Das System Ratzinger

Die katholische Kirche und ihre Missbrauchs-Verbrechen: Im Mittelpunkt steht der Schutz der Kirche, nicht das Leid der Opfer. Mit schonungsloser Offenheit und Kooperation darf auch künftig nicht zu rechnen sein. Ein andauender Skandal, irritierend ignoriert von der Politik. Eine Kriminalgeschichte von Helmut Ortner.

Über ein Vierteljahrhundert hat er die die katholische Kirche entscheidend geprägt: Joseph Ratzinger, alias Papst Benedikt XVI. Doch welche Rolle spielte er bei ihrem Versagen in der Missbrauchskrise? Was wusste er? Was hätte er tun können? Was tat er? Was tat er nicht, und vor allem, warum?

Doris Reisinger und Christoph Röhl suchen nach Antworten. In ihrem Buch "Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger", ziehen die Autoren eine vernichtende Bilanz. Sie zeichnen ein Bild dieses Mannes, das ganz anders ausfällt als die Klischees vom schüchternen Gelehrten, vom stillen Helden, vom "Panzerkardinal" oder vom "Mozart der Theologie". Vor diesem Hintergrund wirkt nicht nur das Scheitern seines Pontifikats unvermeidlich, sondern womöglich sogar das Scheitern seiner Kirche.

Nicht um die Opfer sei es ihm gegangen, sondern vor allem um den Schutz der Kirche, so die Autoren. Reisinger, eine frühere Ordensfrau, die heute als Theologin arbeitet und einem ehemaligen Mitbruder vorwirft, sie in ihrer Zeit als Nonne vergewaltigt zu haben und ihr Co-Autor Christoph Röhl, ein preisgekrönter deutsch-britischer Filmregisseur, werfen Benedikt zudem vor, neue geistlichen Bewegungen, in denen es zahlreiche Fälle von sexuellem oder geistlichem Missbrauch gab, lange unkritisch gefördert zu haben.

Das Buch ist gewissermaßen die Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit zu Röhls viel beachtetem Dokumentar-Film über Ratzinger mit dem Titel "Verteidiger des Glaubens", der 2019 für Diskussionen sorgte. Die zentrale These des Films: Ratzinger war maßgeblich verantwortlich für ein System, das Opfern kein Gehör schenkte und den Ruf der heiligen Kirche über alles stellte. Reisinger und Röhl stellen ein Kapitel an den Anfang ihres Buches, das überschrieben ist mit "Ratzingers Geschichte als die eines Helden". Darin nehmen sie die Perspektive seiner Anhänger ein und schreiben beispielsweise: "Selbst Gegner bescheinigen dem Kardinal und späteren Papst, dass er den Ernst der Lage und das Leid der Opfer früher als andere gesehen und verstanden hätte. Sie rechnen ihm hoch an, dass er als erster Papst Missbrauchsopfer getroffen hat."

Das beurteilen die beiden Autoren gänzlich anders. Sie kritisieren beispielsweise, dass Papst Benedikt sich nicht zu Wort meldete, als Missbrauch und Gewalt bei den Regensburger Domspatzen bekannt wurden, dem Chor, den Papstbruder Georg Ratzinger jahrzehntelang geleitet hatte. Und sie zitieren auch aus einem Brief Ratzingers, den dieser an eine Kirchengemeinde in den USA geschickt hat – als Antwort auf die Bitte, einen Priester, der Kinder missbraucht hatte, aus dem Kirchendienst zu entlassen: Die angeführten Gründe für die Dispens seien zwar schwerwiegend – "doch, zugleich mit dem Wohl des Bittstellers" müsse "auch das Wohl der Gesamtkirche in Betracht" gezogen werden. Eine Dispens würde Schaden unter den Gläubigen anrichten - "vor allem angesichts des jungen Alters des Bittstellers". Ratzinger trage zwar allein nicht die Schuld an einem Kirchensystem, in dem Missbrauch über Jahrzehnte weitgehend unbehelligt möglich war, aber er ist als oberster Repräsentant verantwortlich für ein kriminelles Klerus-System, so die Autoren. Ihr Buch, ein Plädoyer gegen die Mär vom frühzeitigen Einsatz, gegen die Mär vom Mutigen Handeln, gegen die Mär vom Einsatz für Missbrauchsopfer.

Cover

Das wollten und konnten Ratzingers Verteidiger nicht akzeptieren. Der Kirchenrechtler Markus Graulich etwa wies zentrale Aussagen des Buches als fehlerhaft zurück. Da die Autoren Doris Reisinger und Christoph Röhl keinen Zugang zu den vatikanischen Archiven gehabt hätten und die ihnen bekannten Dokumente in einer Art und Weise auslegten, die ihre Grundthese belegen solle, gelinge es ihnen nicht, die Zusammenhänge korrekt herzustellen, so Kirchenmann Graulich, der als Untersekretär im Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte tätig ist, in der katholischen Wochenpost. Zugleich räumte er ein, dass das kirchliche Strafrecht in der Vergangenheit eigentlich darauf ausgelegt gewesen sei, nicht angewendet zu werden: "In der 'Liebeskirche', wie sie nach dem 2. Vatikanischen Konzil verstanden wurde – eine Kirche, die nicht mehr straft, dagegen fast ausschließlich von Barmherzigkeit spricht – hatte man für das Recht allgemein wenig Verständnis und schon gar nicht für das Strafrecht." Entsprechend dieser Logik sei der Strafprozess sehr stark auf den Schutz des Beschuldigten ausgerichtet gewesen.

Es graust einen, angesichts der Rhetorik, in der von "Liebeskirche und Barmherzigkeit" schwadroniert wird. Nennen es wir es beim Namen: Tolerierte Sexualverbrechen und Rechtsstaats-Verweigerung. Tatsache ist: die Fürsorge der Kirchenführer galt und gilt allein den Täter, nicht den Opfern. In der außer-kirchlichen, der realen Welt gilt das als Behinderung der Strafverfolgung.

Kirchenrecht im Staatsrecht: Zwei parallele Rechtssysteme?

Gibt es hierzulande zwei parallele Rechtssysteme? Können sich Geistliche mithilfe des Kirchenrechts dem Staatsrecht entziehen? Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Der Kieler Rechtsphilosoph Ino Augsberg weißt darauf hin, dass das deutsche Religionsverfassungsrecht zwar grundsätzlich ein Nebeneinander beider Rechtsordnungen vorsieht. Es gesteht Religionsgemeinschaften zu, ihre Angelegenheiten in einer internen Rechtsordnung zu regeln – bis hin zu eigenen strafrechtlichen Bestimmungen. Das geschieht aber nur, soweit Grundprinzipien der staatlichen Rechtsordnung wie die Grund- und Menschenrechte gewahrt bleiben. Es gibt also keine Ausnahmen von der Strafverfolgung für die Kirche, wenn es um Missbrauch und sexuelle Gewalt geht. Warum dann die Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden? Warum ordnen sie nicht an, dass die Kardinäle, Bischöfe und Kirchen-Verwalter die Namen der Sexual-Täter nennen müssen? Auch wenn die Kirchenjuristen gerne darauf verweisen, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse nur bedingt in den Binnenbereich der Kirche hineinwirken dürfen, muss klar sein: der Staat hat einen Strafverfolgungsanspruch. Man nennt das Rechtsstaat.

Tatsache ist: überall haben Kardinäle, Bischöfe und Pfarrer Minderjährigen sexuelle Gewalt angetan oder vieles getan, um dies zu vertuschen. Der Missbrauch hat systemische Ursachen und Folgen. Überall auf der Welt wurden (und werden) Personalakten manipuliert und vernichtet, Verdachtsfälle nicht an Polizei und Staatsanwaltschaften gegeben, wie es in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Im Gegenteil: Die Kirche hat ihre Täter so lange vor dem Rechtsstaat geschützt, bis man sie nicht mehr belangen konnte. Im Mittelpunkt steht der Schutz der Kirche, nicht das Leid der Opfer. Darin hat sich bis heute wenig geändert.

Von "Stürmen und Hurrikanen", die 2018 die Weltkirche getroffen hätten, hatte Ratzingers Nachfolger Papst Franziskus in seiner Rede vor der römischen Kurie gesprochen, ganz so, als wäre der weltweite Missbrauch bereits eine Sache von Gestern. "Nie wieder" dürfe Missbrauch vertuscht werden, die Täter müssten konsequent vor Gericht gebracht werden, forderte er – und relativierte doch gleich wieder. Man müsse "berechtigte Anschuldigungen" von Verleumdungen unterscheiden, zudem sei ja nicht nur die Kirche von den "erschütterten Vorfällen", betroffen. Nennen wir die "Vorfälle" das, was sie sind: Verbrechen. Tausende Täter. Tausende Opfer. Tausende Namen – Tausende Male anonymes Leid. Noch am Tag vor Beginn einer "Missbrauchskonferenz", zu der Papst Franziskus Bischöfe im Februar 2019 nach Rom beordert hatte, bezeichnete er allzu scharfe Kritiker der Kirche, als "Freunde und Verwandte des Teufels". Eine bizarre Konstruktion, ein grotesker Versuch, die Wirklichkeit umzudeuten.

In Deutschland erschütterte der Missbrauchsskandal 2010 die katholische Kirche. Immer mehr Opfer brachen ihr Schweigen. Die Kirchenoberen entschlossen sich zur Flucht nach vorne: Gemeinsam mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) wurde im Juli 2011 ein Forschungsprojekt aufgelegt, das die Personalakten Geistlicher untersuchen sollte. Gerade mal anderthalb Jahre später aber war das Projekt gescheitert. Der Leiter der Untersuchung, der Kriminologe Christian Pfeiffer, machte die Kirche dafür verantwortlich. "Kurz vor dem Start der eigentlichen Datenerhebung wurden wir mit der Forderung konfrontiert, dass Studienergebnisse nur mit Billigung der Kirche veröffentlicht werden dürfen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das unzumutbar." Die Hauptwiderstände seien aus der Diözese München und Freising gekommen, in der Papst Benedikt XVI. einst Erzbischof war. Pfeiffer erhob den Vorwurf der Zensur. "Die katholische Kirche wollte offenbar ein Gutachten ganz nach ihrem Geschmack." Das aber war mit dem Selbstverständnis des Kriminologen nicht vereinbar.

Der Rechtsstaat macht einen Kniefall

Das verquere Verständnis von der unbefleckten und unbefleckbaren Kirche war zwar schon lange zerbröckelt, die Glaubwürdigkeit der Kirchenoberhäupter lädiert, doch in vielen Bistümern dröhnt noch immer das laute Schweigen, wenn es um die Missbrauchsfälle im eigenen Sprengel ging. Wissenschaftler – ebenso Staatsanwaltschaften – dürfen Akten weiterhin nur vereinzelt aus Archiven holen und lesen. Falls überhaupt, wählten und wählen Anwälte der Diözesen dies vorab aus, du werden sie wurden sie anonymisiert übergeben. Weder die Tatzeiten noch die Tatorte, schon gar nicht die Täter sind identifizierbar. Viele Namen und Angaben waren und sind geschwärzt. Ohnehin konnten nur die Fälle ausgewertet werden, die überhaupt aktenkundig sind.

Geht es paradoxer? Bischöfe – oft genug Vertuscher und Manipulierer – kontrollieren selbst, der Zugang zu den Archiven unterliegt dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Bei einem Verdacht übernimmt die Untersuchung nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Kirche selbst. Eine kirchliche Paralleljustiz, die Täter schützt. Verleugnen und Vertuschen in friedlicher Ko-Existenz. Sexueller Missbrauch, ein sogenanntes Offizialdelikt, eine Straftat, die von Amts wegen von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden muss, aber weder von den Klerikern noch von den Ermittlungsbehörden mit Nachdruck verfolgt wird. Selbst nach der Veröffentlichung der "Missbrauchsstudie" bleiben die deutschen Staatsanwaltschaften weitgehend untätig. Der Rechtsstaat macht einen Kniefall.

Man stelle sich einmal vor: ein anderes weltweit agierende Unternehmen, dessen Angestellten über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen. Der Vorstand weiß davon, aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Und wo kein Kläger, da kein Ermittler. Hier aber ging und geht es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als Alleinstellungsmerkmal Barmherzigkeit und Glaubwürdigkeit beansprucht.

Es brauchte eine Gruppe engagierter Staatrechts-Professoren, die im Oktober 2018 "Anzeige gegen Unbekannt" erstatteten und diese bei Staatsanwaltschaften im Bezirk jeder Diözese einreichten. Die Professoren erinnerten die Ermittler an ihre "unbedingte Pflicht", dem offensichtlichen "Anfangsverdacht" nachzugehen. Denn viele Fälle sind keineswegs verjährt. Sie waren überrascht darüber, "wie zurückhaltend Staat und Öffentlichkeit (bislang) mit dem alarmierenden Anfangsverdacht schwerer Verbrechen umgehen". Dies – so die Strafrechtler – habe möglicherweise seinen Grund in einer in Deutschland herrschenden "intuitiven Vorstellung von der sakrosankten Eigenständigkeit der Kirche". Dabei ist die Rechtslage eindeutig: "Es gibt für die Kirche und ihre Priester keine grundsätzlichen Ausnahmen von der Strafverfolgung wie etwa bei der Immunität von Parlamentariern oder Diplomaten." Die Strafrechtsprofessoren verwiesen darauf, dass es auch kein Recht der Kirche gibt, etwa unter Hinweis auf das Kirchenrecht und die eigene Strafgewalt, "ihre Institution von strafrechtlichen Eingriffen frei zu halten". Der Rechtsstaat müsse sicherstellen, dass "die am Schutz der Menschenrechte orientierte Minimal-Ethik des Strafrechts durchgesetzt und persönliche Verantwortung geklärt werde", ansonsten stehe "das Rechtsvertrauen der Öffentlichkeit im säkularen Staat" auf dem Spiel

Die Juristen enden mit einem markanten Vergleich: "Man stelle sich nur einmal vor, ein Ableger der kalabrischen Mafia 'Ndrangheta' hätte einem Wissenschaftler Zugang zu seinen in Deutschland befindlichen Archiven gewährt, der daraufhin auftragsgemäß eine Studie veröffentlicht hätte, worin er zahlreiche, z. B. zwischen 1990 bis 2014 in Deutschland begangene Verbrechen schildert, woraufhin der 'Pate' sich wortreich bei den Opfern entschuldigt, sich allerdings zugleich weigert, die Akten der Polizei zu übergeben oder die Namen der Täter zu benennen. Es würde kein Tag vergehen, bis die Polizei sämtliche Akten in allen auf deutschem Boden befindlichen Mafiaarchiven beschlagnahmt hätte, um die Täter zu ermitteln und anzuklagen. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, warum dies im Fall der katholischen Kirche anders sein sollte."

Mit schonungsloser Offenheit und Kooperation darf auch künftig nicht zu rechnen sein. Die irdischen Gottes-Vertreter, die so gerne von Schuld und Sünde reden, von "Liebeskirche" und "Barmherzigkeit", sind Spezialisten in Sachen Beruhigung durch beharrliche Verharmlosung, Vernebelung und erschöpfendes Aussitzen. Ein andauender Skandal, irritierend ignoriert von der Politik.

Die Deutsche Bischofskonferenz hat bei ihrem letzten Treffen wieder einmal verlauten lassen, sie wolle konsequent aufklären und neue Maßstäbe für den internen Umgang ihrer Sexualtäter entwickeln. Wir sollten darauf nicht vertrauen. Im Rechtsstaat gelten sie längst – und zwar für alle Täter.

Doris Reisinger / Christoph Röhl, Nur die Wahrheit rettet – Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger, München 2021, 22,00 Euro

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