67. Berlinale

Nicht ohne meinen Sohn

Erst verliert er seine Mutter, dann muss der Sohn des jüdischen Verkäufers Menashe aus religiösen Gründen zu seinem Onkel ziehen. Joshua Z. Weinsteins jiddischer Film "Menashe" erzählt von radikalen Regeln des ultraorthodoxen Judentums und dem Leben in einer Parallelgesellschaft.

Wenn man über religiöse Parallelgesellschaften in den USA nachdenkt, dann fallen einem sofort der Bible-Belt im Mittlere Westen sowie Bilder von Amish-People, der rechten Evangelikalen oder dem Ku-Klux-Klan ein. An orthodoxe Juden denkt man erst einmal nicht, die assoziiert man eher mit Jerusalem oder den nordisraelischen Zfat. Wenn man Joshua Z. Weinsteins Featurefilm "Menashe" gesehen hat, ändert sich das, denn es ist neben dem Porträt eines um seinen Sohn kämpfenden Vaters auch ein Abbild der jüdisch-orthodoxen Parallelgesellschaft mitten in Brooklyn.

Der füllige Menashe ist ein gehorsames Mitglied einer orthodoxen jüdischen Community in Brooklyn. Seit dem Tod seiner Frau steht sein Leben auf dem Kopf. Er muss plötzlich für sich alleine sorgen. Dabei überfordern ihn vermeintlich schon die kleinsten Dinge. Die Fehler, die er in dem Supermarkt macht, in dem er jobbt, häufen sich. Am Gemeindeleben nimmt er nur noch leidlich teil und seine Wohnung droht im Chaos zu versinken.

Menashe ist zweifellos kein Charakter, der mit beiden Beinen jemals fest im Leben gestanden hat, der Grund für seine aktuellen Schwierigkeiten liegen aber nicht bei ihm selbst, sondern in den Verhältnissen, in die er gezwungen wird. Seine Gemeinde hat ihm seinen Sohn entzogen und diesen zum autoritären ultraorthodoxen Bruder seiner verstorbenen Frau gegeben. Die Thora schreibe vor, "dass Kinder in Zweielternfamilien aufwachsen müssen". Und da sich Menashe nach seiner ersten arrangierten Ehe schwer tut, kaum ein Jahr nach den Tod seiner Frau eine weiteres Zweckbündnis zu schließen, darf sein zehnjähriger Sohn nicht bei ihm leben.

Speisevorschriften, unablässige religiöse Studien und archaische Geschlechterrollen – all das ist vom ultraorthodoxen Judentum bekannt. Wie tief und unbarmherzig aber die Religion bis in die privatesten Bereiche der Gläubigen eindringt, das wird in diesem Film in bedrückender Weise deutlich. Vor allem vermittelt dieser Film, wie die Ultraorthodoxie jeden reformerischen Gedanken im Keim erstickt, indem sie den Blick auf das Alte Testament lenkt, so dass er gar nicht erst auf den Menschen und seine Bedürfnissen fallen könnte.

Es ist der gesellschaftliche Druck in dieser ideologisch geschlossenen und nach außen hin weitgehend abgeschotteten Gesellschaft, der das Leben von Vater und Sohn zu einer permanenten Zumutung macht. Weinstein zeigt das vertraute Beisammensein der beiden in den wenigen Momenten, die sie sich heimlich schaffen. Diesen berührenden Szenen steht Menashes vergebliches Ringen um seinen Sohn, seine Einsamkeit, die immer wieder aufkeimende Wut sowie das kleinmütige Einknicken vor den religiösen Vorschriften geradezu konträr gegenüber.

Es wäre wünschenswert gewesen, wenn dem amerikanischen Regisseur intensivere Szenen mit dem Jungen gelungen wären, die dessen Situation stärker in den Vordergrund ziehen. Denn schließlich ist er es, der aus seinem Elternhaus gerissen wird und unter umständen aufwachsen muss, die er sich nicht ausgesucht hat. Dem Heranwachsenden wird die Betreuung durch seine Eltern beziehungsweise seinen Vater, wie sie Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention vorsieht, vorenthalten. Die psychologische Beeinträchtigung dieser Umstände – seine tiefe Traurigkeit, aber auch die hoffnungslose Aufgabe der eigenen Bedürfnisse in dieser Welt – sind ihm bereits anzumerken.

Mit "Menashe" erhält man einen ungeschönten Einblick in die hasidische Community Brooklyns, deren Wille zur Aufklärung unübersehbar ist. Die Kamera bleibt nah an der zentralen Figur, zeigt ihre Lebenswelt und die unzähligen Widersprüche zwischen moralischem Anspruch und amoralischer Wirklichkeit. Weinstein übt Kritik daran, nicht laut, aber derart beständig, dass sie offensichtlich ist. "Menashe" ermöglicht einen Blick in eine Parallelwelt, von der die wenigsten etwas ahnen und die vielleicht genau deshalb so inhuman sein kann, wie sie hier gezeigt wird.