"Manifest des evolutionären Humanismus"

Das "Manifest des evolutionären Humanismus" ist eine der bemerkenswerten Schriften, um eine eigenständige humanistische Weltsicht und Ethik

jenseits von christlichen oder theologischen Vorstellungen zu formulieren.

Anlässlich der zweiten Auflage hat sein Autor Michael Schmidt-Salomon ein Nachwort geschrieben, in dem er auch auf eine Anzahl von Diskussionspunkten eingeht:

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Keiner der Beteiligten - weder der Autor noch die Giordano Bruno Stiftung noch der Verlag - hatte erwartet, dass die verhältnismäßig hohe Erstauflage des Manifests des evolutionären Humanismus schon innerhalb eines halben Jahres vergriffen sein würde. Unser Dank gilt allen, die zur Verbreitung dieser Schrift beigetragen haben. Ich persönlich möchte mich zudem bei den vielen Leserinnen und Lesern bedanken, die sich per Brief, Fax oder Email an mich wandten oder in Internetforen über das Manifest diskutierten. Auch wenn ich aus Zeitgründen leider nur einen Bruchteil der Rückmeldungen beantworten konnte, so habe ich doch alle Kommentare, die mir zur Kenntnis kamen, gewissenhaft gelesen und auch versucht, die in ihnen enthaltenen Verbesserungsvorschläge in dieser zweiten Auflage des Buchs zu berücksichtigen.
Erfreulicherweise waren die meisten Reaktionen auf das Manifest ausgesprochen positiv, offensichtlich konnten sich viele Leserinnen und Leser in der Argumentationsweise des Buchs wiederfinden. Hin und wieder gab es allerdings auch - durchaus nicht unerwartet - vernichtende Kritik. Diese wurde vornehmlich von zwei gegensätzlichen weltanschaulichen Fraktionen vorgetragen, nämlich einerseits von Vertretern der religiösen Rechten (deren „Kritik" sich meist auf kreative Drohgebärden wie „Du wirst brennen wie Giordano Bruno!" beschränkte) sowie andererseits von Anhängern der „dogmatischen Linken ". Letztere taten sich insbesondere dadurch hervor, dass sie die berechtigte scharfe Kritik am Sozialdarwinismus bzw. an philosophischen Fehlinterpretationen der Soziobiologie in grotesker Weise übergeneralisierten, so dass der „evolutionäre Humanismus" in ihrer Lesart zu einer „brutalen Herrschaftsideologie" mutierte.
Sicherlich: Von Seiten religiöser Fundamentalisten hätte man kaum etwas anderes erwarten dürfen, doch der Mangel an theoretischem Differenzierungsvermögen, den manche vermeintlich „linke" Kritiker an den Tag legten, war schon einigermaßen verblüffend. Offensichtlich genügten bei ihnen schon „verdächtige Stichworte" wie „Evolution", „Eigennutz" oder „Tierrechte" bzw. die Zitation „umstrittener Autoren" wie Richard Dawkins oder Peter Singer, um heftigste Aversionsreflexe auszulösen, in deren Folge sie ihr notdürftig zusammengegoogeltes Halb-, Viertel- oder Achtelwissen zu kruden Verschwörungstheorien zusammenbrauten...
Weitaus interessanter und auch inhaltlich ergiebiger waren demgegenüber die Reaktionen liberal-aufgeklärter Christen. Viele von ihnen gaben an, dem Buch inhaltlich einiges abgewinnen zu können, abstoßend erschien ihnen aber die Form, genauer: die scharfen, von ihnen als polemisch empfundenen Angriffe auf den religiösen Glauben. Da auch einige konfessionslose, nichtreligiöse Leserinnen und Leser meinten, dass die religionskritischen Attacken (gerade in Bezug auf das gegenwärtige europäische Christentum) zu hart ausgefallen seien (inhaltliches Argument) und dass dies einem noch größeren Verbreitungsgrad des Buchs im Wege stehen würde (strategisches Argument), möchte ich auf diesen Themenkomplex anhand der folgenden sieben Anmerkungen etwas genauer eingehen:
Erstens: Es wäre ein Fehler, würde man die religionskritische Aussage des Manifests so verstehen, als ob in dem Buch behauptet würde, dass alles, was im Rahmen religiöser Traditionen entstanden ist, was „religiöse" Menschen in der Geschichte leisteten (und auch heutzutage leisten), unsinnig oder inhuman wäre. Selbstverständlich enthalten sämtliche Religionen als kulturelle Schatzkammern der Menschheit neben einem Arsenal fehlerhafter Seinserkenntnisse und inhumaner Sollenssätze viele wertvolle Elemente, die auch heute noch erhaltenswert sind. Es ist doch gar nicht zu bestreiten, dass die Religionen Sachwalter eines „impliziten Wissens" sind, welches sich die Menschheit im Verlauf ihrer kulturellen Evolution durch Versuch und Irrtum erworben hat. Allerdings stellen die Religionen als Religionen keineswegs die bestmöglichen Sachwalter eines solchen impliziten Wissens dar. Warum? Weil sie aufgrund ihrer Ansprüche auf überhistorisch gültige, aus vermeintlich „höheren Quellen" stammende Erkenntnisse das auch in Zukunft immer wieder notwendige Lernen über Versuch und Irrtum (d. h. die kritisch-rationale Methode) untergraben. Genau hier liegt der Schwerpunkt der evolutionär-humanistischen Religionskritik. Wie gesagt: „Dass sich bestimmte Personen oder Personengruppen durch das Aufstellen 'heiliger' (d. h. unantastbarer) Spielregeln jeglichem kritischen Zugriff entziehen und dadurch eigene Denkfehler als verbindlich in die Zukunft fortschreiben, kann und darf in einer modernen Gesellschaft keine akzeptable Praxis mehr sein!"
Zweitens: Große Schwierigkeiten bereitete einigen liberal-christlichen Leserinnen und Lesern die im Manifest vollzogene Trennung zwischen dem Idealtypus der christlichen Religion und ihrer aufklärerisch gezähmten „Light-Variante". Selbstverständlich gehen die allermeisten „Christen" hierzulande nicht mehr (bzw. noch nicht!) von unbedingten, kritisch nicht zu hinterfragenden Glaubenssätzen aus. Insofern sind sie von der evolutionär-humanistischen Kritik am Reintypus der Religion bzw. des Christentums gar nicht direkt betroffen. Liberale Christinnen und Christen geraten nur deshalb ins Visier der Kritik, weil ihnen ganz offensichtlich das Gespür für die prinzipielle Unverträglichkeit von aufklärerischem und religiösem Denken fehlt. Es ist schon einigermaßen absurd, wenn sich Menschen, die weder an einen göttlichen Heilsplan noch an die reale Existenz von Hölle und Teufel noch an die Auferstehung der Toten glauben, als „Christen" bezeichnen. Eine echte, vitale Religion lebt nun einmal davon, dass die Gläubigen ihre zentralen Glaubensfundamente ernst nehmen, statt diese als mehr oder weniger unverbindliche Metaphern („Das war doch alles gar nicht so wörtlich gemeint!") zu entschärfen! Wie weit die christliche Dogmen- bzw. Selbstverleugnung dabei gehen kann, zeigte kürzlich ein Vortrag eines Verantwortlichen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin. Dieser versuchte, die im Manifest des evolutionären Humanismus entwickelte Christentumskritik durch einen saloppen Vergleich auf die Schippe zu nehmen: Wer die Bibel heute noch so wortgetreu auslege wie der Autor des Manifests, meinte der EZW-Experte, der verhalte sich ähnlich naiv, wie jemand, der nach der Lektüre von „Hänsel und Gretel" aufgeregt beim Jugendamt anrufe. Eine schöne Pointe gewiss, doch eines schien der EZW-Experte bei dieser humorigen Attacke völlig übersehen zu haben, nämlich dass er mit diesem Vergleich die Bibel (unfreiwillig?) auf eine Stufe mit „Grimms Märchen" stellte. Ohne Frage: Einem religionskritischen Freidenker würde eine solche Position gut zu Gesichte stehen, nicht jedoch einem offiziellen Repräsentanten der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD).
Drittens: Man könnte sich ja möglicherweise achselzuckend mit den intellektuellen Verrenkungen, dem logisch inkonsistenten Amalgam von aufgeklärtem Denken und archaischem Glauben der Weichfilter-Christen (oder auch der Anhänger des sog. „Euro-Islam") abfinden, bestünde da nicht die sehr reale Gefahr, dass die fundamentalistischen Reintypen der Religionen, deren Bedrohungspotentiale aufgrund der so handzahmen religiösen „Light-Versionen" gerne übersehen werden, mehr und mehr an Attraktivität gewinnen. Gerade liberale, aufgeklärte Kirchen wie die EKD, die häufig nur noch rein sprachlich („Leerformeln") den Kontakt zur christlichen Tradition aufrecht erhält, verlieren immer stärker an Mitgliedern. Zum Teil wandern diese ab in Richtung Säkularismus (wer nicht mehr gezwungen ist, an einen realen göttlichen Heilsplan etc. zu glauben, kann sich auch offensiv zu naturwissenschaftlichen, philosophischen Erklärungsmustern bekennen!), ein sehr beachtlicher Teil der ehemaligen Mitglieder liberaler Kirchen sucht ihre neue geistige Heimat jedoch in fundamentalistischen Gefilden. In evangelikalen Gruppierungen beispielsweise wird die religiöse Botschaft noch ernst genommen, was u. a. den Vorteil hat, dass die religiöse Heilserzählung in sich stimmig bleibt. Ein christlicher Fundamentalist weiß - und das ist sein Vorteil gegenüber dem liberalen (Tauf-) Schein-Christen! -, dass Jesu Erlösungstat „ohne Voraussetzung von Hölle und Teufel in etwa so sinnlos ist wie ein Elfmeterschießen ohne gegnerische Mannschaft". Dem kann der aufgeklärte, humanistisch denkende „Realo-Christ", der bei genauerer Betrachtung recht unbequem zwischen den Stühlen Obskurantismus und Aufklärung sitzt, argumentativ nur sehr wenig entgegen halten. Dies ist einer der Gründe dafür, warum die Mischform der (halbwegs) „aufgeklärten Religion", die in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg besonders populär war, zunehmend in Auflösung begriffen ist.
Viertens: Es sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass es weltweit einen stabilen Trend in Richtung eines konsequenteren Denkens und Handelns gibt. Die Menschen neigen offenkundig immer mehr dazu, entweder auf konsequentere Weise zu glauben oder aber sich aufgrund rationaler Argumente konsequenter gegen den Glauben zu entscheiden. (Selbst in den USA steigt seit Jahren nicht nur die Zahl der religiösen Fundamentalisten kontinuierlich an, sondern auch die Zahl der Konfessionslosen!) Wer dieses Faktum zur Kenntnis nimmt, dürfte sich schwer damit tun, allzu große Hoffnungen auf das europäische Projekt einer „aufgeklärten Religion" zu setzen. Auf Dauer nämlich wird ein solcher weltanschaulicher Flickenteppich auf immer weniger Menschen attraktiv wirken. Wer wirklich glauben will, wird sich kaum auf längere Sicht mit unverbindlichen Metaphern abspeisen lassen, und wer sich für eine humanere, aufgeklärtere Weltsicht engagiert, wird in Zukunft wohl eher das säkulare Original, nicht die halbgare religiöse Kopie bevorzugen! Man mag es vielleicht bedauern, dass die „Religion light" ihre Vermittlungsfunktion zwischen konsequenter Aufklärung und Fundamentalismus verliert, dieses Phänomen zu ignorieren, wäre jedoch töricht. Für Humanisten und Aufklärer heißt dies, dass sie weder die Kritik am Fundamentalismus noch die Kritik an den „Light-Versionen" der Religionen, die tragischerweise den Blick auf das eigentliche Problem des religiösen Wahrheits- und Machtanspruchs verstellen, aufgeben dürfen. Vielmehr müssen sie daran arbeiten, das eigenständige Profil eines konsequenten, aufklärerischen Humanismus zu schärfen und dessen Vorteile gegenüber den religiösen Konkurrenzunternehmen herauszuarbeiten. Dies jedoch kann nur gelingen, wenn man die Konfrontation mit religiösen Fundamentalisten einerseits und „Weichfilterreligiösen" andererseits nicht scheut.
Fünftens: Der „Kampf der Kulturen", der nicht zuletzt durch die „apokalyptische Matrix" der diversen „heiligen Schriften" geprägt ist (vgl. hierzu das unlängst erschienene Buch von Victor und Victoria Trimondi Krieg der Religionen, Wilhelm Fink Verlag, 2006), lässt sich nicht dadurch meistern, dass man seine Existenz leugnet und hofft, das Problem „irgendwie aussitzen" zu können. Wie nicht nur der sog. „Karikaturenstreit" gezeigt hat, befinden wir uns bereits inmitten eines sehr realen, globalen Kulturkampfes. Allerdings verlaufen dessen Fronten keineswegs allein zwischen der „Welt des Islam" und der des „christlichen Abendlandes", wie Huntington meinte, sondern parallel dazu auch zwischen jenen, die immer noch an archaischen Glaubensgewissheiten (gleich welcher Herkunft) festhalten möchten, und jenen, die sich konsequent zu den Werten von Humanismus und Aufklärung bekennen. Wohlgemerkt: Solche Vertreter einer konsequenten humanistischen Aufklärung findet man keineswegs nur in der westlichen Kultur, sondern weltweit - gerade auch in den mehrheitlich muslimisch geprägten Regionen. Es ist ein schwerwiegender politischer Fehler, dass diese Tatsache bislang kaum wahrgenommen wurde! Wie weit die westliche Ignoranz dabei mitunter geht, zeigte pars pro toto die Berichterstattung zum sog. „Manifest der 12", in dem Autoren wie Salman Rushdie, Taslima Nasreen und Ibn Warraq den „muslimischen Totalitarismus" mit scharfen Worten angriffen. In den westlichen Medien wurden die Verfasser, die sich allesamt keineswegs zum Islam, sondern zum säkularen Humanismus bekennen (Warraqs Buch Warum ich kein Muslim bin (!) wird im Manifest des evolutionären Humanismus mehrfach zitiert), als „muslimische Intellektuelle" bezeichnet - eine Absurdität sondergleichen (niemand würde Friedrich Nietzsche, Bertrand Russell oder Karlheinz Deschner als „christliche Intellektuelle" durchgehen lassen!), die nur deshalb nicht als solche wahrgenommen wird, weil den meisten Berichterstattern nicht bewusst ist, dass der säkulare Humanismus, der keineswegs speziell „dem Westen" zuzuordnen ist, eine höchst eigenständige Rolle im gegenwärtigen „Kampf der Kulturen" spielt.
Sechstens: Es mag sein, dass der entschieden religionskritische Ansatz des Manifests gegenwärtig einer größeren Verbreitung des Buchs im Wege steht. Allerdings war es nicht das erklärte Ziel dieser Schrift, unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Vorurteile möglichst marktkonform zu sein, sondern mit Blick auf die Zukunft Klartext zu sprechen, auch auf die Gefahr hin, dass dies einige Menschen verletzen und sie vielleicht auch davon abhalten könnte, sich ernsthaft mit den Inhalten des Buchs auseinander zu setzen. In diesem Zusammenhang sei eines jedoch unmissverständlich festgestellt: So deutlich (und dadurch möglicherweise auch verletzend) die Sprache des Buchs an einigen Stellen sein mag, um „billige Polemik" handelt es sich dabei keineswegs, ist doch jedes Urteil argumentativ belegt. Auch eine „tendenziöse Ungleichbehandlung der Religion" vermag ich nicht zu erkennen. Zwar stimmt es, worauf Gerhard Engel in seiner ansonsten durchaus wohlwollenden Rezension des Buchs (in Aufklärung und Kritik 1/2006) hingewiesen hat, dass ich im Fall des Paulus dessen Rechtfertigung der Sklaverei kritisch angemerkt habe, entsprechende Äußerungen des Aristoteles dagegen jedoch unerwähnt ließ. Der Grund für diese „Ungleichbehandlung" besteht allerdings darin, dass hier in der Tat „Ungleiches" vorliegt: Während nämlich der Brief des Paulus für echte, gläubige Christen nicht kritisierbar ist, weil er als Teil der „Heiligen Schrift" als Ausdruck „göttlicher Inspiration" begriffen wird, gilt dieses für Aristoteles (wie auch für jeden anderen weltlichen Philosophen) nun einmal nicht! So unbestreitbar es ist, dass wir auch außerhalb der Religionen unsinnige Wirklichkeitsmodelle und inhumane politisch-ethische Konzepte finden (wer wollte dies ernsthaft bestreiten!), so sind diese doch im Unterschied zu religiösen Modellen keineswegs „heilig", sondern jederzeit kritisch-rational überprüfbar! Hätte ich bei jedem im Manifest positiv zitierten Philosophen, Wissenschaftler oder Künstler herausgestellt, welche seiner Auffassungen ich nicht teile, so hätte sich der Umfang des Buches leicht verzehnfacht. Glücklicherweise können wir uns eine solche Datenmüllproduktion ersparen, da für jeden kritisch-rational denkenden Menschen evident sein dürfte, dass jede Äußerung jedes Autoren fehleranfällig ist und daher notwendigerweise dem Prinzip der kritischen Prüfung unterzogen werden muss - eine Anforderung, der sich die Religionen idealtypisch entziehen müssen, um ihren Anspruch auf Unantastbarkeit („Heiligkeit") verwirklichen zu können. Anders gewendet: Sollten dereinst der Talmud, die Bibel, der Koran etc. mit der gleichen kritischen Distanz gelesen werden, in der sich rational denkende Menschen anderen historischen Mythensammlungen oder auch den Werken Kants, Schopenhauers, Nietzsches, Darwins oder Freuds nähern, wäre es nicht mehr notwendig, die empirischen Irrtümer, logischen Widersprüche und ethischen Verfehlungen der religiösen Quellentexte in besonderer Weise herauszustellen. Solange es jedoch dabei bleibt, dass Moses, Jesus, Mohammed & Co. ein anderer Status zugebilligt wird als beispielsweise weltlichen Philosophen, muss diese Asymmetrie in der kritischen Auseinandersetzung Berücksichtigung finden. Während wir heute viele Positionen des Aristoteles ganz selbstverständlich als zeitbedingte Irrtümer verstehen und diese mitunter auch milde belächeln, werden vergleichbare Irrtümer der Religionsstifter leider noch immer tödlich ernst genommen! Wer diesen gravierenden Unterschied nicht beachtet, läuft Gefahr, in seiner aufklärerischen Arbeit falsche Schwerpunkte zu setzen.
Siebtens: In der Debatte über das Buch wurde allzu häufig übersehen, dass in ihm ein erweiterter Religionsbegriff verwendet wird, der eben nicht nur die theistischen Offenbarungsreligionen, sondern auch die sog. „politischen Religionen" (bekannteste Beispiele: Nationalsozialismus und Stalinismus) umfasst. Wie ich schon in einem vor längerer Zeit publizierten Aufsatz zur „Kriminalgeschichte des Atheismus" (erschienen u. a. in MIZ 4/00) darstellte, muss der Unterschied zwischen einer dezidiert religiösen und einer dezidiert nicht-religiösen Zugangsweise zur Welt als weit bedeutsamer eingeschätzt werden als der meist überinterpretierte Gegensatz von Theismus und Atheismus. Wie die Geschichte der Pervertierung der marxistischen Philosophie hinreichend gezeigt hat, ist es leider auch für Atheisten allzu leicht möglich, im schlimmsten Sinne des Wortes „religiös" zu denken und zu handeln. Nicht zufällig gab es in der „atheistischen politischen Religion des Stalinismus" all jene Ingredienzien, die jede veritable Religion auszeichnen: „Heilige Schriften", denen man unbedingten Glauben schenken musste, Propheten, die „unantastbare Wahrheiten" verkündigten, (Partei-) Priester / Inquisitoren, die nicht nur in dumpfer Monotonie ihre „heiligen Phrasen" herunterbeteten, sondern auch jeden erbarmungslos zur Rechenschaft zogen, der diese Glaubenssätze auch nur halbwegs in Frage stellte etc. Klar ist: Sollte der evolutionäre Humanismus - was Mensch verhindern möge! - irgendwann einmal selbst zu einer „Religion" verkommen, so müsste er einer ebenso scharfen, vernichtenden Kritik unterzogen werden wie die Religionen im vorliegenden Buch.
Ich möchte es bei diesen kurzen, hoffentlich dennoch erhellenden Ergänzungen zum Themenkomplex „Religion / Religionskritik / Kampf der Kulturen" belassen. Auch wenn sich die meisten kritischen Einwände auf diesen Themenkomplex bezogen, so gab es natürlich noch andere Kritikpunkte, auf die ich hier zumindest skizzenhaft eingehen möchte.
Zweifellos richtig war der Hinweis, dass viele Aspekte im Rahmen dieses Buchs reichlich verkürzt dargestellt wurden. Leider ist dieses Problem innerhalb einer bewusst eng begrenzten Schrift wie der vorliegenden kaum aufhebbar. Viele Themen hätten selbstverständlich eine umfassendere, detailliertere Betrachtung verdient. Ich kann in diesem Zusammenhang nur versprechen, einige dieser Themen (beispielsweise das große, bedeutsame Thema einer „evolutionär-humanistischen Ökonomie und Politik" sowie Fragestellungen, die das naturalistische Menschenbild [u. a. „Willensfreiheit und Autonomie"] und die evolutionär-humanistische Ethik [u. a. „Sterbehilfe"] betreffen) zu späteren Zeitpunkten in gesonderten Publikationen zu behandeln.
Einen anderen, häufig geäußerten Leserwunsch möchte ich jedoch gleich an dieser Stelle erfüllen. Es wurde mehrfach bemängelt, dass im Manifest eine kurze prägnante Definition des evolutionären Humanismus fehle. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der folgende dreiteilige Definitionsversuch hilfreich:
• Grunddefinition: Der von Julian Huxley eingeführte Begriff „evolutionärer Humanismus" kennzeichnet eine aus vielfältigen wissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen Quellen gespeiste, postnationale, säkulare und kritisch-rationale (d. h. sowohl antidogmatische als auch antirelativistische) Weltanschauung, die die erkenntnistheoretische Perspektive des Naturalismus mit dem ethisch-politischen Auftrag einer umfassenden Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse verbindet (Ermöglichung von Chancengleichheit und Freiheit, Durchsetzung der Menschenrechte, Abbau von direkter, struktureller und kultureller Gewalt etc.).
• Abgrenzungen: Da der evolutionäre Humanismus die biologische Spezies Homo sapiens sapiens als zufälliges, unbeabsichtigtes Produkt der natürlichen Evolution begreift, das sich nur graduell, nicht prinzipiell von anderen irdischen Lebensformen unterscheidet, wendet er sich entschieden gegen religiöse oder weltlich-idealistische Konzeptionen, die der Menschheit eine Sonderstellung im Kosmos einräumen, die ihr Eigenschaften zuschreiben, welche mit den Naturgesetzen nicht zu vereinbaren sind, die Moralkataloge aufstellen, die einer Primatenspezies nicht entsprechen, und / oder infolge ihrer anthropozentrischen Weltwahrnehmung die Interessen nichtmenschlicher Lebensformen (insbesondere die der höher entwickelten Tiere) nicht ausreichend berücksichtigen. Ebenso deutlich wehrt sich der evolutionäre Humanismus allerdings auch gegen politische Strömungen, die die naturalistische Position zwar teilen, aber aus der Erkenntnis des in Natur und Kultur wirksamen Eigennutz- und Wettbewerbsprinzips sozialdarwinistische Modelle ableiten und somit die bahnbrechenden wissenschaftlichen Errungenschaften der Evolutionstheorie in den Dienst antihumanistischer Ideologien stellen.
• Theorie und Praxis: Zusammenfassend lässt sich der evolutionäre Humanismus beschreiben a) (auf theoretischer Ebene) als der Versuch, wissenschaftliche Aufklärung und humanistische Ethik miteinander in Einklang zu bringen, sowie b) (auf praktischer Ebene) als Beitrag zur Stärkung der „Leitkultur Humanismus und Aufklärung", die als „dritte Kraft" im „Kampf der Kulturen" darauf ausgerichtet ist, unhaltbare Mythen zu entzaubern und die so gewonnenen Freiräume für die Etablierung neuer Spielregeln in der Ethik, der Politik, Ökonomie, Kultur zu nutzen, damit der Eigennutz der Individuen in humanere Bahnen gelenkt werden kann.
Im Unterschied zu dem Wunsch nach einer halbwegs knappen Definition des Begriffs „evolutionärer Humanismus" lassen sich andere Bedürfnisse der Leserinnen und Leser leider nur sehr schwer erfüllen, zumal sich einige von ihnen gegenseitig aufheben. So erschien die Argumentationsweise des Manifests einigen sozial- oder geisteswissenschaftlich geschulten LeserInnen als „zu biologistisch", während naturwissenschaftlich sozialisierte bemängelten, dass diese von der Anlage her nicht „biologisch genug" sei. Auch bezüglich der Form gab es divergierende Einschätzungen: Den einen war das Buch zu akademisch, zu wissenschaftlich gehalten, andere hingegen meinten, der Sprachduktus sei insgesamt zu populistisch, zu sehr auf Zuspitzung bedacht und dadurch unzulässig vereinfachend. Sicherlich: Allen wird man es nie recht machen können - schon gar nicht in einem einzigen, bewusst schmal gehaltenen Bändchen. Ich empfehle daher denjenigen, die einen (noch) wissenschaftlicheren Zugang bevorzugen, die Lektüre des in den Anmerkungen aufgelisteten Quellenmaterials. Denjenigen hingegen, die es gerne etwas essayistischer (weniger kompliziert und differenziert, dafür aber markiger) hätten, sei Michel Onfrays jüngst auf Deutsch erschienener Philosophie-Bestseller (Wir brauchen keinen Gott, Piper Verlag, 2006) ans Herz gelegt sowie der „philosophische Groschenroman" Stollbergs Inferno, den ich vor einigen Jahren im Alibri Verlag veröffentlichte.
Da die bislang geführten Debatten noch keine größere inhaltliche Korrektur der in diesem Buch entwickelten Argumentation erforderlich machten, unterscheidet sich die hiermit vorgelegte zweite Auflage des Manifests nur unwesentlich von der Erstauflage. (Neben der Korrektur formaler Fehler wurden nur kleinere, inhaltliche Ergänzungen vorgenommen, beispielsweise wurde im vorletzten Kapitel eine Anmerkung zum oftmals fehlverstandenen Begriff der „Leitkultur" eingefügt).
Dass bislang keine deutliche inhaltliche Revision erfolgte, bedeutet keineswegs, dass ich den vorliegenden Text als „nicht verbesserungsbedürftig" einschätzen würde. Im Gegenteil: Es ist durchaus denkbar, dass bereits heute empirische Belege oder logische Beweisführungen existieren, die von mir aus Unkenntnis nicht berücksichtigt wurden, obwohl sie eine radikale Änderung der Argumentation dieses Buchs erzwingen müssten. Insofern gilt die Einladung, die in der Erstauflage des Manifests ausgesprochen wurde, selbstverständlich weiterhin: Helfen Sie mit, die in diesem Buch entfaltete Argumentation zu verbessern und -falls nötig - auch grundlegend zu revidieren. Für die Diskussion stellt die Giordano Bruno Stiftung nach wie vor die Internetdomain www.leitkultur-humanismus.de zur Verfügung. Wer möchte, kann das Manifest des evolutionären Humanismus dort auch online unterzeichnen...
Michael Schmidt-Salomon, März 2006