„...und irgendetwas gab es immer nicht.“

„Wenn Sie jetzt einen großen Zeitsprung machen von 1968, 10, 15, 19 Jahre weiter …“

„In Polen ging es mit Solidarnosc weiter. Uns hat man in die Betriebe bestellt, begann zu agitieren, um uns auf den Sozialismus einzuschwören. Die Bewegung in Polen sei angeblich von außen gesteuert und wieder kamen Gedanken auf, Mensch, das kann doch nicht alles gut sein. Es gibt doch Werte wie Freiheit, Veränderung. Ja, so war das damals und ein Punkt kam zum anderen.“


„Wann war es für Sie nicht mehr zu übersehen, dass es ein Volk gab, das dieses System so nicht mehr wollte?“

„Als Gorbatschow an die Macht kam. Man sah ihn als Hoffnungsträger an und wir haben schon gewaltige Veränderungen gemerkt. Wir wurden vom Betrieb aus zur damaligen Karl-Marx-Allee geschickt und die sind ihren Tschaikas nur durchgerast, während wir da standen als Wachsfiguren und konnten noch nicht einmal etwas sehen. Ich denke, man wollte ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit Gorbatschow unterbinden. Er war als Hoffnungsträger bei Honecker nicht so gerne gesehen. Es heißt doch, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und das hat sich nun bewahrheitet.“


„Sie sagen sehr deutlich, Sie seien kein politischer Mensch sondern ein Familienmensch und gut war es für Sie, in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem möchte ich nachfragen: Wie war es bei Ihnen und Ihren Freunden, Kollegen, haben sie den Politikern eher geglaubt oder eher hier rein, da raus?“

„Den Politikern geglaubt? … Zum Beispiel die Wahlbeteiligung oder Planerfüllung? Nein, es war doch mehr eine Misswirtschaft und irgendetwas gab es immer nicht. Immer hat was gefehlt, ob es Waschmittel war oder Fleisch, und dann haben sie von 110 Prozent Soll-Erfüllung gesprochen. Nein, da hat doch keiner mehr zugehört …. “


„Gab es Politiker, denen geglaubt wurde?“

„Vor der Wende sicherlich. Modrow aus Dresden zum Beispiel. Was er dann später gemacht hat, das ist eine andere Sache, der hat die Stasi sich selbst auflösen lassen. Ob das nun richtig war? Ganz gewiss nicht.“

„Hatten Sie persönlich oder durch Ihre Arbeit Kontakt mit der Stasi?“

„Nein. Dass Hausmeister und so viele Bürger für die Staatssicherheit gearbeitet haben oder auch angestellt waren, das war und ist mir unverständlich. Ich war entsetzt darüber, dass man so viele Leute dazu rekrutiert hatte.“


„Haben Sie Anhaltspunkte zur Stasi in Ihrem Privatleben?“

„Einen. Ich hatte mich beworben und meine alte Nachbarin von gegenüber kam mit: ’Du Dieter, hier waren zwei Leute, die haben sich nach Dir erkundigt, was Du so machst und wo Du so mit Deinem Motorrad rum fährst, welchen Umgang Du hast.’ Da war mir schon klar, dass ich überprüft worden war.“

„Sie sprachen von Misswirtschaft. Wie war es mit einem Auto.“

„Ich hatte mein Motorrad verkauft und mir für 6.000 Ostmark einen 10 Jahre alten Trabant gekauft, schön grau war er. Es ging gleich los, erst war der Motor kaputt und wenn man keinen in der Werkstatt kannte, musste man lange warten. Erst hat es gedauert, bis die Ersatzteile angeschafft wurden, dann waren keine Termine frei. Zwölf Jahre habe ich dann auf einen neuen Trabant gewartet und zwei Jahre vor der Wende war er dann da.“

„Fährt er noch?"

„Nein, den hat einer zu Schrott gefahren.“

Hochhäuser rechts und links der Mauer

Beispielbild
Springerhochhhaus (2009) mit Spruchband 

 

„Leipziger Straße, also Ihr Arbeitsplatz, war in Sichtweite der Grenze und mit einer Höhe von 13 Stockwerken überragten die Häuser die Mauer. Konnten sie rüber gucken?“

„Nur begrenzt. Natürlich haben wir erst nach der Wende erkannt, wie hell die Schaufenster waren, überhaupt die Läden, die Straßen, die Beleuchtung …, Reklame, das war dann, wie wir alles sehen konnten, einfach überwältigend. Den Straßenverkehr, die Leute, das konnten wir wohl erkennen, aber die Einzelheiten eben doch nicht.“


„War es überhaupt für Sie interessant, hinzugucken?“

„Interessant schon, aber ich kam ja sowieso nicht in den Westen. Es gab ja keinen Ausweg. Verwandte hatte ich nicht im Westen. Einen Ausreise- oder Besuchsantrag stellen konnte ich nicht, wie also sollte ich dahin fahren?“


„Wussten Sie von Republik-Flüchtlingen?“

„Ja, schon. Entweder, dass sie erschossen wurden. Das haben wir im SFB gesehen. Oder, wenn es aus dem Bekanntenkreis jemand war, dann hieß es, Du, der wollte abhauen, den haben sie verhaftet, eingesperrt. Die Republik-Flüchtlinge, die nicht raus kamen, waren meistenteils zwei bis drei Jahre im Gefängnis und wurden dann ausgetauscht, also freigekauft.“

„Welche Gefühle traten bei Ihnen auf?“

„Eine Verhärtung, denn eigentlich konnte ich die Menschen nicht richtig verstehen. Der Druck musste so groß gewesen sein und oft haben sie ihre Familie verlassen und die Kinder blieben hier zurück.“