Meine Mutter ist eine Zeitreisende. Bisher hat sie ihren Heimatort nur ein einziges Mal und zwar für die Pilgerfahrt nach Mekka verlassen. Nun ist sie für zehn Tage in Europa und fühlt sich wie in einer Science-Fiction.
In ihren Augen ist hier alles aufregend und viel schöner als zu Hause: Die Bäume sind grüner, die Straßen sind sauberer, die Menschen sind sportlicher. Sie guckt sich die Welt mit dem Blick einer Abenteuerreisenden an und lässt sich nicht mal davon verschrecken, dass sie plötzlich einen halbentblößten Hintern vor der Nase hat, weil die Frau, die in der S-Bahn vom Flughafen vor ihr steht, einen so kurzen Minirock trägt.
Bevor wir in die Regionalbahn umsteigen, gehen wir am Hauptbahnhof essen. Ich wähle ein syrisches Restaurant. Da bin ich sicher, dass die Mahlzeit halal ist. Der Tee ist gut, befindet meine Mutter. Das Essen kann mit ihrem eignen aber nicht mithalten. Dafür interessiert sie das Publikum. Neben uns sitzt ein schwules Paar. Als wir auf dem Weg aus dem Restaurant darüber sprechen, hört sie gar nicht mehr auf zu kichern. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass Männer Männer lieben können. Aber sie ist nicht verärgert, sie lacht nur. Wenn das so weitergeht, reißt sie sich morgen das Kopftuch runter und geht in die Disco.
Mein Vater sieht die Sache anders, in der Heimat ist fast alles schöner, größer und besser. Er ist als junger Mann etwas umhergereist und gibt sich weltmännisch. Nur an der ganz neuen Jeans und den ungetragenen sportlichen Schuhen erkennt man, dass er sich eigens für diese Reise europäisch verkleidet hat. Es soll keiner denken, dass er vom Mond kommt. Er hat mich schließlich schon mal besucht und wirft lässig mit seinen drei deutschen Worten um sich.
Es ist schön, die beiden hier zu haben. Und zeitgleich aufwühlend. Meine Mutter sieht abgekämpft aus. Nach der Bahnfahrt in meiner Wohnung angekommen, legt sie den langen alten Mantel und das Kopftuch ab. Sie hat sich auch schön gemacht für die Reise. Ihre grauen Haare sind gefärbt und die Haare modern geschnitten. Trotzdem sieht sie alt aus und bewegt sich beschwerlich. Ihr Körper ist kaputt. Sie hat immer arbeiten müssen, als älteste Tochter, als junge Ehefrau, als Mutter und nun als Oma. Sie kann sie sich gar nicht daran erinnern, dass sie mal einen Tag nicht geputzt und gekocht hat. Und vor der Reise hat sie tagelang Essen vorbereitet und eingefroren, damit die Familie nicht verhungert, während sie weg ist.
Kein Wunder, dass mein Vater von der Heimat schwärmt. Für Männer ist der Alltag in Irakisch-Kurdistan bequem. Doch für die meisten Frauen ist die Zeit dort stehen geblieben. Was würde passieren, wenn meine Eltern hier leben sollten. Würde mein Vater seine Frau zu Hause einsperren, aus Angst davor, dass sie sonst ein neues Leben beginnt?
"... ich soll doch endlich mit den Provokationen aufhören und meinen Atheismus im Leisen ausleben."
Ich kriege in diesen Tagen viele freundliche Nachrichten. Selbst Leute, die sich sonst an meiner Islamkritik stören, freuen sich über meinen Familienbesuch. Aber ich soll doch endlich mit den Provokationen aufhören und meinen Atheismus im Leisen ausleben, bitten sie mich. Ich soll Muslime nicht in ein schlechtes Licht rücken in diesen rassistischen Zeiten.
Natürlich gibt es auch in anderen Gesellschaften ähnliche Probleme. Aber ich erlebe nirgends sonst, dass die Ungerechtigkeit so breit mitgetragen wird. Ich kenne muslimische Väter, die ihren Töchtern den Schwimmunterricht verbieten. Ich habe muslimische Freunde, die ihre Schwestern überwachen. Ich erlebe muslimische Eltern, die ihre homosexuellen Kinder verstoßen. Und ich lese in der Zeitung von Muslimen, die sich und andere in die Luft sprengen. Weil Allah es angeblich so will? Und wo bleibt der Protest und der Aufschrei der aufrechten Muslime? Ich muss Muslime nicht negativ darstellen, das schaffen sie schon ganz für sich alleine – durch ihr Schweigen.
Meine Mutter hat ihren Mantel kaum abgelegt, da deckt sie den Tisch schon mit leckeren Speisen. Der ganze Koffer ist mit Leckereien gefüllt. Sie will meine Freunde bekochen, wir sollen alle einladen. Ich habe das vermisst, diese selbstverständliche Offenheit und Freundlichkeit. Meine Mutter ist kein böser Mensch. Auch mein Vater meint es gut. Sie haben mir nie schaden wollen, die Religion macht sie krank.
Glaube ist ein bisschen wie eine Droge. Wenn du selber entscheidest, wann und wie viel du davon genießt, dann kannst du viel Spaß damit haben. Aber wenn es dein Leben bestimmt, dann wird es zu einer Krankheit. Wenn du keinen Spaß verstehst und glaubst, dass es das einzig Wahre ist, dann hast du ein Problem. Und wenn du dir und anderen damit das Leben zur Hölle machst, dann brauchst du eine Therapie.
Ich nasche an den Keksen meiner Mutter, sehe meine glücklichen Eltern vor mir auf dem Sofa sitzen und werde leicht nervös bei dem Gedanken, dass ich heute vor dem Einschlafen nicht kiffen kann.
Diese Tage werden mir vielleicht ganz guttun, meinen Eltern hoffentlich auch.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von jungle.world
9 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Sehr schöner Beitrag, der hoffen lässt, dass Menschen aus aller Welt sich auf einer Ebene verstehen können, die über den Religionen liegt, denn Religion macht krank, böse und dumm!
Rüdiger von Gizycki am Permanenter Link
Bei solchen Sätzen muss ich widersprechen. Nicht Religion macht den Menschen böse, krank und dumm, sondern der Glaube als Verwirklichung von Religion.
Roland Fakler am Permanenter Link
Ok, das war zu kurz und zu allgemein. Schließlich kenne ich selber viele gute, vernünftige Menschen, die sich Christen nennen und gläubig sind.
Matthias Kalupner am Permanenter Link
Dem muss ich widersprechen. Erst die Religion zwingt den Glauben in ein Korsett aus Dogmen, die festlegen, wie Menschen 'richtig' zu leben haben. Glaube an sich schadet niemandem.
Roland Fakler am Permanenter Link
Jede totalitäre Weltanschaung ist schlecbt. Sie verengt die Hirne und führt, wenn sie die Macht hat, letzlich zur Verfolgung der Andersdenkenden.
Rüdiger von Gizycki am Permanenter Link
Matthias Kalupner
Natürlich ist der Glaube entscheidend und kann sehr wohl massiv schaden.
Nur kurz definiert:
WIKIPEDIA:
Es gibt zwar keine abschließend gültige Erklärung für Religion, aber die von Gustav Mensching, erklärt sie wohl ziemlich treffend:
"Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen".
Da wäre aber noch zu klären, was heilig eigentlich bedeutet:
Wikipedia:
"Heilig bezeichnet etwas Besonderes, Verehrungswürdiges und stammt wortgeschichtlich von Heil ab, was sich abgeschwächt noch in heil („ganz“) wiederfindet. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist heilig ein im Zusammenhang mit Religion gebrauchter Begriff mit der zugedachten Bedeutung „einer Sphäre des Göttlichen, Vollkommenen oder Absoluten angehörig“.
Das Vollkommene, Absolute oder auch das Göttliche ist nicht unser Werk und wir haben uns letztlich auch nicht selbst zu verdanken. Das Geheimnis des Seins (als die eben dargestellten Begriffe - es gibt noch mehr), was immer das auch sei, ist der Urgrund, aus dem alles, auch letztlich wir als Menschen stammen. Der Urknall ist da nur nachgeordnet.
Heiligkeit muss aber keineswegs auf einen Gott oder irgendwelche Götter, Engel, Dämonen oder einzelne Menschen bezogen sein. Das Leben selbst, mit all seiner Vielfalt, seiner Schönheit und seinen Härten, wenn es als besonders verehrungswürdig angesehen wird, kann als dieses Heilige erlebt und so verstanden werden. Der eigene Zweifel, der eigene Irrtum, das eigene Scheitern und die Konsequenz der daraus resultierenden eigenen Wandlung muss in diesem Glaubensmodell integriert sein, denn dies ist ja Ausdruck des Lebens und vor allem: es weist uns so für unser Handeln und unsere Unterlassungen, also auch für unseren Glauben die Verantwortung dafür zu. Und es ist ein lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung, in dem wir nie fertig werden.
Das Leben als Heiliges zu betrachten, was ja eine religiöse Haltung ist, 'erzwingt' praktisch aus sich selbst heraus, das wir freiwillig und aus Einsicht genau das tun, was z.B. Frieden, Gerechtigkeit, Humanität u.a.m. möglich macht.
Als religiöser Atheist! scheint mir das ein gangbarer Weg zu sein
Aber eben nur dann!
Ein Gott oder einen Schöpfer, Heilige Schriften, Priester, ernannte oder selbsternannte "Heilige" sowie Missionsgedanken sind da überhaupt nicht erforderlich! Ich finde man kann das auch so sehen. Atheismus und Religion schließen sich für mich nicht gegenseitig aus.
Kay Krause am Permanenter Link
Das erinnert alles sehr an einen Besuch meiner Schwiegermutter (einer liebenswerten Frau!) die - aus einem kleine bayerischen Dorf stammend, welches sie bis dato ebenfalls nie verlassen hatte, uns um 1968 in Hamburg b
Da sind wir nun heute mehr oder weniger alle mit einander weltweit vernetzt, und leben trotzdem immer noch in extrem unterschiedlichen Welten! Sind denn diese modernen Medien letztlich doch nur dafür gut,uns life und in Jetzt-Zeit Bildern von Kriegen,Panzern Kanonen, leichen, Trümmern und Flüchtlingsströmrn zu übermitteln?
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Atheismus im Leisen ausleben"...
Warum nur bei dem Lärm, den der Theismus jeglicher Couleur tagtäglich veranstaltet?
A.S. am Permanenter Link
Es ist meiner Meinung nach die Gottesfurcht, die krank macht.
Vor einem allmächtigen und allwissendem Gott hat jeder Angst, der an seine Existenz glaubt.
Generell sehe ich Religion anders. Religion ist für die Regierenden ein ausgesprochen nützliches Instrument zur Gleichschaltung und Manipulation großer Menschenmengen.
Deswegen legen seit jeher und überall die Herrschenden Wert auf ein gottesfürchtiges Volk.