im Himalaya. Die Kinder können manchmal kaum weiter, kämpfen mit dem Schnee, mit Hunger und Erschöpfung und weinen vor Heimweh (...). Immer wieder bleiben Kinder im ewigen Eis zurück, gestorben an Erschöpfung und Kälte."
Tatsache ist: Blumencron hat kein einziges Kind auf einer „Flucht über den Himalaya" begleitet, vielmehr erzählt sie frei erfundene Geschichten von sechs Kindern aus den entlegensten Teilen Tibets, die von ihren Eltern fortgeschickt worden seien, um sich zum Sitz des Dalai Lama im nordindischen Dharamsala durchzuschlagen. Zu Fuß, quer über vereiste Hochgebirgspässe und über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern.
Blumencron erzählt - ohne dabei gewesen zu sein
In ihrem Buch räumt Blumencron ein, dass sie die Kinder erst nach dem Überschreiten eines Grenzpasses auf nepalischer Seite getroffen habe. Den vorhergehenden „Fluchtweg" bis zu diesem Pass hat sie jedenfalls nicht selbst miterlebt, gleichwohl tut sie so, als sei sie die ganze Zeit über dabei gewesen. Eingebunden in herzzerreißende Geschichten, vor allem über den schmerzvollen Abschied der Kinder von ihren Familien, aber auch über die Torturen des wochenlangen Fluchtweges selbst, sind die szeneüblichen Klischees brutalster Unterdrückung des tibetischen Volkes durch die chinesischen Militärmachthaber, die die verzweifelten Eltern erst dazu zwinge, ihre Kinder, die sie womöglich nie wiedersehen würden, ins ungewisse Exil wegzuschicken. Diese Geschichten, um es zu wiederholen, sind frei daherfabuliert.
Vermutlich hat es noch nicht einmal die beschriebene Begegnung Blumencrons mit den sechs Kindern auf dem Grenzpass gegeben. Vielmehr steht anzunehmen, dass auch diese Geschichte erfunden ist, so wie die Geschichten des Blumencron- Kollegen und Pro-Tibet-Aktivisten Dieter Glogowski, der schon seit Jahren mit Lichtbildervorträgen über tibetische Flüchtlingstrecks unterwegs ist und dem Anfang 2008 durch das ARD-Kulturmagazin Titel, Thesen, Temperamente, nachgewiesen wurde, dass eine Photodokumentation über die dramatische Flucht zweier Kinder, die er seiner Multivisionsschau „Tibet: Flucht vom Dach der Welt" und einem gleichnamigen Bildband zugrundegelegt hatte, inszeniert war.
„Seit mehr als 25 Jahren", so das prinzipiell pro-tibetisch eingestellte Magazin, „fesselt Glogowski sein Publikum mit seinen packenden Dia-Shows, Büchern und Filmen voller Tibet-Exotik. Er gilt in der Szene als einer der renommiertesten Referenten. Seine Shows sind fast immer ausgebucht. Auch die rührende Fluchtgeschichte vom 'Dach der Welt' verkauft sich gut - nicht nur in den Medien." Im Vorwort des Buches weist der Bucher-Verlag darauf hin, dass Details, Ereignisse und Namen der Geschichte bewusst verschleiert wurden, um die betroffenen Tibeter nicht zu gefährden.
Dass es sich aber um eine komplette Inszenierung handelte, wird nicht erwähnt. Glogowski rechtfertigte sich nach der Ausstrahlung des TTT-Beitrages mit der Behauptung, es sei „das geschilderte Flüchtlingsschicksal beispielhaft - beispielhaft für Tausende solcher Schicksale". Es gehe ihm „um die Gesamtproblematik, nicht um den Einzelfall". Vorsorglich weist auch Blumencron darauf hin, dass sie „einige Namen, Orte und Zeiträume zum Schutz der in Tibet lebenden Menschen verändert" habe. Im Übrigen habe sie sich die „literarische Freiheit genommen, sehr komplexe und langwierige Ereignisse lesbar zu gestalten".
Allenfalls mag Blumencron im Solu-Khumbu-Gebiet beziehungsweise im Sagarmatha-Nationalpark im grenznahen Nordostnepal unterwegs gewesen sein, um ihren Geschichten Lokalkolorit und damit den Anschein des Authentischen verleihen zu können; vielleicht war sie sogar auf dem beschriebenen Nangpala-Pass, den zu begehen allerdings weder hochalpine Fähigkeiten erfordert noch eine besondere Gefahr für Leib und Leben bedeutet, wie sie suggeriert - es handelt sich um einen seit zig Generationen von Grenznomaden genutzten und entsprechend ausgetretenen Karawanenpfad -, wie überhaupt die Solu-Khumbu-Region mit dem Mount Everest und besagtem Nangpala-Pass zu den touristisch am besten erschlossenen Wander- und Trekkinggebieten des gesamten Himalayaraumes zählt: Man kann sich bequem von Kathmandu aus mit dem Kleinflugzeug nach Lukla hinauffliegen lassen. Den Namen der Passhöhe, die sie heroisch erklommen habe, will sie nicht nennen, sie solle „nicht in aller Munde" sein. Ein kurzer Blick auf eine Karte Ostnepals zeigt, dass es im Grenzgebiet des Solu-Khumbu nur den Karawanenpass des Nangpala gibt.
Ein Blick auf die Landkarte entlarvt Blumencron
Blumencrons Flüchtlingsgeschichten jedenfalls erscheinen alles andere als glaubwürdig: Tatsache ist, dass jeder Tibeter und jede Tibeterin jederzeit und ohne Weiteres einen Reisepass der chinesischen Behörden für eine Reise ins Ausland erhalten kann. Es ist ein Leichtes, mit dem Bus etwa von Lhasa nach Kathmandu und von dort aus weiter nach Dharamsala in Nordindien oder sonstwohin zu fahren. Wer, aus welchem Grunde immer, Tibet verlassen will, ist keineswegs auf heimliche Flucht angewiesen.
Selbst einer der ranghöchsten Repräsentanten des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, gibt zu, dass Tibeter problemlos von Tibet aus- und nach Tibet einreisen könnten: „Seit 1979 können die Exil-Tibeter ihre Verwandten in Tibet besuchen und umgekehrt. Im Laufe der letzten Jahre waren viele Exil-Tibeter zu Besuch in Tibet und viele Tausende von Tibetern aus Tibet sind zu Pilgerreisen nach Indien gekommen." Allein zu einer öffentlichen Ritualveranstaltung des Dalai Lama Anfang 2006, so die Lobbyorganisation International Campaign for Tibet, seien 7.000 Pilger aus Tibet nach Nordindien gekommen. In einem offenbar unbedachten Schlussabsatz ihres Buches räumt selbst Blumencron die Pilgerströme ein, die ihre Geschichten heimlicher Fluchtnotwendigkeit letztlich als Farce entlarven: Zum Neujahrsfest Losar kämen alljährlich „besonders viele Tibeter über die Berge. Nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Pilger, die sich vom Dalai Lama für das Neue Jahr segnen lassen wollen."
Tibetische Eltern, die ihr Kind in eine buddhistische Klosterschule außer Landes geben wollen, können dies völlig problemlos tun. Wer zum Dalai Lama nach Dharamsala will, wählt selbstredend den kürzesten Weg über einen der Grenzübergänge in Westtibet direkt in den benachbarten indischen Bundesstaat Himachal Pradesh, wo dieser, 250 Kilometer Luftlinie von der Grenze entfernt, seinen Exilsitz unterhält. Es würde keinerlei Sinn machen, von West- oder Nordtibet aus 2000 Kilometer und mehr in südöstlicher Richtung nach Lhasa zu reisen, um von dort in riesigem Bogen über Kathmandu und Neu-Delhi 4.000 Kilometer zurück in das westlich an Westtibet angrenzende Himachal Pradesh zu gelangen.
Ebensolchen Unsinn aber - man schaue sich das mal auf einem Atlas an - sucht Blumencron ihrem Publikum weiszumachen: Zwei ihrer angeblichen Flüchtlingskinder, ein sechs- und ein zehnjähriges Mädchen seien von ihren Eltern aus Westtibet - genauere Angaben gibt es nicht - nach Lhasa und von dort über besagten Nangpala-Pass nach Kathmandu „geflohen", bis sie letztlich via Neu- Delhi nach Dharamsala zu ihrem „Gottkönig" gekommen seien: 6.000 Kilometer, ohne Geld, ohne Proviant und in billigen chinesischen Turnschuhen. Tausend Kinder, so Blumencron, kämen pro Jahr auf diese Weise nach Dharamsala, hinzu kämen zumindest tausend erwachsene Flüchtlinge, Mönche und Nonnen vor allem, die der gnadenlosen Unterdrückung in ihrer Heimat zu entfliehen suchten.
Da ein Überqueren der Himalayapässe nur in den Wintermonaten möglich ist - im Frühjahr und Sommer taut der Schnee tagsüber zu unpassierbarem Matsch auf -, müssten, wären die vielkolportierten Geschichten Blumencrons und Glogowskis wahr, täglich mehrere Flüchtlingstrecks auf heimlichem Pfade Tibet verlassen. Alle über den Nangpala, und alle unentdeckt von den chinesischen Grenzbehörden.
In ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Auf Wiedersehen, Tibet" schiebt Blumencron den Geschichten aus ihrem Bestseller von 2003 in wirren Zeit- und Ortssprüngen die Geschichte einer weiteren „Fluchthilfe" vorneweg, die sie bereits vor ihrer Reise nach Kathmandu unternommen habe und bei der sie tatsächlich auch in Tibet gewesen sei. Sie sei, zusammen mit ihrem seinerzeitigen Guide und einer achtköpfigen Kindergruppe von chinesischer Geheimpolizei verhaftet worden. Während man sie nur zwei Tage lang streng verhört und letztlich, da man nichts aus ihr herausbekam, freigelassen habe, sei ihr tibetischer Fluchthelfer, ein Mann namens Kelsang, auf grausamste Weise gefoltert worden: „Sie treten ihn mit ihren Stiefeln, sie drücken ihre glühenden Zigaretten in seinen Handflächen aus."
Wieder tut Blumencron so, als sei sie persönlich dabei gewesen: „Das Schlimmste ist: sie sind Tibeter. An der Brutalität ihrer Schläge kann Kelsang ermessen, wie weit sie dem Dalai Lama abgeschworen und ihre Seelen den Ideologien der chinesischen Regierung verschrieben haben. Es gibt Folterknechte, die ihm aus Überzeugung in die Nieren treten, und jene, die es bloß tun, um ihre Familie zu ernähren. (...) Er spürt die Anspannung in seinem Körper. Gleich treten sie wieder, gleich schlagen sie ihn mit ihren eisernen Ketten, gleich schütten sie eiskaltes Wasser auf ihn. (...) Mit einem Kopfschuss richtet China seine Delinquenten hin. Das Geld für die Patrone wird von den Verwandten kassiert."
Im Jahre 2007 gründete Blumencron unter dem Signet „Shelter108 e.V." einen eigenen Spendensammelverein, auf dessen Internetseite sie mitteilt: „Da meine Bücher und Filme stets eine große Welle von Hilfsbereitschaft entfachen, war es höchste Zeit, einen Verein zu gründen, um Einsatz und Spenden professionell zu bündeln und an die richtigen Orte zu den richtigen Menschen zu bringen." Es scheint von Hause aus um nichts anderes gegangen zu sein, als in großem Maßstab an Spendengelder heranzukommen.
Colin Goldner
Die Lesetour Herbst/Winter 2008, die Maria Blumencron bereits an zahlreiche Orte quer durch den deutschsprachigen Raum führte, wird noch Station machen: am 26.11. Linz / 27.11. Grieskirchen / 28.11. Finkenberg / 30.11. Wien / 1.12. Titisee-Neustadt / 2.12. Bern / 3.12. Stralsund / 4.12. Greifswald.