Kreuzsymbole in staatlich-öffentlichen Räumen?

 

Verfassung und Neutralitätsgebot

Gerichte müssen nach Rechtswerten (die individuell christlich oder auch anders verstanden und motiviert sein mögen), entscheiden, wie sie im Grundgesetz und anderen Gesetzen enthalten sind, und nach nichts anderem. Spezifisch religiöse Privilegierungen, wie sie selbst in manchen Landesverfassungen zu finden sind (z.B.: nach Art.1 I Ba-WüVerf ist der Mensch berufen, "seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes...zu entfalten", der Staat habe den Menschen hierbei zu dienen; Art. 7 I der NRWVerf erklärt "Ehrfurcht vor Gott" an erster Stelle als "vornehmstes Ziel der Erziehung"; die Verf. von Rheinland spricht in ihrer Präambel von Gott als dem „Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“), sind mit dem GG unvereinbar und damit ungültig. Im Konfliktfall geht das GG allen anderen Rechtsvorschriften in Deutschland vor (Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“). Die Nennung Gottes in der Präambel des GG ist nach Ansicht aller Verfassungsrechtler lediglich ein Hinweis auf die Motive der meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats von 1948/49. Die religiös-weltanschauliche Bedeutung des GG ergibt sich ausschließlich aus der Gesamtheit der einschlägigen Vorschriften des – freilich aus säkularen Gründen religionsfreundlichen – Religionsverfassungsrechts. Alle staatlich-öffentlichen Institutionen und Organe müssen demnach alle Religionen und (nichtreligiösen) Weltanschauungen gleich behandeln. Das heißt, sie müssen im Positiven (kulturstaatliche Förderung, Informationsvermittlung) wie Negativen (Distanzierung von Religion in Justiz, Polizei usw.) dem Neutralitätsgebot entsprechen, d.h. unparteilich sein.

In der Theorie räumen das selbst besonders kirchennahe Juristen ein. Der stark kirchlich engagierte Verfassungsrechtler und Rechtshistoriker Martin Heckel hat daher 1993 formuliert: "Von der christlichen Tradition 'des Abendlandes'...findet sich in der Staatsverfassung keine Spur". Daher gibt es keinerlei Berechtigung für Kreuze in Gerichtssälen: aus Gründen der staatlichen Neutralität, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf der Basis der Gleichheit für alle im Rahmen der Verfassung. Der prominente Katholik und Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das schon vor fast 40 Jahren eindrucksvoll dargelegt. Angesichts der aktuellen Diskussionslage muss man Hans Michael Heinig, dem Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, dankbar sein. Er hält es für eine Banalisierung des Kreuzes, es auf ein Symbol für Humanität und allgemein akzeptierte Werte zu reduzieren, um seine Fortexistenz in Gerichtssälen zu erhalten.

Dies alles nicht zu sehen, ist für den Bestand eines freiheitlichen Staatswesens gefährlich. Daher sind die Parteiprogramme der C-Parteien besonders kritisch zu sehen: Das CDU-Grundsatzprogramm von 2007 spricht an 25 Stellen vom spezifisch Christlichen und an 9 Stellen von Kirche. Die Wertevermittlung auch durch andere Religionen, insbesondere die jüdische, wird immerhin am Rande gewürdigt, während die Nichtreligiösen (Kennen sie keine Werte? Basiert das GG nicht wesentlich auf dem Gedankengut der Aufklärung?) in keinem Zusammenhang erwähnt werden. Das Programm der CSU von 1993 pointiert das Christliche noch stärker und erklärt, das Kreuz „in den Klassenzimmern und in allen öffentlichen Gebäuden“ sei „unverzichtbar“. Politiker, die das ernst nehmen, kommen zwangsläufig in erhebliche Spannung zum GG.

Folgerungen

Die Folgerungen aus der verfassungsrechtlichen Lage sind einfach: Wenn die öffentliche Hand keine religiöse oder nichtreligiöse Weltanschauung formal bevorzugen oder benachteiligen darf, d.h. auch, auf einseitige Einflussnahmen aller Art verzichten muss, so gilt das nicht nur für die Justiz, sondern auch für Rats- und Kreistagssäle sowie für alle öffentlichen Schulen und das Militär: Der Staat darf nicht von sich aus zugunsten der einen oder anderen Richtung Stellung nehmen (Neutralität), sei es durch Verwendung eines religiösen Symbols, finanzieller Förderung oder verbaler Einflussnahme wie im christlich fundierten „Lebenskundlichen Unterricht“ der Bundeswehr, der seit 2009 sogar für Nichtchristen verbindlich ist: ein krasser Verstoß gegen die Religionsfreiheit (Art. 4 GG).

Die jetzt wenigstens teilweise erfolgte Normalisierung der Neutralitätsfrage in NRW wirft Fragen auf. Etwa die, wann auch in Bayern, wo in Amts- und Landgerichten, Gemeinderatssälen und Kreistagssälen flächendeckend (oft sehr große) Kreuze und Kruzifixe angebracht sind, das GG besser beachtet wird. Wie viel Vertrauen verdienen Richter, die Angst davor haben, auf einer verfassungsgemäßen Ausstattung ihrer Sitzungssäle zu bestehen? Wer das alles vertiefen möchte, kann das in meinem einschlägigen Lexikonartikel nachlesen.

Das Kreuz in der Schule

Ein besonderes Kapitel ist die staatliche Verwendung des Kreuzsymbols in Schulen. Selbst in Bayern ist sie bezeichnenderweise nur für die Grund- und Hauptschulen vorgeschrieben (trotz BVerfG, siehe oben, eingangs). Gegen opponierende Lehrer wird es unerbittlich verteidigt. In ausgesprochen katholischen Gegenden ist eine Entfernung der Kreuze freilich ein schwerwiegendes Problem. Denn die große Mehrheit der Eltern und Lehrer betrachtet das Kreuz als ihr persönliches Recht, das sie sich nicht nehmen lassen wollen: eine Konsequenz jahrzehntelanger systematischer Falschinformation, nicht bösen Willens. Auf die zumindest diskutierfähige Idee, das Problem durch private Initiative der Eltern abzumildern, ist man (bewusst?) noch nicht gekommen: Man könnte Eltern bzw. Schülern erlauben, in Eigeninitiative Kreuze an unaufdringlicher Stelle im Klassenzimmer anzubringen, wenn eine nachgewiesene Mehrheit (geheime Befragung) das ausdrücklich wünscht und niemand widerspricht (staatliche Duldung). Aber in Bayern scheint man den Kulturkampf vorzuziehen. In NRW ist man auch da schon viel weiter.
Zur Einführung in die Gesamtproblematik Staat-Religion-Neutralität sei auf meinen Überblicksaufsatz „Religionsverfassungsrecht im Grundgesetz“ verwiesen.

Die weitere Entwicklung wird spannend. Ein bayerischer nichtreligiöser Hauptschullehrer hat nach gerichtlichem Misserfolg im Februar 2010 Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben. Gegen das Schulkreuz-Urteil des Straßburger EGMR vom 3.11.2009 hat die italienische Regierung die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen, die endgültig entscheiden wird.

Hinweis: Der Autor ist Verfasser von: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 400 Seiten in übersichtlichem Kleindruck, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2


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