„Trotz Revolution wird doch gearbeitet“

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"Mauerdurchbruch" / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Ein Weg durch die Jahre: 20 Jahre Mauerfall – ein Grund Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen. Hier das dritte Gespräch: Über Zivilcourage – Als selbsternannter Beobachter blieb er am 7. Mai 1989 in einem Wahllokal zur Stimmauszählung und sagt selbst dazu: „Ich versuchte immer, im Hintergrund zu bleiben, wollte aber trotzdem auch dabei sein und durch meine bloße Anwesenheit meinen Protest ausdrücken, ich war aber nie in erster Reihe.“

Berlin-Friedrichshain, Treffpunkt U-Bahnhof Samariterstraße. Meine Stichworte (Kommunalwahlen in der DDR am 7. Mai 1989, Wahlfälschung, die Gorbatschow-Zeit, Eppelmann, Freiraum Kirche?) muss ich zurückhalten. Um jetzt, 20 Jahre später, in die Ereignisse einzutauchen, steht am Anfang ein neues Erkunden des Terrains in dessen Mitte unser heutiger Gesprächspartner von Mitte der 80er bis Anfang der 90er zu Hause war.

 

 

Kommunalwahlen in der DDR

hpd: Der 7. Mai 1989 war ein Tag an dem Du Dich politisch eingemischt hast. Die DDR bestand zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre und 7 Monate. Eine Wahl war also kein ungewöhnliches Ereignis. Was hat Dich veranlasst?

Gerüchte, dass die Ergebnisse der Wahlen in der DDR nicht richtig zusammengezählt worden seien könnten, waren immer im Umlauf, aber immer war es bei Verdacht und Indizien geblieben - niemals vorher gab es einen Beweis.

Leute in Friedrichshain hatten Anfang 1989, wohl eher zufällig, ein Heft in die Hand bekommen oder haben es sich irgendwie besorgt, ergattern können, in dem alle 89 Wahllokale in Friedrichshain aufgelistet waren. Diese Information war damals nicht öffentlich, so wie es heute selbstverständlich ist. Da entstand bei diesen Leuten die Idee, die Wahl zu beobachten. Ein Freund von mir gehörte auch zu dieser Gruppe. Ich wohnte damals in der Bänschstraße und er ein paar Häuser weiter. Er erzählte mir davon, und ich fand die Idee gut und wollte dabei mitmachen. In jedem Wahllokal sollten zwei Leute die Auszählung beobachten und das Ergebnis mitschreiben. Also mussten wir schon 180 Leute zusammenbekommen. So groß war der Freundeskreis dann doch nicht. Alleine kamen wir also nicht weiter. Die Gruppe hat sich dann entschlossen, Kontakt mit Pfarrer Eppelmann von der Samariterkirche (später war er dann – nach der ersten und letzten freien Wahl in der DDR – deren letzter Verteidigungsminister) aufzunehmen, der ja schon mit seinen Blues-Messen bekannt geworden war und von dem klar war, dass er viele Menschen kannte, die wahrscheinlich mitmachen würden. Außerdem war man in den Gemeinderäumen der Samariterkirche sicherer vor Übergriffen der Stasi als in Privatwohnungen.

Verdacht auf Wahlbetrug

hpd: Damit ich es richtig verstehe – es stand der Verdacht im Raum, dass die Wahlen davor in Berlin oder im ganzen Land nicht richtig ausgezählt worden waren?

Ich hatte einmal eine Schautafel in einer DDR-kritischen Ausstellung in einer Kirche gesehen, die die Volkskammerwahl 1986 in Friedrichshain betraf. Da hatten Leute die Ergebnisse der Auszählung in einigen Wahllokalen dem veröffentlichten Ergebnis für den gesamten Stadtbezirk gegenübergestellt. (Die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale wurden in der DDR nicht veröffentlicht.) Dabei gab es große Abweichungen bei den Prozentzahlen. Da man aber nicht wusste, wie in den anderen Wahllokalen abgestimmt wurde, konnte man keine Wahlfälschung nachweisen. Es waren einfach zu wenige Auszählungen beobachtet worden.

hpd. Ich frage nach: Was bedeutete in der DDR eine Wahl – gab es eine Wahlpflicht oder war die Teilnahme daran frei?

Es gab das geflügelte Wort vom ‚freiwilligen Zwang’. Darunter zu verstehen sind Handlungen, die zwar freiwillig waren, die aber von einem sozialistischen Staatsbürger erwartet wurden und bei denen man unter bestimmten Voraussetzungen diese Erwartungen auch erfüllen sollte. Das betraf die Teilnahme an der Wahl. Für diejenigen, die etwas vom Staat erwarteten, z.B. Karriere machen wollten, war es nicht empfehlenswert, diesem ‚freiwilligen Zwang’ zu widerstehen. Ein normaler Arbeiter hatte keine Sanktionen zu befürchten. Ein Student sollte sich gut überlegen, wirklich nicht zur Wahl zu gehen. Eine Nichtteilnahme hätte böse Aussprachen oder einen Karriere-Knick bedeuten können.

hpd: Bitte, werde noch deutlicher. Ich kenne bei einer Wahl die Kabine, dann außerhalb die Wahlurne. Wie konntet ihr also in der DDR die Wahl beobachten und die Ergebnisse feststellen, mitzählen und damit nachweisen?

Es gab in den Wahllokalen den Tisch an dem man seinen Ausweis vorzeigte. Die Wahlkabine war weiter weg. Dafür stand die Wahlurne näher dran. Und da konnte man seinen Stimmzettel hineinwerfen, ohne etwas daran gemacht zu haben und ohne die Wahlkabine benutzt zu haben. Man konnte aber auch die paar Meter weiter zur Wahlkabine gehen. Manch einer erzählte, dass da auf einer Stoffdecke ein spitzer Bleistift lag, mit dem es dann schwierig war, Namen durchzustreichen. Ich hatte mir zur Wahl meinen eigenen Filzstift mitgenommen und habe damit gestrichen.

Im Unterschied zu unserem Wahl-System jetzt benutzten damals nur wenige die Wahlkabine, und das wurde in der DDR als positives Bekenntnis zum Staat gewertet. Wenn man die Wahlkabine benutzte, konnte man böse Blicke ernten. Ich habe es so gemacht, dass ich mich in der Wahlkabine gar nicht erst hingesetzt habe, sondern im Stehen auf meinem Stimmzettel alle Namen durchgestrichen habe. Also, keiner konnte sehen, was ich machte. Aber es kostete für viele Menschen Überwindung. Für Studenten und alle, die bei der Armee waren, war der Wahlbezirk am Studien- bzw. Kasernenort, das Wahllokal sogar in der Hochschule. Soldaten mussten geschlossen in der Kompanie zum Wahllokal gehen und da war der Gruppendruck natürlich groß, wenn man in einer Reihe steht, aus dieser nicht auszuscheren. Es gehörte viel Mut dazu, zu widerstehen.

Zur Auszählung der Wahl. Es gab die Möglichkeit, den Stimmzettel zu belassen, einzelne Namen oder auch alle Namen durchzustreichen. Bei der Zählung wurden die einzelnen Namen gezählt. In der Regel war das immer eine überwältigende Mehrheit. Veröffentlicht wurde dagegen nur, was als Ja- für oder Nein-Stimme gegen den Wahlvorschlag gezählt wurde. Ja-Stimmen waren alle Stimmzettel, bei denen nicht alle Namen durchgestrichen waren. Nein-Stimmen waren nur die, bei denen alle Namen durchgestrichen waren. Für die einzelnen Kandidaten wurden aber natürlich die auf sie entfallenden Ja- und Nein-Stimmen einzeln gezählt, aber diese Einzel-Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht.

hpd: Nun war die Freundesgruppe in Friedrichshain ja kein offizieller Wahlbeobachter …

Nein, wir wurden zwar komisch angeguckt, aber solange man sich da ruhig verhielt und einfach nur passiv zuschaute, gab es eigentlich keine Probleme. Wir waren nur zur Auszählung in den Wahllokalen.

Kurz zur Vorbereitung: Es gab bei uns keinen Führer, es war keine straffe Organisation, eher ein Netzwerk, so nach dem Motto: Wer kennt jemanden, der mitmachen würde? Wer übernimmt welches Wahllokal? Dafür hatten wir eine Liste gemacht, und weil unser Freundeskreis nicht alle Wahllokale abdecken konnte, haben wir uns dann an Eppelmann gewandt, der selbst Gemeindemitglieder und auch Nachbargemeinden mobilisieren konnte. Letztendlich war es eine bunte Mischung. In jedes Wahllokal sollten zwei Leute, denn vier Augen sehen mehr als zwei.