„Trotz Revolution wird doch gearbeitet“

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"Mauerdurchbruch" / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Ein Weg durch die Jahre: 20 Jahre Mauerfall – ein Grund Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen. Hier das dritte Gespräch: Über Zivilcourage – Als selbsternannter Beobachter blieb er am 7. Mai 1989 in einem Wahllokal zur Stimmauszählung und sagt selbst dazu: „Ich versuchte immer, im Hintergrund zu bleiben, wollte aber trotzdem auch dabei sein und durch meine bloße Anwesenheit meinen Protest ausdrücken, ich war aber nie in erster Reihe.“

Berlin-Friedrichshain, Treffpunkt U-Bahnhof Samariterstraße. Meine Stichworte (Kommunalwahlen in der DDR am 7. Mai 1989, Wahlfälschung, die Gorbatschow-Zeit, Eppelmann, Freiraum Kirche?) muss ich zurückhalten. Um jetzt, 20 Jahre später, in die Ereignisse einzutauchen, steht am Anfang ein neues Erkunden des Terrains in dessen Mitte unser heutiger Gesprächspartner von Mitte der 80er bis Anfang der 90er zu Hause war.

 

 

Kommunalwahlen in der DDR

hpd: Der 7. Mai 1989 war ein Tag an dem Du Dich politisch eingemischt hast. Die DDR bestand zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre und 7 Monate. Eine Wahl war also kein ungewöhnliches Ereignis. Was hat Dich veranlasst?

Gerüchte, dass die Ergebnisse der Wahlen in der DDR nicht richtig zusammengezählt worden seien könnten, waren immer im Umlauf, aber immer war es bei Verdacht und Indizien geblieben - niemals vorher gab es einen Beweis.

Leute in Friedrichshain hatten Anfang 1989, wohl eher zufällig, ein Heft in die Hand bekommen oder haben es sich irgendwie besorgt, ergattern können, in dem alle 89 Wahllokale in Friedrichshain aufgelistet waren. Diese Information war damals nicht öffentlich, so wie es heute selbstverständlich ist. Da entstand bei diesen Leuten die Idee, die Wahl zu beobachten. Ein Freund von mir gehörte auch zu dieser Gruppe. Ich wohnte damals in der Bänschstraße und er ein paar Häuser weiter. Er erzählte mir davon, und ich fand die Idee gut und wollte dabei mitmachen. In jedem Wahllokal sollten zwei Leute die Auszählung beobachten und das Ergebnis mitschreiben. Also mussten wir schon 180 Leute zusammenbekommen. So groß war der Freundeskreis dann doch nicht. Alleine kamen wir also nicht weiter. Die Gruppe hat sich dann entschlossen, Kontakt mit Pfarrer Eppelmann von der Samariterkirche (später war er dann – nach der ersten und letzten freien Wahl in der DDR – deren letzter Verteidigungsminister) aufzunehmen, der ja schon mit seinen Blues-Messen bekannt geworden war und von dem klar war, dass er viele Menschen kannte, die wahrscheinlich mitmachen würden. Außerdem war man in den Gemeinderäumen der Samariterkirche sicherer vor Übergriffen der Stasi als in Privatwohnungen.

Verdacht auf Wahlbetrug

hpd: Damit ich es richtig verstehe – es stand der Verdacht im Raum, dass die Wahlen davor in Berlin oder im ganzen Land nicht richtig ausgezählt worden waren?

Ich hatte einmal eine Schautafel in einer DDR-kritischen Ausstellung in einer Kirche gesehen, die die Volkskammerwahl 1986 in Friedrichshain betraf. Da hatten Leute die Ergebnisse der Auszählung in einigen Wahllokalen dem veröffentlichten Ergebnis für den gesamten Stadtbezirk gegenübergestellt. (Die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale wurden in der DDR nicht veröffentlicht.) Dabei gab es große Abweichungen bei den Prozentzahlen. Da man aber nicht wusste, wie in den anderen Wahllokalen abgestimmt wurde, konnte man keine Wahlfälschung nachweisen. Es waren einfach zu wenige Auszählungen beobachtet worden.

hpd. Ich frage nach: Was bedeutete in der DDR eine Wahl – gab es eine Wahlpflicht oder war die Teilnahme daran frei?

Es gab das geflügelte Wort vom ‚freiwilligen Zwang’. Darunter zu verstehen sind Handlungen, die zwar freiwillig waren, die aber von einem sozialistischen Staatsbürger erwartet wurden und bei denen man unter bestimmten Voraussetzungen diese Erwartungen auch erfüllen sollte. Das betraf die Teilnahme an der Wahl. Für diejenigen, die etwas vom Staat erwarteten, z.B. Karriere machen wollten, war es nicht empfehlenswert, diesem ‚freiwilligen Zwang’ zu widerstehen. Ein normaler Arbeiter hatte keine Sanktionen zu befürchten. Ein Student sollte sich gut überlegen, wirklich nicht zur Wahl zu gehen. Eine Nichtteilnahme hätte böse Aussprachen oder einen Karriere-Knick bedeuten können.

hpd: Bitte, werde noch deutlicher. Ich kenne bei einer Wahl die Kabine, dann außerhalb die Wahlurne. Wie konntet ihr also in der DDR die Wahl beobachten und die Ergebnisse feststellen, mitzählen und damit nachweisen?

Es gab in den Wahllokalen den Tisch an dem man seinen Ausweis vorzeigte. Die Wahlkabine war weiter weg. Dafür stand die Wahlurne näher dran. Und da konnte man seinen Stimmzettel hineinwerfen, ohne etwas daran gemacht zu haben und ohne die Wahlkabine benutzt zu haben. Man konnte aber auch die paar Meter weiter zur Wahlkabine gehen. Manch einer erzählte, dass da auf einer Stoffdecke ein spitzer Bleistift lag, mit dem es dann schwierig war, Namen durchzustreichen. Ich hatte mir zur Wahl meinen eigenen Filzstift mitgenommen und habe damit gestrichen.

Im Unterschied zu unserem Wahl-System jetzt benutzten damals nur wenige die Wahlkabine, und das wurde in der DDR als positives Bekenntnis zum Staat gewertet. Wenn man die Wahlkabine benutzte, konnte man böse Blicke ernten. Ich habe es so gemacht, dass ich mich in der Wahlkabine gar nicht erst hingesetzt habe, sondern im Stehen auf meinem Stimmzettel alle Namen durchgestrichen habe. Also, keiner konnte sehen, was ich machte. Aber es kostete für viele Menschen Überwindung. Für Studenten und alle, die bei der Armee waren, war der Wahlbezirk am Studien- bzw. Kasernenort, das Wahllokal sogar in der Hochschule. Soldaten mussten geschlossen in der Kompanie zum Wahllokal gehen und da war der Gruppendruck natürlich groß, wenn man in einer Reihe steht, aus dieser nicht auszuscheren. Es gehörte viel Mut dazu, zu widerstehen.

Zur Auszählung der Wahl. Es gab die Möglichkeit, den Stimmzettel zu belassen, einzelne Namen oder auch alle Namen durchzustreichen. Bei der Zählung wurden die einzelnen Namen gezählt. In der Regel war das immer eine überwältigende Mehrheit. Veröffentlicht wurde dagegen nur, was als Ja- für oder Nein-Stimme gegen den Wahlvorschlag gezählt wurde. Ja-Stimmen waren alle Stimmzettel, bei denen nicht alle Namen durchgestrichen waren. Nein-Stimmen waren nur die, bei denen alle Namen durchgestrichen waren. Für die einzelnen Kandidaten wurden aber natürlich die auf sie entfallenden Ja- und Nein-Stimmen einzeln gezählt, aber diese Einzel-Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht.

hpd: Nun war die Freundesgruppe in Friedrichshain ja kein offizieller Wahlbeobachter …

Nein, wir wurden zwar komisch angeguckt, aber solange man sich da ruhig verhielt und einfach nur passiv zuschaute, gab es eigentlich keine Probleme. Wir waren nur zur Auszählung in den Wahllokalen.

Kurz zur Vorbereitung: Es gab bei uns keinen Führer, es war keine straffe Organisation, eher ein Netzwerk, so nach dem Motto: Wer kennt jemanden, der mitmachen würde? Wer übernimmt welches Wahllokal? Dafür hatten wir eine Liste gemacht, und weil unser Freundeskreis nicht alle Wahllokale abdecken konnte, haben wir uns dann an Eppelmann gewandt, der selbst Gemeindemitglieder und auch Nachbargemeinden mobilisieren konnte. Letztendlich war es eine bunte Mischung. In jedes Wahllokal sollten zwei Leute, denn vier Augen sehen mehr als zwei.

 

hpd: Was passierte nachdem die Wahllokale geschlossen waren?

Es wurde ausgezählt und wir haben zugeschaut. Zum Schluss wurde das Ergebnis bekannt gegeben. Und das haben wir aufgeschrieben: die Zahl der abgegebenen gültigen und ungültigen und der Ja- und Nein-Stimmen. Diese Zahlen waren für uns entscheidend. Im Gemeindesaal der Samariterkirche haben wir Wahlbeobachter uns danach getroffen. Dort wurden die Ergebnisse gesammelt und addiert. Am Ende des Abends oder am nächsten Tag – das weiß ich nicht mehr so genau – waren die Summen dann bekannt. Es ist uns gelungen, die Auszählung in 83 der 89 Wahllokale in Berlin-Friedrichshain zu beobachten und die Ergebnisse zusammenzutragen. Es fehlten uns zwar sechs Wahllokale, aber wir hatten den Großteil der Ergebnisse. Soweit, wie wir es beobachtet hatten, liefen die Auszählungen korrekt und ohne Fälschungen.

Die Wahlergebnisse

hpd: Was wurde denn gefälscht und wie ist es aufgefallen?

Am nächsten Tag stand das vorläufige Wahlergebnis schon in der Zeitung und dann zwei Tage später das endgültige. Da uns ja Wahllokale fehlten, konnten wir das Ergebnis nicht tatsächlich überprüfen. Fest stand aber, dass wir in den beobachteten 83 Wahllokalen in Friedrichshain schon dreimal so viele Nein-Stimmen hatten, wie das endgültige Wahlergebnis für den ganzen Stadtbezirk auswies.

Um die Größenordnung deutlich zu machen: Als endgültiges Wahlergebnis wurden für Berlin-Friedrichshain (89 Wahllokale) 1.611 Nein-Stimmen veröffentlicht. Wir hatten aber schon 4.721 Nein-Stimmen – also dreimal soviel – allein durch die Addition der Ergebnisse der 83 Wahllokale ermittelt, in denen wir beobachtet hatten.

hpd: Warst Du überrascht?

Man hat es nicht gewusst, aber man hat es ihnen schon zugetraut, dass sie die Wahl fälschen könnten. Also insofern eher nicht. Es waren offiziell in Berlin-Friedrichshain 98,11 % Ja-Stimmen und 1,89 % Nein-Stimmen. Wenn man jetzt unser Ergebnis heranzieht bedeutet dies, dass es mindestens 5,54 % mit Nein-Stimmen gab. Aber 94,46 % waren Ja-Stimmen. Das ist zum einen durch den gesellschaftlichen Druck zu erklären, und damit, dass manche mit Ja gestimmt haben, obwohl sie etwas anderes dachten, weil sie sich etwas davon versprachen oder unter einem gesellschaftlichen Druck standen.

Die DDR-Führung war so unter Druck, dass sie die Wahl fälschen musste. Wenn sie sie nicht gefälscht hätte, wären es zwar immerhin noch 94 % Ja-Stimmen in Berlin gewesen. Aber es hätte Auswirkungen auf die nächste Wahl gehabt. Wenn die Bürger gemerkt hätten, dass es nicht nur 2 % sondern sogar 6 % Nein-Stimmen gab, so hätte das bei der nächsten Wahl viel mehr Wähler ermutigt, mit Nein zu stimmen, und die Zahl der Nein-Stimmen hätte lawinenartig zugenommen und die Legitimation der Regierung wäre dadurch infrage gestellt worden. Das musste mit allen Mitteln verhindert werden. Außerdem hätte die DDR-Regierung das Problem gehabt, schon bei dieser Wahl den Verlust an Zustimmung zu ihrer Politik zu erklären, wo doch alles angeblich immer besser und schöner wurde.

hpd: Habt ihr Einblick in die Stimmenthaltungen bekommen?

Nein, die Anzahl der Wahlberechtigten war uns nicht bekannt und schon gar nicht in Hinblick auf die einzelnen Wahllokale.

hpd: Nachdem nun klar war, dass das offizielle Ergebnis ein anderes war, als die tatsächliche Stimmauszählung erbracht hatte, was passierte dann?

Dieses Wissen wurde an die West-Medien weiter gegeben, und die DDR-Bevölkerung hat diese Nachricht über diesen Umweg erfahren. Die Information lief über Eppelmann und auch andere Kanäle. Dann war es unser Bestreben, mit rechtsstaatlichen Mitteln die Wahlfälschung aufzuklären. Wir, d. h. viele von uns, haben im eigenen Namen Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet und Eingaben an die Wahlkommission geschrieben. Es gab in der DDR kein Verwaltungsrecht, es gab keine Rechtsmittel, sondern nur diese Eingaben und das ist so eine Art von Bittstellung. Ich selber habe Eingaben an den Nationalrat der Nationalen Front und an den Staatsrat geschrieben und eine Strafanzeige beim Generalstaatsanwalt erstattet.

Angst, Mut oder Zivilcourage

hpd: Warst du durch Dein eigenes Handeln gefährdet?

Nein, zu der Zeit nicht. Für eine Karriere wäre es allerdings nicht gut gewesen. Ich hatte aber meinen Job und keine Idee, aufzusteigen. Ich hatte die Eingaben sachlich formuliert und in der Anzeige den Verdacht der Wahlfälschung begründet.

hpd: Hätten viel mehr Menschen mutig sein können – so wie ihr?

Ja, aber Viele wussten nicht davon. Wenn wir damit an die Öffentlichkeit hätten gehen können, dann hätten sich wahrscheinlich viel mehr Menschen daran beteiligt, aber dann wäre es auch von der Stasi unterbunden worden. Wir haben unsere Arbeit aber vor dem Wahltag nicht groß publik gemacht.

Noch einmal zu meiner Anzeige. Im Juni 1989 bin ich zur Staatsanwaltschaft Friedrichshain zum Gespräch eingeladen worden. Dort wurde mir mitgeteilt, dass mit der Wahl alles in Ordnung gewesen sei. Wie es zu der Differenz zwischen unserer Auszählung und dem amtlichen Ergebnis gekommen war, wollte der Staatsanwalt mir nicht erklären. Damit war dann die Sache beendet.

hpd: Für dich auch?

Na ja, an dem Punkt ging es erstmal nicht weiter. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gab es im Osten nicht und schriftliche Beweise auch nicht, keine geschriebene Zeile, alles blieb mündlich. Man sollte bei der Wahlkommission schon darauf vertrauen, dass alles richtig lief, so war die Verlautbarung und dann war das Gespräch zu Ende.

 

hpd: Auf welcher Ebene waren die Verantwortlichen für die Fälschung der Wahlergebnisse angesiedelt?

Der rbb hat am 23. April 2009 einen Dokumentarfilm über die Wahlfälschunggesendet (hier der Trailer) - der am 30.10.2009 um 11:05 auf einsextra wiederholt wird -, in dem sich auch ein damaliger Bezirksbürgermeister von Berlin dazu geäußert und aufgeklärt hat, dass die Auszählung in den Wahllokalen weitestgehend korrekt verlaufen sind, aber bei der Zusammenzählung in den Rathäusern manipuliert wurde anhand von Vorgaben zentraler Stellen. Der Dokumentarfilm berichtete, dass der Bezirksbürgermeister geradezu erbettelt hat, mehr Nein-Stimmen haben zu dürfen, und diese ihm daraufhin zum Teil zugebilligt worden waren. Das heißt, dass um die offiziellen Nein-Stimmen geschachert worden war.

hpd: Wie war für dich die erste freie Wahl, die du erlebt hast?

Ja, das war am 18. März 1990. Es war befreiend für mich, dass ich eine richtige Auswahl hatte und abstimmen konnte. Enttäuschend war dann allerdings, dass die CDU so hoch gewonnen hatte und die Gruppen, die die Wende mit angestoßen hatten – damals eben Bündnis 90 –, so hinter heruntergefallen waren. Aber das muss man akzeptieren, das ist Demokratie.

hpd: Hätte eure Initiative der Wahlbeobachtung auch schon einige Jahre vorher sein können?

Alle zwei … drei Jahre hatte eine Wahl stattgefunden, immer abwechselnd: Kommunalwahl und Volkskammerwahl. – Mhm, ich weiß nicht, vielleicht hätte eine solche Initiative auch schon früher stattfinden können, wäre aber vielleicht an Problemen gescheitert, wie Verweigerung des Zutritts zum Wahllokal … aber das alles sind nur Spekulationen.

Es war ja für die SED-Führung ein Abwägungsprozess. Sie wollte möglichst demokratisch erscheinen, um den Westmedien wenig Anlass zur negativen Berichterstattung zu bieten. Deshalb gab es für uns keine Probleme, in den Wahllokalen die Auszählung zu beobachten. Die DDR musste abwägen - was würde schwerer wiegen – den Zugang zur Wahlauszählung zu verweigern oder mit den Ergebnissen der Wahlbeobachtung konfrontiert zu werden. Eine wichtige Rolle spielte für uns, dass Gorbatschow in der Sowjetunion seit Mitte der 80-er die Führung hatte und Umwälzungsprozesse dort stattfanden, denen sich die DDR nicht so leicht entziehen konnte.

Die Stimmung

hpd: Du berichtest alles ruhig und scheinbar ganz gelassen. Wie war die Stimmung damals?

Ja, spannend, und manchmal ein kleines bisschen beängstigend. Willkür war ein Aspekt in der DDR, mit dem man leben musste, so dass kleine Aktionen große und repressive Resonanzen nach sich ziehen konnten, während andere bei anderen größeren Dingen manchmal nichts geschah. Das heißt, dass man wegen einer kleinen Straftat festgenommen werden konnte und es völlig ungewiß war, wann man wieder ‚raus' kam. Eine kleine Sache beispielsweise hätte sein können, groß und deutlich Gorbatschow an eine Hauswand zu schreiben. Vielleicht wäre die Reaktion harmlos gewesen, und man wäre nur für einen Tag festgenommen worden, aber man hätte dafür auch gleich für einige Monate inhaftiert werden können. Die DDR und die Stasi waren unberechenbar, es konnte aus einer Mücke ein Elefant gemacht werden und deshalb waren wir vorsichtig. Aber wir gingen trotzdem davon aus, dass die Stasi von unserem Vorhaben wusste. Bei so vielen Beteiligten konnte dies nicht geheim gehalten werden. Wir versuchten daher gar nicht erst, konspirativ zu sein. Aber im Rückblick ist es schon erstaunlich, dass wir überhaupt nicht behindert wurden.

hpd: Hat das Mitmischen, das Eingreifen, in Deinem Leben etwas verändert?

Es war für mich notwendig. Ich musste es tun, es war befriedigend, denn ich wurde tagtäglich in der DDR provoziert.

Die Zeitungen in der DDR hatten so geschrieben, dass ich nicht umhin konnte zu überlegen, was denken die, wie blöd der Zeitungsleser sei. Die Artikel in der „Jungen Welt“ – das war die Tageszeitung für Jugendliche – waren zum Teil beleidigend, indem sie die Leser für dumm verkauften. Da stand tatsächlich, dass in Westdeutschland viele Kinder barfuss zur Schule gingen, weil sie kein Geld für Schuhe hätten. Das Lebensniveau in der DDR wurde mit dem in der Bundesrepublik anhand der Briefmarken- und Brötchenpreise verglichen, die in der DDR niedriger waren, und daraus wurde gefolgert, dass das Leben in der DDR viel besser sei. Kein Wort davon, dass im Westen die Löhne viel höher waren. Das war schon provokativ. Es ging mir schon darum, meine Wut darüber herauszulassen. Lässt sich auch mit jugendlichem Tatendrang beschreiben und ist vielleicht ähnlich wie bei den 68-ern. So wussten wir, das System war ähnlich vermufft, es sollte schon etwas in Bewegung kommen und etwas passieren. Der Druck war da, dass die DDR so nicht funktioniert, und ich wollte dabei sein.

hpd: Du warst zu dem Zeitpunkt Student?

Bis 1988 hatte ich Elektrotechnik studiert und danach beim VEB Messelektronik Berlin gearbeitet. Ich war dort Prüftechnologe. Ich hatte keine Karriere geplant und hätte dort die nächsten 40 Jahre bleiben können oder sollen und dürfen. Aber das sollte nicht alles in meinem Leben bleiben. Da war die Wahlauszählung spannend. Da ich in Friedrichshain wohnte, habe ich mich dort beteiligt.

Eine Wahlbeobachtung fand auch in Weißensee statt. Die Kunsthochschule Weißensee hatte ein Wahllokal incl. Beobachtung. Das Wahlergebnis dort ergab 50,72 % Nein-Stimmen und das obwohl die Studenten unter politischem Druck standen – und man dem Staat, der die Schul- und Hochschulausbildung finanzierte, auf ewig dankbar zu sein hatte. So gesehen war das Wahlergebnis in Weißensee  eine kleine Sensation, die sich nirgendwo in der DDR wiederholte.

Andererseits gab es an den Hochschulen und auch bei den Philosophen und Marxisten mehr und weitergreifende Diskussionen. Marxismus-Leninismus war an allen Hochschulen Plicht und da waren die Diskussionen weit offener als sonst bei den Funktionären.

hpd: Wie ging es dann weiter?

Nach der Wahl am 7. Mai mit der Wahlauszählung und der Fälschung sprach es sich herum, dass man sich an jedem 7. eines jeden Monats trifft, um gegen die Wahlfälschung zu protestieren.

Wir sind das Volk

Am 7. Juni 1989 trafen sich die Menschen in und vor der Sophienkirche im Scheunen-Viertel in der Großen Hamburger Straße. Treffen dieser Art sprachen sich durch Mundpropaganda herum und durch die Umwelt-Bibliothek, deren Umwelt-Blätter in der damaligen Zeit eine der wenigen DDR-unabhängigen Informationen waren und in opposotionellen Kreisen viel gelesen wurden. Die Blätter wurden unter dem Dach der Zionskirche gedruckt und dann verteilt.

Ungefähr 100-200 Menschen standen dort vor der Sophienkirche. Plötzlich wurden wir alle festgenommen und mit zwei Touristenbussen abtransportiert. Ein Bus fuhr zur Stasi-Zentrale in die Magdalenenstraße. Der andere Bus fuhr in die U-Haftanstalt in Rummelsburg und dort wurden wir mehrere Stunden festgehalten. Es war relativ entspannt. Wir wussten, so viele Menschen konnte man nicht einfach verschwinden lassen. Es gab Zeugen, die Aktion fand vor der Kirche statt, und wir gingen davon aus, dass sich die Kirchenoberen darum kümmern würden, dass wir wieder raus kämen.

Es gab dann zwar Verhöre, aber die waren nicht dramatisch. Uns war bekannt, das hatte sich rum gesprochen, dass, wenn man keine Auskunft gab, meist nicht viel passierte. Wenn man aber etwas zur Sache aussagte, dann wurde es gegen einen benutzt. Also, warum ich dort an der Sophienkirche festgenommen wurde, wurde ich gefragt – das wisse ich auch nicht, habe ich darauf geantwortet. Und mein Vernehmer kannte aber auch keine Einzelheiten. Das Verhör war nicht ergiebig – schließlich hatte ich ja auch nichts gemacht, außer in einer Menschenmenge herumzustehen. Nachts um 3 Uhr bin ich wieder frei gelassen worden. Alle kamen nach und nach raus. Am nächsten Tag bin ich wieder normal zur Arbeit gegangen, und das war es dann.

 

 

Also Treffen waren dann immer am 7. des Monats. Einmal ist es dann passiert, dass mich an solch einem Tag auf dem Weg zur Arbeit ein Auto vermutlich verfolgt hat. Mit absoluter Sicherheit kann ich nicht sagen, ob es mir galt. Es war ein Wartburg, und in meinem Büro angekommen blieb der Wagen den ganzen Tag gegenüber von meinem Betrieb auf der anderen Straßenseite stehen. Ich konnte ihn aus dem Fenster heraus sehen. Bei einem Betrieb mit über 100 Leuten kann dass jedem gegolten haben. Aber ich vermutete, es ging darum, mich daran zu hindern, an diesem 7. auf den Alexanderplatz zu gehen. Dort war inzwischen der Treffpunkt. Dieser zentrale Platz bot Schutz, zumal dort viele Touristen waren und insgesamt eine große Öffentlichkeit. Zum Betriebschluss bin ich mit den anderen Kollegen und, ohne mich umzudrehen, rausgeströmt, im Berufsverkehr untergetaucht und so vom Bahnhof Ostkreuz zum Alexanderplatz zum Treffpunkt des stillen Protestes gefahren.

Es hätte mich schon interessiert, ob ich nur diesen Verdacht gehabt hatte oder ob es tatsächlich eine Überwachung oder auch eine Warnung gewesen ist.

Es gab noch zwei weitere Aktionen, also Besuche tagsüber an meiner Wohnungstür, aber ich war beide Male nicht zuhause. Einmal hat man bei einer Nachbarin nach mir gefragt. Man wollte mich wohl davor warnen, zu den Treffen am 7. des Monats zu gehen, wusste aber offenbar nicht, dass ich tagsüber arbeite. So gut informiert war die Stasi dann wohl doch nicht.

 

hpd: Gab es Stimmen, die dich eher aufgefordert haben, diese Unternehmungen zu lassen?

Nein, eigentlich nicht. Ich versuchte immer, im Hintergrund zu bleiben, wollte aber trotzdem auch dabei sein und durch meine bloße Anwesenheit meinen Protest ausdrücken, ich war aber nie in erster Reihe. Andererseits war es auch so spannend, und ich war neugierig, wie es weiter gehen würde. Ich wollte dabei sein. Die Verhaftung vor der Sophienkirche kam für mich überraschend und plötzlich. Wenn das abzusehen gewesen wäre, dass alle festgenommen werden, dann wäre ich in die Kirche rein geflüchtet und nicht vor der Kirche geblieben. Auf dem Kirchengelände gab es keine Festnahmen, da hat die Stasi sich nicht hin getraut.

hpd: Hast du jemals an „Republikflucht“ gedacht?

Nie so richtig. Jeder hat wohl einmal daran gedacht, aber doch nicht so richtig. Eine Flucht war risikoreich. Die innerdeutsche Grenze war zu gut bewacht, und andere Grenzen wie Jugoslawien kamen nicht in Frage. Es gab die Möglichkeit eines Ausreiseantrags. Zwei Bekannte von mir sind so ausgereist. Aber innerhalb der Möglichkeiten in der DDR, die wohl auch beschränkt waren, bin ich auch mit meinen Freunden gut zurecht gekommen. Eine Flucht wäre etwas Endgültiges gewesen. Das hätte ich mir sehr genau überlegen müssen und dafür gab es (noch) keinen Anlass.

Und letztendlich war es auch so, dass die, die ausgereist sind - illegal oder legal, das war egal - vielfach Einreiseverbot bekamen, und ich hätte mir einen neuen Freundeskreis aufbauen müssen. Aus meinem Bekanntenkreis sind nur zwei Leute ausgereist. Ich hatte hier noch genug Freunde und wir haben versucht, das Beste aus allem zu machen und viel Spaß miteinander zu haben.

Hpd: Hast du das Gefühl, dass die DDR Dich verlassen hat?

Nein, verlassen fühle ich mich nicht. Das System ist zu recht untergegangen. Es gibt Dinge, die ich gut fand, und es gibt einen bekannten Satz dazu, der heißt: ‚Ich sehne mich nach der DDR zurück, ich möchte sie aber auf keinen Fall wieder haben.’

Das hat zum Teil damit zu tun, dass wir Menschen uns an schöne Dinge aus der Kindheit oder Jugend gerne erinnern, an Positives sowieso und das Negative verdrängen und vergessen. Und so wie ich mich eingerichtet und mich auch zu Hause gefühlt hatte – so war es gut und (noch) auszuhalten. Ich weiß natürlich nicht, wie ich die nächsten Jahre erlebt hätte … da wäre ich vielleicht irgendwann verzweifelt, wenn das so weitergegangen wäre mit der staatlichen Bevormundung, der geistigen Provinzialität, der Diktatur von wenigen Greisen im ZK und Politbüro, die glaubten, sie dürften ohne jegliche Legitimation einfach so über mich (und die anderen 17 Millionen) bestimmen, wer wohin reisen darf, wer welche Meinung laut sagen darf, wer demonstrieren darf, wer willkürlich festgenommen wird usw. … Es gab auch den lakonischen Spruch in der Bevölkerung zur Ausreisebewegung: ‚Der Letzte macht das Licht aus.’

Die Gorbatschow-Zeit

Dass die Stadt geteilt war, es also noch ein anderes Berlin gab, dass da zwei U-Bahnlinien und eine S-Bahnlinie mitten durch Ost-Berlin fuhren, die man nicht benutzen darf und man dann auf der Friedrichstrasse steht und unter sich die U-Bahn rumpeln hört …. das war schon seltsam, irgendwie. Da weiß ich nicht, wie lange ich das noch ausgehalten hätte, nein, ich weiß es nicht. Ab Mitte der 80-er Jahre, also von der Gorbatschow-Zeit an wurde die Situation zunehmend interessanter. Mein eigenes politisches Interesse hatte sich auch weiter entwickelt.

hpd. Was ist unter „Gorbatschow-Zeit“ zu verstehen?

Naja, es beschreibt die Zeit, in der die DDR-Regierung Probleme bekam mit der Sowjetunion als das große Vorbild. Der Automatismus, alles was von dort kommt, sei richtig, war mit Glasnost und Perestroika vorbei. Früher hieß es immer von oben: ‚Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.’ Und nun wurde denen da oben ihr eigenes Zitat vorgehalten. Und da konnten sie damit nicht so richtig umgehen. Man konnte die Ideen aus der Sowjetunion (Glasnost = Offenheit, Transparenz, Informationsfreiheit; Perestroika = Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung) nicht so einfach verteufeln, da sie ja nun mal vom ‚großen Bruder’ kamen. So stand die Regierung unter Begründungszwang, warum der Weg, den die Sowjetunion eingeschlagen hatte, nicht auch in der DDR möglich sein sollte.

Kunstgriffe wurden eingesetzt. 1987 bis 1988 zum Beispiel gab es plötzlich Schwierigkeiten, deutschsprachige russische Zeitschriften zu bekommen, sie wurden einfach nicht mehr vertrieben, also quasi verboten. Das Sputnik-Heft gehörte dazu. Das Heft war beliebt. Eine verbotene Ausgabe hatte sich mit der Stalin-Zeit auseinander gesetzt, mit dem Fakt, das Stalin vor oder auch während des 2. Weltkrieges Säuberungsaktionen in der sowjetischen Armee durchführen ließ, was zu der These führte, dass die Sowjetunion zwar als eine Siegermacht aus dem 2. Weltkrieg hervorging, aber nicht wegen, sondern trotz Stalin.

Diese Zensur wurde sogar innerhalb der SED diskutiert. Einer meiner Kommilitonen war SED-Mitglied und hatte eine Eingabe geschrieben, mit der er sich über das Verbot des Sputnik-Heftes beschwerte. Er wurde zu einem Gespräch eingeladen, und durfte dieses Gespräch mit einem Walkman aufzeichnen. Den Tonbandmitschnitt habe ich dann abgetippt, und das Gespräch wurde fotokopiert und weitergereicht. Die offizielle Position formulierte der Chefideologe des SED-Politbüros Kurt Hager 1987 dann in einem Interview mit dem ‚Stern’: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Danach wurde er dann von vielen verächtlich Tapeten-Kutte genannt.

hpd: In aktuellen Gesprächen taucht immer wieder der Aspekt von Zukunfts-Angst auf, die es in der DDR nicht gegeben habe.

Na ja, die Grundsicherung war da und letztendlich wurde jeder umsorgt, ob er wollte oder nicht. Jeder durfte arbeiten, jeder musste arbeiten. Es gab die soziale Sicherheit, aber auf niedrigstem Niveau. Jeder hatte eine Bleibe, Wohnung sage ich absichtlich nicht, denn die zu bekommen war schwierig. Bei den Eltern auszuziehen in eine eigene Wohnung scheiterte daran, dass man ohne Heirat und ohne Kind lange auf eine Wohnungszuweisung warten musste.

Ich hatte meine Wohnung als Ausbau- – also renovierungsbedürftige – Wohnung bekommen. Die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) hat die Materialkosten übernommen und hatte ich die Wohnung wieder bewohnbar gemacht, mit Außen-WC (AWC), aber immerhin hatte ich mein eigenes AWC, musste es mit keinem Nachbarn teilen.

Einen Telefonanschluss zu bekommen war schwierig. Es gab sehr lange Wartezeiten. Ich hatte keines und meine Freunde auch nicht. Die Eltern hatten meistens ein Telefon. Und wie es in den DDR-Kaufhallen aussah, das weiß ich eigentlich gar nicht mehr. Das Angebot war jedenfalls sehr übersichtlich.

 

hpd: Wenn wir die Zeit zurück drehen, hättest du der DDR Regierung eine Empfehlung geben mögen, die das Ende hätte verhindern können?

Nein, es gab nur die beiden Alternativen: Diktatur oder Demokratie mit persönlichen Freiheiten, wie Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit. Und Demokratie bedeutete aber auch, dass die alte DDR-Führung rechtsstaatlich zur Verantwortung gezogen wird für die Mauertoten, Wahlfälschung, Stasi-Aktionen usw. Das letzte wollten die Leute natürlich vermeiden. Die ersten demokratischen Wahlen haben gezeigt, die Mehrheit der DDR-Bürger wollte die Wiedervereinigung und das muss man als Demokrat akzeptieren.

Andererseits war die DDR aber auch ökonomisch überhaupt nicht mehr haltbar. Der Lebensstandard sank schon seit vielen Jahren, die Bausubstanz zerfiel. Beim Altbaubestand hatte es die DDR in 40 Jahren in Berlin gerade mal geschafft, eine Handvoll Häuser in der Husemannstraße zu sanieren – die restliche Altbausubstanz zerfiel stetig. Die DDR war zahlungsunfähig und hing am Tropf der BRD. Ich erinnere an den von Strauß vermittelten Milliarden-Kredit. Die DDR war weder ökonomisch noch politisch alleine existenzfähig.

hpd: Wie hast Du den 40. Jahrestag der DDR, den 7. Oktober 1989 erlebt?

Es gab vor dem 9. November öffentliche Erklärungen von Schauspielern, Rock-Musikern, die Veränderungen forderten, es gab die Gründung des Neuen Forums. Anfang Oktober, dann als die Ausreisewelle über Ungarn immer mehr zunahm, nachdem Ungarn seine Grenze zu Österreich geöffnet hatte, setzte die DDR den visafreien Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei aus, damit die offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober nicht von Nachrichten über weiter steigende Ausreisezahlen überschattet werden. Die Tschechoslowakei war bis dahin das letzte Land, in das DDR-Bürger ohne Ausreise-Visum fahren durften. Man konnte die DDR also nicht mehr ohne Ausreise-Visum verlassen. So zynisch es vielleicht klingt, ich war von dieser Idee begeistert. Bisher hat die DDR immer nur die wenigen aktiven Oppositionellen geärgert, und nun hatte sie sich mit allen 17 Millionen Einwohnern angelegt, indem man ihnen den letzten Rest Reisefreiheit beschnitt.

Ich fand die Idee genial – eine Handvoll SED-Greise gegen den Rest der DDR. Ich war guter Hoffnung und dann kam der 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989.

In der Volksbühne fand an diesem Tag um 11.00 Uhr eine Veranstaltung zur kritischen Auseinandersetzung mit der DDR statt. Von meinem Fenster aus sah ich links vor meiner Haustür ein Auto warten. Ob es mir galt, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich bin dann aus meinem Haus raus, zügig rechts die Straße lang in Richtung U-Bahnhof gegangen. Das Auto startete, folgte mir, fuhr die Einbahnstraße verkehrt herum rein und hielt neben mir. In dem Auto waren drei Männer. Freundlich wurde mir mitgeteilt, ich hätte nur zwei Möglichkeiten: Ich könne wieder nach Hause gehen oder sie würden mich mitnehmen, also festnehmen. Ich bin dann zurück in meine Wohnung gegangen und wurde dabei bis zur Haustür begleitet. Ich wollte aber trotzdem zu dieser Veranstaltung und habe dann noch einen Versuch gestartet. Ich bin diesmal nicht durch die Haustür, sondern über den Hinterhof, über die Mauer geklettert … und bin einem der drei Stasi-Männern direkt in die Arme gelaufen. Auf dem Rückweg zur Wohnung hatte ich nun wieder eine Begleitung. Zufällig traf ich auf diesem Weg ein paar Freunde. Wir begrüßten uns und ich war erleichtert, nicht mehr allein mit den Stasi-Leuten zu sein.

Mir wurde von den Stasi-Leuten nun mitgeteilt, dass ich für diesen Tag Innenstadt-Verbot habe. Der Anlass war klar: Nach der Kommunalwahl am 7. Mai gab es die Treffen als Protest gegen die Wahlfälschung immer am 7. eines jeden Monats und nun war der 7. Oktober gleichzeitig der 40. Jahrestag der DDR.

Konkret durfte ich nur bis zur Dimitroffstraße und nicht weiter. Meine Freunde und ich, wir sind dann in der Straßenbahn die Dimitroffstraße entlang bis zur Schönhauser Allee gefahren. Ein Stasi-Mann hat uns in der Straßenbahn begleitet, die beiden anderen sind mit dem Auto nebenher gefahren. Zu Fuß sind wir dann zur Gethsemanekirche gelaufen. Dort war auch an diesem Tag eine Mahnwache für zu unrecht Inhaftierte mit vielen Menschen. Das war für mich der beste Schutz. Ich wollte nicht festgenommen werden und wenn schon, dann auf gar keinen Fall irgendwo alleine, wo es keiner mitbekommt. Irgendwann haben mich die drei dann wohl aus den Augen verloren. Abends kam dann auch noch die Demonstration gegen die Wahlfälschung vom Alexanderplatz zur Gethsemanekirche. Für mich ist der 7. Oktober somit glimpflich verlaufen. Ich bin dann spät nachts wieder nach Hause gegangen. Andere Menschen sind an diesem Abend festgenommen worden und es gab auch Gewaltexzesse seitens der Polizei und der Stasi.

hpd. Gab es weitere 'fürsorgliche' Belagerungen?

Nein, mir gegenüber nicht. Ich habe jedenfalls nichts davon mitbekommen. Ich habe immer versucht, mich im Hintergrund zu halten. Im Oktober gab es dann die Absetzung von Honecker und die Diskussionen wurden immer öffentlicher.

hpd: Und wie hast Du den 9. November 1989 erlebt?

Nachdem dann die DDR-Führung nach der friedlichen Montags-Demo am 9. Oktober in Leipzig von ihrer Politik der Unterdrückung jeder oppositionellen Meinung abrückte zu einer Politik des Dialogs, wurden sogar die DDR Nachrichten spannend. Am 9. November wurde im DDR-Fernsehen gegen 19.00 Uhr eine Pressekonferenz von Schabowski live übertragen, und die hatte ich bei einem Freund gesehen. Da hieß es, jeder DDR Bürger könne ein Visum beantragen und könne damit in die BRD ausreisen. Ich bin dann nach Hause gegangen, das war am Mittwochabend, und habe so gedacht, naja, das dauert bestimmt ein paar Tage mit der Bürokratie, bis man das Visum dann bekommt.

Am nächsten Tag bin ich dann wie immer zur Arbeit gegangen. Es war total spannend, was in den vergangenen Stunden alles gelaufen war. An richtige Arbeit war an diesem Tag nicht zu denken. Ich habe die ganze Zeit – wie immer – nebenbei das Radioprogramm vom SFB und Radio 100 gehört, um neues zu erfahren. Gegen 14 Uhr – zwei Stunden vor Ende der offiziellen Arbeitszeit – wurden wir nach Hause geschickt. Auf dem Nachhauseweg habe ich dann vor den Meldestellen lange Schlangen von Menschen gesehen, die ein Visum beantragen wollten.

Bei dem Freund, bei dem ich am Abend zuvor die Pressekonferenz gesehen hatte, war nur seine Freundin zuhause. Er war noch in der Nacht zuvor nach West-Berlin gegangen, aber noch nicht wieder zurück. Seine Freundin und ich, wir sind dann beide zur Oberbaumbrücke gefahren und dort ohne Visum, nur mit dem Personalausweis dann rüber gegangen nach Kreuzberg. Dort haben wir dann auch ihren Freund wieder getroffen, sind dann zu deren Verwandten in Schöneberg gefahren und haben mit ihnen das ganze Wochenende in West-Berlin verbracht. Ich bin dann erstmal bis Sonntagnacht dort geblieben, weil ich dachte, dass ich für den nächsten Besuch in West-Berlin bestimmt ein Visum brauchen und die Bearbeitung einige Zeit dauern würde. Die drei Tage erlebte ich wie in Trance – es wirkte alles irgendwie unwirklich. Aber es war angenehm.

Sonntagabend war ich dann auch am Ku-Damm, dann auf der Potsdamer Straße einen Freund besuchen und nachts um 3 Uhr erst wieder zu Hause, hab am Montag verschlafen, dann zur Arbeit, habe mich entschuldigt. Es war dann wie ein Sog für mich, Dienstag musste ich wieder „rüber“, und dann alle paar Tage wieder, meistens Freunde besuchen. In Deutschland ist es eben so, findet eine Revolution statt, wird doch gearbeitet.

Das war der 9. November 1989 für mich.

 

Wir bedanken uns bei Mathias Thiede.

Interview: Evelin Frerk, Assistenz: Katharina Eichler.

 

Die anderen Gespräche:

Gespräch (5): „Der Baum der Verwandlung blüht ewig.“

Gespräch (4): „...und irgendetwas gab es immer nicht.“

Gespräch (2): „Wir waren zwar alle aufgeklärte Marxisten...“

Gespräch (1): „Leben im Wandel des ‚Systems'"