"Sind Sie Atheist?"

Über Orhan Pamuks Roman „Schnee" . Der 2006 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete türkische Autor Orhan Pamuk erzählt in

seinem 2002 in der Türkei erschienen Roman „Schnee" über die Reise eines Dichters in die ostanatolische Stadt Kars und zugleich über die politische und gesellschaftliche Realität in der sich dem Westen und seinen Werten hin öffnenden Türkei.

Der im deutschen Exil lebende türkische Schriftsteller Kerim Alakuşoğlu, der sich selbst Ka nennt, will in Kars nicht nur für eine Zeitung die Selbstmorde junger muslimischer Frauen untersuchen, sondern auch seiner alten Jugendliebe Ipek nachspüren, die inzwischen gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester ein Hotel in Kars führt. Während seines Aufenthaltes wird die Stadt eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten. In dieser Situation kommt es zu einem Putsch des säkularen Militärs unter Führung des fast schon fundamentalistisch-atheistischen Schauspielers Sunay Zaim gegen die größtenteils gläubige Bevölkerung. Anlass dieses Putsches ist die kurz bevorstehende Bürgermeisterwahl, bei welcher der Kandidat der eher gemäßigten Islamisten gute Aussichten auf einen Sieg hat. Ka übernimmt - geblendet durch seine Liebe zu Ipek und einer daraus resultierenden Sinnkrise und der plötzlichen Wiederkehr einer Lust zum Schreiben - die Rolle des Vermittlers zwischen Säkularen und Muslimen, wandelt sich aber im Laufe der Ereignisse zu einer Art Doppelagent, bis er im Grand Finale aus persönlichen Motiven heraus einen folgenschweren Verrat begeht.

Erzählt wird der Roman aus der Sicht des Schriftstellers Orhan, der vier Jahre nach Kas Aufenthalt in Kars und kurz nachdem dieser in Frankfurt ermordet wurde, Recherchen für einen Roman über das Leben seines Freundes anstellt. Diese Erzählerkonstruktion ermöglicht Pamuk an mehren Stellen ein reizvolles Spiel mit der Idee, dass der Erzähler Orhan identisch ist mit dem Autor des vorliegenden Romans und so die im Roman geschilderte Geschichte auf realen Ereignissen basieren könnte. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den vor allem gegen Ende des Romans häufig auftretenden Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit der im Roman erzählten Ereignisse: Da genaue Aufzeichnungen fehlen, muss sich der Erzähler auf Tagebucheinträge, Zeugenaussagen, Videoaufzeichnungen und Zeitungsberichte stützen und versucht, die Vergangenheit möglichst exakt nach ihrem wahr-scheinlichen Ablauf zu rekonstruieren ohne dabei jedoch einen Absolutheitsanspruch zu erheben, ja diesem sogar zu widersprechen.

Gerade dieser Aufbau - zusammen mit der Vermischung einer realen und überprüfbaren Ebene - lässt die im Roman geschilderte Handlung glaubwürdig und real wirken, wovon vor allem die politischen und gesellschaftli-chen Diskurse profitieren, die Pamuk in seinem Werk behandelt: neben immer wiederkehrenden abhandlungsartiger Dialoge über Religion und ihrer Moral contra Atheismus bzw. dem Recht zur selbstbestimmten und freien Entfaltung des Individuums misst der Autor Diskursen über Armut, Innenpolitik und die Rolle der türkischen Gesellschaft in Europa, sowie einem solchen über das Schreiben an sich besonderes Interesse bei.

Was interessant, engagiert und ambitioniert klingt, erweist sich schnell als enttäuschend, denn die Diskurse im Allgemeinen und der über Religion im Speziellen werden zu unausgewogen und einseitig geführt: Zwar bietet das Aufeinandertreffen manchmal recht stereotyper Charaktere, die ihrerseits klischeehafte Vorstellungen ihres jeweiligen Gegenübers als Argumentationsgrundlage nutzen, reizvolle Situation aus denen intelligente Denkanstöße erwachsen, doch schafft es Pamuk nicht, das von ihm hier begründete Potential zu nutzen.

So bleibt z.B. die Auseinandersetzung mit der Religion enttäuschend oberflächlich: fundamentalen oder strenggläubigen Muslimen werden gewaltbereite Säkulare gegenübergestellt, deren Reihen nur durch den sich selbst als Atheisten bezeichnenden, aber eher Agnostiker meinenden Ka aufgelockert werden. Auf Basis dieser Konstellation zeichnet der Roman das Bild einer gleichsamen Schlechtigkeit: Weder der fundamentale Islam, der mit kaum begründbaren Regeln die freie Entfaltung der Persönlichkeit behindert, noch der Atheismus, der hier mit großer Häufung immer wieder mit Gewalttaten in Verbindung gebracht wird, scheinen als Weltanschauungen ernsthaft in Frage zu kommen. Als schließlich Ka hin- und hergerissen zwischen Ablehnung und Faszination gegenüber beiden Seiten in seinem Bestreben zu vermitteln scheitert kristallisiert sich heraus, dass Pamuk in diesem Roman einen gemäßigten, nicht zwangsläufig mit dem Islam kongruenten, aber mythisch verklärten Theismus propagiert.

Das ist zwar gutes Recht des Autors, aber als Schlussfolgerung der Konfrontation Atheismus/Islamismus nicht nachvollziehbar und eine naiv-wirkende Flucht vor einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit den Problemen einer Konfrontation des säkular-geprägten Okzidents mit der radikalen Religiosität des Orients.

Pamuks Schnee will einen politisch motivierten Diskursroman darstellen und ist dabei ein bisweilen zu unterkühlt und distanziert wirkender Situationsbericht, einer Reportage nicht unähnlich. Aus diesem Bericht lässt sich aber keineswegs die propagierte Rückkehr zur Religiosität als probates Mittel der eigenen Problembewältigung ableiten.

Eine These Pamuks, die auch durch die Konnotation Kas plötzlich wiederauflebender Kreativität als mythisch verklärter Eingabeprozess einer äußeren Macht bestätigt wird.

Ein Autoren-Diskurs, der zugleich Rückgriff auf die antike Vorstellung des Poeten als von außen mit „Poesie" befülltes Gefäß, als auch Weiterentwicklung hin zum nach der inneren Logik dieser äußeren Eingebung Suchenden ist. Leider bleibt auch dieser trotz einiger guter Ansätze zu undifferenziert und fragmentarisch.

Möglich das die Fragmentartigkeit, die durchaus zum Nachdenken anregen kann, Pamuks Absicht war, denn wollte dieser mit Schnee eine „Freude für den Intellekt" und keine mit Lesererwartungen konforme schnell konsumierbare Literatur darstellen: Ein Pamuk ist - so gar er kürzlich in einem Interview mit der Zeit bekannt - nicht auf die „ständige Zustimmung" seiner Leser angewiesen.

Eine gefährlich und naive Sichtweise, denn um den Intellekt mit Denkanstößen anzuregen bedarf es dennoch einer gewissen Les- und Rezipierbarkeit und die resultieren letztlich aus Zugeständnissen an die Erwartungen und die Geduld der Leser: Aus Verdruss über eine zähe und unübersichtliche Handlung generiert sich keine „Freude des Intellekts".

Gelungen ist Pamuk hingegen eine differenzierte und fein ausgearbeitete Skizzierung seiner Hauptcharaktere, mit denen sich der Leser allerdings gerade auf Grund dieser feinen Ausarbeitung nur sehr schwer identifizieren kann, sowie die sehr detaillierte, fast plastische Beschreibung der Handlungsorte, vor der sich die zunehmend atmosphärisch immer dichter werdende Geschichte abspielt.

Orhan Pamuk bietet mit seinem Roman Schnee ein Panoptikum an, das vielfältiger und ausladender nicht hätte sein können und gerade daran krankt. Und auch wenn in diesem Fall weniger deutlich mehr gewesen wäre, so hat es das Buch dennoch verdient gelesen zu werden. Und das nicht nur um die Frage zu beantworten, was in Stockholm ausgezeichnet wurde: Das literarische Talent oder die Positionierung in Gesellschaft und Politik.

 

Benjamin Hahn

Orhan Pamuk „Schnee", 520 Seiten. München: Hanser, 29,50 €, ISBN: 978-3-446-20574-1