Der schwache Humanismus eines starken Malers

Über den aktuellen Bezug von Milos Formans neuem Historiendrama „Goyas Geister" zu Phänomenen wie dem heutigen „Kampf der Kulturen", dem erstarkenden religiösen Fanatismus

, dem Karikaturenstreit bis hin zu Guantanamo war viel zu lesen. Besonders zwei Stichworte, die dabei oft fielen, hört man gerne: Aufklärung und Humanismus. Doch Formans Gemälde des ausgehenden 18.Jahhunderts in Spanien, ist einer der düstersten Kommentare des zeitgenössischen Kinos zu diesem Thema.

 

Madrid, 1792. Die noch mächtige katholische Kirche spürt die Bedrohung, die von den in Europa aufkeimenden Ideen der Aufklärung und des Liberalismus ausgeht. Auch der erfolgreiche Hofmaler Francisco José de Goya y Lucientes, bekannt als Francisco Goya, ist mit seinen verstörenden Skizzen und Druckgrafiken in ihr Visier geraten: Er verspotte die Geistlichkeit, heißt es, zeige „teuflischen Schmutz". Doch Goya ist nicht nur ein Protegé des Königshauses, sondern auch des finsteren und glaubensstrengen Pater Lorenzo. Der charismatische Kleriker mit einer erstaunlichen Affinität zu Kunst und Malerei vermag es, den hochgradig gefährdeten Maler zu schützen. Und sein Plädoyer ist radikaler, raffinierter und verheerender, als es das für die Verfolgung einzelner „Querulanten" wie Goya, jemals sein könnte: Goya, der begnadete Künstler, bilde nur die Welt ab so wie sie sei - bestraft werden müsse dafür nicht er, sondern die von ihm gezeigte Welt mit all ihrer Gottlosigkeit. Lorenzo regt eine Wiederaufnahme der, wie er sie nennt, „gottesfürchtigen Methoden der Vergangenheit" an. Die Inquisition wird noch einmal ihr schreckliches Haupt erheben und die bereits abgeschafften Verhörmethoden wieder aufleben lassen. In der fiktiven Dreiecksgeschichte, die auf den erwähnten Prolog folgt, richten Forman und Co-Autor Carriere den Blick auf einen ihrer schuldigsten Macher und eines ihrer unschuldigsten Opfer.

Vorab: „Goyas Geister" stellt keineswegs - wie der Titel irrtümlich vermuten lässt - das Leben des großen spanischen Malers in den Mittelpunkt, ein sog. „biopic", ein „Amadeus" der bildenden Künste ist dieser Film nicht, aber auch kein properer Historienfilm, der seine Protagonisten und deren Story zugunsten der (gerne beim Lob von Geschichtsdramen beschworenen) „Bildgewalt", „Opulenz" und „eindrucksvollen Fotografie" vernachlässigt. Auch wenn, wie in jedem historischen Drehbuch, Ansätze zu spüren sind, die geschichtliche Epoche mit all ihrer schicksalhaften Macht und visuellen Romantik zum eigentlichen Star und zur eigentlichen Hauptfigur werden zu lassen, bleibt neben apokalyptischen Folterkammern, pittoresken napoleonischen Truppen und schmuddeligen öffentlichen Hinrichtungen noch genügend Raum für die eigentliche Handlung.

Die Schergen des machtorientierten Lorenzo, der zur federführenden Kraft des wiederbelebten Inquisitionswesens aufgestiegen ist, bringen die naive, junge Ines, eine Muse Goyas, in die Hände des grausamen Gottesgerichts: Der „Judaisierung" soll sie sich schuldig gemacht haben, also der verbotenen Ausübung jüdischer Rituale. (In Wahrheit hatte sie sich lediglich in einer Taverne angeekelt von einem Ferkelbraten abgewandt, weil sie den Geschmack von Schwein nicht mochte). Verzweifelt gesteht sie während der Folter die ihr diktierte „Wahrheit". Goya sucht zögerlich zu retten, was zu retten ist, bittet den geistlichen Freund um Hilfe. Und Lorenzo zeigt sich gnädig, besucht die Inhaftierte (auf deren Porträt er in Goyas Atelier ohnehin schon ein Auge geworfen hatte) und tritt künftig als Vermittler und Botschafter zwischen dem Mädchen und seiner Familie auf, denn Ines Vater ist ein reicher Kaufmann, der seine pekuniären Möglichkeiten zugunsten der Kirche einzusetzen bereit ist. Der verzweifelte Vater greift nun selber zur Folter, mit deren Hilfe es ihm gelingt, Lorenzos Unterschrift unter eine äußerst kompromittierende Aussage zu erzwingen. Ines wird nicht zu Tode verurteilt, doch die Rechnung ihres Vaters geht nicht auf und die Inquisition frisst ihre Kinder: Lorenzo fällt in Ungnade und muss Spanien verlassen.

15 Jahre später kehrt er, aufgeklärt und säkular, geläutert durch die Lektüre Voltaires und Rousseaus (und obendrein auch noch als Familienvater), mit den napoleonischen Truppen zurück, um an der Seite des Kaiserbruders Joseph Bonaparte, das unterjochte spanische Volk mit den Menschen- und Bürgerrechten zu beglücken und die Inquisition abzuschaffen. Der mittlerweile taube Goya hat bescheidenere, kleinere Ziele: Er möchte der aus dem Kerker befreiten Ines auf der Suche nach ihrer Tochter helfen, die ihr die Inquisitoren im Gefängnis weggenommen hatten. Denn Lorenzo hatte sich ihr einst bei seinen Besuchen im Kerker nicht nur im gemeinsamen Gebet genähert. Während die Handlung im folgenden ein wenig zu schlittern und sich zu verzetteln beginnt, dreht sich das Karussell der Macht jedoch unbeirrt weiter (kleiner geschichtlicher Exkurs: 1813 marschierten die Engländer in Spanien ein, setzten dem kurzen Zwischenregime von Joseph Bonnaparte ein Ende; woraufhin unter Ferdinand VII die Inquisition politisch und religiös in Spanien wieder aufblühte) und stellt Lorenzo vor eine Entscheidung. Und mit seiner Wahl stellt er den bis dahin allzu sehr auf der Hand liegenden Verdacht, er sei ein opportunistischer Wendehals, sehr in Frage...

 

Etliche Kritiker warfen dem Film vor, er habe sich zu schnell von Goya abgewandt, um sich auf die beiden anderen Charaktere zu konzentrieren, doch wenn man von dem irreführenden Titel (und vielleicht auch der durch „Amadeus" begründeten Erwartungshaltung) absieht, ist das nicht von Nachteil und schon gar keine unbeabsichtigte Panne. (Ein Blick auf die Darstellerabfolge in den Credits hätte genügt, um zu erkennen, dass das Schicksal von Lorenzo und Ines Vorrang vor der Titelfigur hat - eine Tatsache, die sowohl die gesamte Narrative als auch Forman selbst bestätigen). Natürlich sind der vom finstersten Inquisitionsspuk zum erhellten Feldherrn der Aufklärung und Menschenrechte konvertierte Pater und die im Kerker um ihr Lebensglück, ihre Unschuld, ihr Kind und schließlich auch noch ihren Verstand gebrachte Ines ungleich stärkere Rollen, die sowohl das Publikum stärker ergreifen als auch die Darsteller besser bedienen. Was Javier Bardem in der Rolle des Lorenzo leider auch zum Chargieren und Posieren verleitet (er hätte besser daran getan, sich ein wenig von der auf jegliche Faxen verzichtenden, feinen Darstellung Michael Lonsdales als Großinquisitor inspirieren zu lassen), während Natalie Portman als Ines - besonders im ersten Teil - authentisch und schlicht bleibt; aber ihr Charakter ist ja auch weniger komplex angelegt.

Aber man sollte Stellan Skarsgårds Goya deswegen keinesfalls gering schätzen; so uninteressant wie er auf den ersten Blick gegenüber den beiden anderen wirkt, ist er nämlich nicht, schon gar nicht, wenn man das von Forman gezeigten Humanismusbild in diesem Film verstehen möchte. Es ist natürlich deprimierend: Der eine, der einst ohne mit der Wimper zu zucken, die magisch-mittelalterliche Theorie verteidigt hatte, ein unter Folterqualen gemachtes Geständnis sei gültig, da die Kirche dies lehre und da feststünde, dass der in seinem Glauben gefestigte Mensch niemals eine Falschaussage machen würde, vertritt später mit derselben Sicherheit die hehren Parolen der Aufklärung und der Menschenrechte und kommentiert die eigene Vergangenheit kopfschüttelnd, aber leichtfertig mit den Worten „was waren wir für Barbaren". Während der andere, der still und mitleidend, meist zwischen Hilfsbereitschaft und verständlicher Feigheit hin und hergerissen, stets Beobachter und Chronist bleibt, und auf den Wahnsinn, von dem er Zeuge wird, mit zögerlichen Gegenfragen und - das ist nicht zu leugnen - starker Malerei reagiert. Ja, der Goya in Formans Film ist ein starker, kraftvoller Maler und ein schwacher, kraftloser Humanist. Er und Lorenzo sind weniger ideologische Antipoden als vielmehr Antipoden des Handelns: Der eine nimmt die Zügel jeder Ideologie, der er sich anschließt, sofort in die Hand („nicht bloß beteiligen, anführen", das will er), der andere bleibt überwiegend passiv und unpolitisch. Aber - und das ist das eigentlich niederschmetternde - er ist der einzige Humanist des Films. Er paktiert mit den Mächtigen, belügt und umschmeichelt sie wenn es sein muss (außer in seinen Gemälden) und spricht die „großen" Parolen des Humanismus selten aus. Aber als leiser, mitfühlender, machtloser Helfer ist er stets präsent. Es ist kein Zufall, dass Forman ihm in seinem Script und seiner Inszenierung diesen Platz zugewiesen hat (und Skarsgård füllt ihn hervorragend mit Menschlichkeit und Betroffenheit aus), denn dieser schwache, dieser passive, dieser traurige Humanist ist die eigentliche Aussage des Films.

Das liegt weniger an Goyas Charakter, als vielmehr daran, dass die Welt, die Forman uns zeigt, ihm gar keine andere Wahl lässt. Es gibt keinen Moment in dem Film, wo Aktionen, und seien sie noch so befreiend, noch so ideell fundiert, noch so getragen von Vernunft und Veränderungswillen, keinen bitteren Beigeschmack haben. Als Pater Lorenzo Ines Familie besucht und die erschütterten Eltern von der „peinlichen Befragung" erfahren, kommt es beispielsweise zu einer Diskussion über Sinn und Unsinn eines Foltergeständnisses, die exemplarisch für die Prinzipien der Aufklärung ist:
Goya ist es, der als erster unverblümt erklärt, dass er unter Folterqualen so gut wie alles gestehen würde, weswegen ein solches Geständnis völlig wertlos sei und bis auf Lorenzo stimmen alle zu. Es ist die menschliche Vernunft, die hier ihre Stimme erhebt, das skeptische Denken, das sich dem magischen entgegenstellt. Es wird nach gültigen Beweisen gefragt und auf die menschliche Natur verwiesen („Was wäre, wenn die Schmerzen meine Sinne so vernebeln, dass ..."). Und doch kippt die Situation, reicht es nicht für die unschuldige Menschlichkeit: die zu allem bereite Familie des unglücklichen Mädchens greift nämlich, um die These von der Unbrauchbarkeit eines Foltergeständnisses zu beweisen, zu exakt derselben Foltermethode, die Ines zum Verhängnis wurde und die auch Lorenzo zum Schicksal werden wird. (Forman bezeichnet diese Szene übrigens als Herzstück des Films.) Und Goya? Nein, er macht nicht mit, er versucht vielmehr, wie stets, demjenigen, der Hilfe braucht, zu helfen, in diesem Fall Lorenzo. Und wie stets scheitert er. An solchen und ähnlichen Brüchen scheint Forman viel gelegen zu sein, sie durchziehen den gesamten Film: So geht z.B. ausgerechnet der Deklaration von Menschenrechten und Abschaffung der Inquisition die höchst unnötige Ermordung eines (wehrlosen) Priesters voraus.

Nun ist das alles ja nichts Neues. Dass die Inquisitoren trotz (oder auch wegen) ihrer Berufung auf Heilsrelevanz sagenhaft grausam und die Akteure der französische Revolution, trotz ihrer Ideale von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ausgesprochen blutrünstig waren, weiß heute jedes Kind. Aber Milos Forman wollte mit Sicherheit kein isoliertes Porträt einer viel behandelten, viel kritisierten und viel analysierten Epoche zeichnen. (Was auch erklärt, warum er auf historische Akkuratesse eher wenig Wert legt, die gleich zweimal verwendete Foltertechnik beispielsweise war im 16. Jahrhundert häufig, zu Goyas Zeiten jedoch kaum mehr üblich). Ursprung für das Goya-Projekt sei für ihn ein Schauprozess in den fünfziger Jahren aus der Tschechoslowakei gewesen und die Geister, die in diesem Film spuken, sieht er auch heute noch am Werk wie er in einem <Interview> im anlässlich des neuen Films erklärte: „Die Geschichte ist unbarmherzig: sie wiederholt sich immerzu. Das liegt daran, dass die ultrakonservativen Kräfte so ungemein clever sind, damals wie heute. Die unerfreuliche Wahrheit ist: die Liberalen werden sie niemals besiegen." Unter diesem Aspekt ist „Goyas Geister" (trotz einiger herrlich komischer Momente) nicht nur aufgrund seiner wahrlich herzzerreißenden Schlusssequenz, einer der wohl pessimistischsten Kino-Beiträge zum Thema Humanismus und Weltverbesserung. Kein filmisches Meisterwerk, aber ein provokativer und bedenkenswerter politischer Kommentar allemal.

 

Christina Stefan