„Trotz Revolution wird doch gearbeitet“

 

hpd: Auf welcher Ebene waren die Verantwortlichen für die Fälschung der Wahlergebnisse angesiedelt?

Der rbb hat am 23. April 2009 einen Dokumentarfilm über die Wahlfälschunggesendet (hier der Trailer) - der am 30.10.2009 um 11:05 auf einsextra wiederholt wird -, in dem sich auch ein damaliger Bezirksbürgermeister von Berlin dazu geäußert und aufgeklärt hat, dass die Auszählung in den Wahllokalen weitestgehend korrekt verlaufen sind, aber bei der Zusammenzählung in den Rathäusern manipuliert wurde anhand von Vorgaben zentraler Stellen. Der Dokumentarfilm berichtete, dass der Bezirksbürgermeister geradezu erbettelt hat, mehr Nein-Stimmen haben zu dürfen, und diese ihm daraufhin zum Teil zugebilligt worden waren. Das heißt, dass um die offiziellen Nein-Stimmen geschachert worden war.

hpd: Wie war für dich die erste freie Wahl, die du erlebt hast?

Ja, das war am 18. März 1990. Es war befreiend für mich, dass ich eine richtige Auswahl hatte und abstimmen konnte. Enttäuschend war dann allerdings, dass die CDU so hoch gewonnen hatte und die Gruppen, die die Wende mit angestoßen hatten – damals eben Bündnis 90 –, so hinter heruntergefallen waren. Aber das muss man akzeptieren, das ist Demokratie.

hpd: Hätte eure Initiative der Wahlbeobachtung auch schon einige Jahre vorher sein können?

Alle zwei … drei Jahre hatte eine Wahl stattgefunden, immer abwechselnd: Kommunalwahl und Volkskammerwahl. – Mhm, ich weiß nicht, vielleicht hätte eine solche Initiative auch schon früher stattfinden können, wäre aber vielleicht an Problemen gescheitert, wie Verweigerung des Zutritts zum Wahllokal … aber das alles sind nur Spekulationen.

Es war ja für die SED-Führung ein Abwägungsprozess. Sie wollte möglichst demokratisch erscheinen, um den Westmedien wenig Anlass zur negativen Berichterstattung zu bieten. Deshalb gab es für uns keine Probleme, in den Wahllokalen die Auszählung zu beobachten. Die DDR musste abwägen - was würde schwerer wiegen – den Zugang zur Wahlauszählung zu verweigern oder mit den Ergebnissen der Wahlbeobachtung konfrontiert zu werden. Eine wichtige Rolle spielte für uns, dass Gorbatschow in der Sowjetunion seit Mitte der 80-er die Führung hatte und Umwälzungsprozesse dort stattfanden, denen sich die DDR nicht so leicht entziehen konnte.

Die Stimmung

hpd: Du berichtest alles ruhig und scheinbar ganz gelassen. Wie war die Stimmung damals?

Ja, spannend, und manchmal ein kleines bisschen beängstigend. Willkür war ein Aspekt in der DDR, mit dem man leben musste, so dass kleine Aktionen große und repressive Resonanzen nach sich ziehen konnten, während andere bei anderen größeren Dingen manchmal nichts geschah. Das heißt, dass man wegen einer kleinen Straftat festgenommen werden konnte und es völlig ungewiß war, wann man wieder ‚raus' kam. Eine kleine Sache beispielsweise hätte sein können, groß und deutlich Gorbatschow an eine Hauswand zu schreiben. Vielleicht wäre die Reaktion harmlos gewesen, und man wäre nur für einen Tag festgenommen worden, aber man hätte dafür auch gleich für einige Monate inhaftiert werden können. Die DDR und die Stasi waren unberechenbar, es konnte aus einer Mücke ein Elefant gemacht werden und deshalb waren wir vorsichtig. Aber wir gingen trotzdem davon aus, dass die Stasi von unserem Vorhaben wusste. Bei so vielen Beteiligten konnte dies nicht geheim gehalten werden. Wir versuchten daher gar nicht erst, konspirativ zu sein. Aber im Rückblick ist es schon erstaunlich, dass wir überhaupt nicht behindert wurden.

hpd: Hat das Mitmischen, das Eingreifen, in Deinem Leben etwas verändert?

Es war für mich notwendig. Ich musste es tun, es war befriedigend, denn ich wurde tagtäglich in der DDR provoziert.

Die Zeitungen in der DDR hatten so geschrieben, dass ich nicht umhin konnte zu überlegen, was denken die, wie blöd der Zeitungsleser sei. Die Artikel in der „Jungen Welt“ – das war die Tageszeitung für Jugendliche – waren zum Teil beleidigend, indem sie die Leser für dumm verkauften. Da stand tatsächlich, dass in Westdeutschland viele Kinder barfuss zur Schule gingen, weil sie kein Geld für Schuhe hätten. Das Lebensniveau in der DDR wurde mit dem in der Bundesrepublik anhand der Briefmarken- und Brötchenpreise verglichen, die in der DDR niedriger waren, und daraus wurde gefolgert, dass das Leben in der DDR viel besser sei. Kein Wort davon, dass im Westen die Löhne viel höher waren. Das war schon provokativ. Es ging mir schon darum, meine Wut darüber herauszulassen. Lässt sich auch mit jugendlichem Tatendrang beschreiben und ist vielleicht ähnlich wie bei den 68-ern. So wussten wir, das System war ähnlich vermufft, es sollte schon etwas in Bewegung kommen und etwas passieren. Der Druck war da, dass die DDR so nicht funktioniert, und ich wollte dabei sein.

hpd: Du warst zu dem Zeitpunkt Student?

Bis 1988 hatte ich Elektrotechnik studiert und danach beim VEB Messelektronik Berlin gearbeitet. Ich war dort Prüftechnologe. Ich hatte keine Karriere geplant und hätte dort die nächsten 40 Jahre bleiben können oder sollen und dürfen. Aber das sollte nicht alles in meinem Leben bleiben. Da war die Wahlauszählung spannend. Da ich in Friedrichshain wohnte, habe ich mich dort beteiligt.

Eine Wahlbeobachtung fand auch in Weißensee statt. Die Kunsthochschule Weißensee hatte ein Wahllokal incl. Beobachtung. Das Wahlergebnis dort ergab 50,72 % Nein-Stimmen und das obwohl die Studenten unter politischem Druck standen – und man dem Staat, der die Schul- und Hochschulausbildung finanzierte, auf ewig dankbar zu sein hatte. So gesehen war das Wahlergebnis in Weißensee  eine kleine Sensation, die sich nirgendwo in der DDR wiederholte.

Andererseits gab es an den Hochschulen und auch bei den Philosophen und Marxisten mehr und weitergreifende Diskussionen. Marxismus-Leninismus war an allen Hochschulen Plicht und da waren die Diskussionen weit offener als sonst bei den Funktionären.

hpd: Wie ging es dann weiter?

Nach der Wahl am 7. Mai mit der Wahlauszählung und der Fälschung sprach es sich herum, dass man sich an jedem 7. eines jeden Monats trifft, um gegen die Wahlfälschung zu protestieren.

Wir sind das Volk

Am 7. Juni 1989 trafen sich die Menschen in und vor der Sophienkirche im Scheunen-Viertel in der Großen Hamburger Straße. Treffen dieser Art sprachen sich durch Mundpropaganda herum und durch die Umwelt-Bibliothek, deren Umwelt-Blätter in der damaligen Zeit eine der wenigen DDR-unabhängigen Informationen waren und in opposotionellen Kreisen viel gelesen wurden. Die Blätter wurden unter dem Dach der Zionskirche gedruckt und dann verteilt.

Ungefähr 100-200 Menschen standen dort vor der Sophienkirche. Plötzlich wurden wir alle festgenommen und mit zwei Touristenbussen abtransportiert. Ein Bus fuhr zur Stasi-Zentrale in die Magdalenenstraße. Der andere Bus fuhr in die U-Haftanstalt in Rummelsburg und dort wurden wir mehrere Stunden festgehalten. Es war relativ entspannt. Wir wussten, so viele Menschen konnte man nicht einfach verschwinden lassen. Es gab Zeugen, die Aktion fand vor der Kirche statt, und wir gingen davon aus, dass sich die Kirchenoberen darum kümmern würden, dass wir wieder raus kämen.

Es gab dann zwar Verhöre, aber die waren nicht dramatisch. Uns war bekannt, das hatte sich rum gesprochen, dass, wenn man keine Auskunft gab, meist nicht viel passierte. Wenn man aber etwas zur Sache aussagte, dann wurde es gegen einen benutzt. Also, warum ich dort an der Sophienkirche festgenommen wurde, wurde ich gefragt – das wisse ich auch nicht, habe ich darauf geantwortet. Und mein Vernehmer kannte aber auch keine Einzelheiten. Das Verhör war nicht ergiebig – schließlich hatte ich ja auch nichts gemacht, außer in einer Menschenmenge herumzustehen. Nachts um 3 Uhr bin ich wieder frei gelassen worden. Alle kamen nach und nach raus. Am nächsten Tag bin ich wieder normal zur Arbeit gegangen, und das war es dann.

 

 

Also Treffen waren dann immer am 7. des Monats. Einmal ist es dann passiert, dass mich an solch einem Tag auf dem Weg zur Arbeit ein Auto vermutlich verfolgt hat. Mit absoluter Sicherheit kann ich nicht sagen, ob es mir galt. Es war ein Wartburg, und in meinem Büro angekommen blieb der Wagen den ganzen Tag gegenüber von meinem Betrieb auf der anderen Straßenseite stehen. Ich konnte ihn aus dem Fenster heraus sehen. Bei einem Betrieb mit über 100 Leuten kann dass jedem gegolten haben. Aber ich vermutete, es ging darum, mich daran zu hindern, an diesem 7. auf den Alexanderplatz zu gehen. Dort war inzwischen der Treffpunkt. Dieser zentrale Platz bot Schutz, zumal dort viele Touristen waren und insgesamt eine große Öffentlichkeit. Zum Betriebschluss bin ich mit den anderen Kollegen und, ohne mich umzudrehen, rausgeströmt, im Berufsverkehr untergetaucht und so vom Bahnhof Ostkreuz zum Alexanderplatz zum Treffpunkt des stillen Protestes gefahren.

Es hätte mich schon interessiert, ob ich nur diesen Verdacht gehabt hatte oder ob es tatsächlich eine Überwachung oder auch eine Warnung gewesen ist.

Es gab noch zwei weitere Aktionen, also Besuche tagsüber an meiner Wohnungstür, aber ich war beide Male nicht zuhause. Einmal hat man bei einer Nachbarin nach mir gefragt. Man wollte mich wohl davor warnen, zu den Treffen am 7. des Monats zu gehen, wusste aber offenbar nicht, dass ich tagsüber arbeite. So gut informiert war die Stasi dann wohl doch nicht.