BERLIN. (hpd) Die von den ISIS-Terroristen verübten Verbrechen in Syrien und dem Irak bleiben auch in muslimischen Kreisen – nach einer anfänglichen Phase des Schweigens - nicht unwidersprochen und werden deutlich kritisiert. Neben einer Verurteilung der kriminellen Taten im “Islamischen Staat” wird zudem darauf hingewiesen, dass ISIS keineswegs “den Islam” verkörpere. Aber nicht alle islamischen Verbände haben sich bisher geäußert.
Deutschland: Erklärung von Theologen und Geistlichen
In Deutschland haben jüngst in einer Erklärung sechs VertreterInnen der Standorte für Islamisch-Theologische Studien den ISIS-Terror verurteilt. Die Stellungnahme, die im Zusammenhang mit dem Kongress “Horizonte der Islamischen Theologie” Anfang September in Frankfurt am Main vorgestellt wurde, ist mittlerweile von über 60 islamischen TheologInnen und angehenden Theologen unterzeichnet worden.
In der u.a. von Prof. Mouhamad Khorchide (Münster) verfassten Erklärung wird betont, dass “die ungeheuerliche Gewalt, die von den Anhängern des ISIS ausgeht, … alle Regeln von Menschlichkeit und zivilisatorische Normen” negiere. Ausdrücklich abgelehnt und verurteilt werden Deutungen des Islam, “die ihn zu einer archaischen Ideologie des Hasses und der Gewalt pervertieren”. Angesichts der steigenden Zahl junger Menschen in Europa, die sich dem Gedankengut von ISIS und anderen Extremisten anschlössen, sei es notwendig, sich derartigen Deutungen entgegenzustellen.
Die Autoren verweisen auf islamische Traditionen, die zur Herausbildung von Menschlichkeit und zivilisatorischen Normen geführt haben und erklären, sich für einen Islam einzusetzen, “aus dem sich Humanität, Gewaltfreiheit, Wertschätzung der Pluralität und Respekt für Menschen ungeachtet ihrer Zugehörigkeiten schöpfen lassen.”
Kampf um Deutungshoheit aufnehmen
Es gehe um die Deutungshoheit über den Islam, die “nicht Extremisten und Gewalttätern überlassen werden (dürfe) und … in Deutschland aus der Mitte der Gesellschaft heraus – unter anderem an den Universitäten – erfolgen” müsse.
Eine deutliche Stellungnahme, die auf die Verteidigung der zivilisatorischen Errungenschaften setzt, diese nicht etwa als eine westliche Erfindung abtut, und auf die Reflexion von Lehre und Praxis des Islam unter gesellschaftlich-freiheitlichen Bedingungen orientiert.
Wie orientieren sich die Islam-Verbände?
Ob aber die geforderte Auseinandersetzung um die Deutungshoheit im Islam lediglich in Theologischen Seminaren geführt werden wird oder auch in der muslimischen Community insgesamt, also außerhalb universitärer Strukturen, bleibt abzuwarten. Hier sind allerdings Zweifel angebracht und es wird letztlich darauf ankommen, wie die konservativ-orthodoxen Islam-Verbände in Deutschland sich in der Praxis verhalten werden. Bislang ist nicht bekannt geworden, dass sie weitergehende Initiativen planen.
Dabei wird es vor allem auf die Arbeit “vor Ort”, in den Moscheegemeinden, mit muslimischen Jugendlichen, die sich von radikalen Ideen angezogen fühlen, ankommen. Insider der muslimischen Community wie Ahmed Mansour aus Berlin-Neukölln beklagen vehement das Desinteresse islamischer Verbände und Vereine an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Radikalisierung mancher muslimischer Jugendlicher. Er fordert, dass Moscheen und Verbände endlich “Verantwortung übernehmen und die Inhalte, die von Radikalen instrumentalisiert werden, in Frage stellen und ernsthaft diskutieren.”
Kritisches Denken und Nachfragen müssen mit den Jugendlichen geübt werden, Themen wie “Angstpädagogik, Geschlechtertrennung, Tabuisierung der Sexualität und Exklusivitätsansprüche” angesprochen werden. Geschlechtertrennung etwa in der Jugendarbeit, wie beispielsweise von Milli Görüs praktiziert, steht einer solchen Verantwortungsübernahme allerdings entgegen. Ob zu einer von Mansour geforderten Aufklärung zur Bestimmung der Inhalte eines zeitgemäßen aufgeklärten Islam bei den Konservativ-Orthodoxen doch Bereitschaft besteht, wird sich erst in der Zukunft zeigen.
Mehrere Islam-Verbände verurteilen ISIS
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMR) hat indessen den Terror der ISIS bereits mehrfach verurteilt und dessen Vertreibungspolitik als “Akt des Unrechtes” und gegen den Islam sowie gegen internationales Recht und die Menschlichkeit verstoßend bezeichnet. “Solidarität mit allen Menschen in Notsituationen ist ein elementares Gebot im Islam” betont der ZMR und verweist auf eine Aussage Mohammeds, “wonach dieser Muslime ermahnt, sich gegen diejenigen zu stellen, die Nichtmuslimen Unrecht antun, sie diskriminieren, ihnen etwas auferlegen, was sie nicht zu tun vermögen oder ihnen etwas rauben, (denn) gegen diesen werde er ‘der Ankläger am Tage der Auferstehung sein’”.
Auch die DITIB hat mittlerweile von einer “Terrorherrschaft” der ISIS gesprochen und diese verurteilt: “Die islamische Religion gestattet in keinem Fall, Menschen aufgrund ihrer Sprache, Religion oder Konfession zu töten, zu foltern oder anderweitig unmenschlich zu behandeln, oder aus ihrer Heimat zu vertreiben.” Es sei “nicht akzeptabel, dass Menschen nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit vertrieben oder umgebracht werden. Ebenso ist es auch nicht hinnehmbar, dass die Täter für sich beanspruchen, im Namen Allah´s zu handeln. Alles, was Gott uns im Koran lehrt, steht in direktem Gegensatz zu dieser Gewalt.”
Berichtet wird zudem davon, dass auch Milli Görüs die Gewalt von ISIS verurteilt und als mit dem Islam nicht vereinbar bezeichnet habe.
Um den Monatswechsel Juli / August war das bis dahin praktizierte Verhalten der Islamverbände, sich zu ISIS nicht zu äußern, medial stark kritisiert worden und manche Stellungnahmen sind erst danach erfolgt. Aber nun liegen sie öffentlich vor, immerhin.
Liberal-Islamischer Bund: Deutlich gegen Terror und ein totalitäres Islam-Verständnis
Bereits Wochen zuvor hatte sich allerdings der Liberalislamische Bund (LIB) eindeutig gegen ISIS positioniert. In einer Presseerklärung Anfang Juli wurde das “totalitäre Islam-Verständnis” der ISIS angegriffen und betont, dass dieses Islamverständnis nicht mit dem Islam vereinbar sei, worüber bei liberalen und konservativen Muslimen Einigkeit bestünde. Man habe es mit einem realen Problem durch Muslime zu tun, “die im Namen unserer Religion Terror und Irrlehren verbreiten.” Der Liberalislamische Bund, der konsequent für die Akzeptanz der universellen Menschenrechte eintritt, betont nochmals klar die eigene Position: “Der LIB lehnt generell das Konzept eines ‘islamischen Staates’, der für seine Bürger religiöse Vorschriften setzt, ab. Wir gehen davon aus, dass Politik und Religion getrennt bleiben müssen, und die Menschheitsprobleme nur gemeinsam gelöst werden können, aber nicht durch einen Staat mit offizieller Religion und eventuell noch geduldeten Bekenntnissen.”
Muslimische Reaktionen im europäischen Ausland
Auch auf europäischer Ebene haben sich in den letzten Wochen Islamgelehrte und Geistliche gegen ISIS geäußert. In Großbritannien erließen Imame eine Fatwa gegen die Terrorgruppe (allerdings erst, nachdem Kritik am vorherigen Schweigen zu den Massakern im Irak laut geworden war); in einer Erklärung wurde hervorgehoben, dass die britischen Muslime die Pflicht hätten, deren “vergiftete Ideologie” abzulehnen. ISIS sei “ketzerisch” und “extremistisch”, dieser Organisation beizutreten oder sie auch nur zu unterstützen, sei Muslimen aus religiösen Gründen verboten. In der Pressemitteilung heißt es weiter: “Die Verfolgung und Massaker an Schiiten, Christen und Jesiden ist abscheulich und der islamischen Lehre entgegengesetzt.” Über 100 britische Imame hatten sich schon zuvor – im Juli – gegen ISIS gewandt und britische Muslime aufgefordert, diese Organisation nicht zu unterstützen. Imame in den Niederlanden wollen sich in einer Kampagne in den sozialen Medien gegen ISIS engagieren.
Frankfurter Erklärung – eine bedeutsame Stellungnahme
Mit der Frankfurter Stellungnahme der islamischen Theologen und Geistlichen ist ein innerislamischer Diskurs eröffnet worden, den es so in Deutschland bislang nicht gegeben hat. Ein Diskurs, bei dem es um die Deutungshoheit über den Islam gehen wird. Das ist das erklärte Ziel der Stellungnahme.
Bejaht wird ein Islam der “Humanität”, “Gewaltfreiheit”, “Wertschätzung der Pluralität”, des “Respekt(s) für Menschen ungeachtet ihrer Zugehörigkeiten” – eine Entwicklung, die uneingeschränkt zu begrüßen ist, stellt sie doch eine entscheidende Weichenstellung zu einem Islam in einer freiheitlich-säkularen Gesellschaft dar. Und das ganz ohne staatliche Vorgaben. Jetzt sind die Islam-Verbände gefordert, daraus – zügig – Konsequenzen zu ziehen.
Feststehen dürfte allerdings jetzt bereits eines: die Frankfurter Erklärung ist wohl der überwiegenden Mehrzahl derjenigen in Deutschland, die gemeinhin den “Muslimen” zugerechnet werden, aus der “Seele gesprochen”. Und das ist gut.
2 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Dieses empfinde ich als selten naiv: >>Die islamische Religion gestattet in keinem Fall, Menschen aufgrund ihrer Sprache, Religion oder Konfession zu töten, zu foltern oder anderweitig unmenschlich zu behandeln,
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
>>Bejaht wird ein Islam der “Humanität”, “Gewaltfreiheit”, “Wertschätzung der Pluralität”, des “Respekt(s) für Menschen ungeachtet ihrer Zugehörigkeiten” – eine Entwicklung, die uneingeschränkt zu begrüßen ist,
Schön und gut, aber wäre dies nicht ein "Antiislam", mehr noch: eine "Antireligion"? Sind nicht "Theokratie", "Gewaltanwendung (auch geistig/moralische)", "Wertschätzung der Intoleranz", und "Respekt für Menschen nur der eigenen Glaubensrichtung" die wesentlichen Erkennungsmerkmale für Religion, ja, deren Erhaltungsgarantien?
Ich als Atheist grenze niemanden wegen seines Glaubens oder Nichtglaubens aus. Ich stelle also den Menschen über jede Ideologie. Würde ein gläubiger Moslem sagen: "Ich stelle jeden Menschen und jedes Tier über jeden Gott!"? Ich denke mal nein!
Wenn der Islam völlig korrekt in einer fast banalen, liebenswürdigen Weise ausgelegt werden darf, ja MUSS, wie würde es dann aussehen, wenn ein Vertreter der DITIB in Saudi Arabien zur Sittenpolizei ginge und dezidiert forderte, dass sich Männer auch an der Frauenkasse anstellen dürften, ja, dass es künftig keine nach Geschlechtern getrennten Kassen mehr geben solle, weil dies einer pluralistischen, säkularen Gesellschaft zuwiderliefe? Und falls die Moralwächter ihn auslachen oder ihm in den Rücken springen würden, ob der Vertreter der DITIB jene dann darüber aufklären würde, dass dies mit dem Islam nicht vereinbar wäre?
Was würde ein Imam im Iran, im Sudan, in Afghanistan, Pakistan, im Jemen ... dazu sagen, wenn ihn ein deutscher Islamvertreter darüber aufklären will, dass sämtliche islamischen Länder keine Ahnung vom Islam haben? Es geht doch nicht nur darum, ob Islamisten Terroranschläge mit Kalaschnikows ausführen. Auch die Repressionen, denen sich ALLE Bürger in einem islamischen Land - in jedem islamischen Land - ausgesetzt sehen (Trennung der Geschlechter, rigide Sexualmoral, Speise- und Bekleidungsvorschriften, Beschneidung, gegenseitiges Bespitzeln, Gesinnungsschnüffelei, Ausgrenzen etc.) sind inakzeptabel und werden nur mangels anderer Beispiele geduldet. Der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier und kann sich selbst mit dem größten Elend arrangieren. Diese ganzen Erklärungen aus islamischen Kreisen - oft genug nur unter Druck verfasst - sind für mich Lippenbekenntnisse, da ihre konsequente Umsetzung zu einer Abschaffung des Islams führen würde. Und an dieses Ziel gerade der Islamverbände mag ich keine Sekunde glauben...