Eine evolutionäre Ethik der sozialen Verantwortung

WEIMAR. (hpd) Fürst Pjotr Kropotkin (1842 – 1921) ist den Nachgeborenen eigentlich nur als einer geistigen Köpfe des politischen Anarchismus bekannt. Dass der an Darwin geschulte Geograph auch Evolutionstheoretiker war, dürfte nur noch wenigen bewusst sein. Völlig unbekannt aber ist wohl heute und hierzulande, dass sich Kropotkin aufgrund seiner wissenschaftlichen Forschungen immer stärker ethischen Fragen zugewandt hatte.

In seinem – todesbedingt – unvollendet gebliebenen Spätwerk “Ethik” zeigt Kropotkin auf, wie eine evolutionäre, humanistische Ethik zu begründen ist. Eine Ethik, die auf einer naturalistischen Basis beruht und die vom Menschen und der menschlichen Gesellschaft ausgehend ohne religiöse Fundierungen auskommt. Es ist das große Verdienst des Alibri-Verlages, diese Schrift erneut aufgelegt zu haben und Kropotkins Forschungsergebnisse dem zeitgenössischen Publikum wiedererschlossen zu haben. Einem Publikum, das bei der Lektüre vielleicht staunend feststellen wird, wie modern Kropotkins Schrift auch heute noch ist bzw. dass heute wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse schon vor Jahrzehnten niedergeschrieben worden sind. Natürlich konnte Kropotkin zu seiner Zeit nichts vorwegnehmen und war auch vor Fehlurteilen nicht gefeit. Aber das eben macht Wissenschaft aus!

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Doch nun zu Kropotkins, in 13 Kapiteln gegliedertes, Buch selbst. Auf die Fülle seiner Gedankengänge, Argumentationen und Schlussfolgerungen kann in dieser Rezension leider nicht im Detail eingegangen werden.Hinzufügen muss man auch, dass der Autor beim Verfassen dieses Buches im von Bürgerkrieg und Intervention geschüttelten Sowjetrussland keinen Zugriff auf wissenschaftliche Publikationen des Auslands hatte. Um so mehr muss sein Werk gewürdigt werden. Das geschieht auch durch Michael Schmidt-Salomon in einem ausführlichen Vorwort, wenn er da u.a. schreibt, dass Kropotkin “im Grunde bereits 1904 das Arbeitsprogramm der exakt 100 Jahre später entstandenen Giordano-Bruno-Stifung formuliert” habe (S. 7) und dass dieser neben Darwin und Huxley “einer der großen Vordenker des evolutionären Humanismus” sei und dass, “wer auf der Suche nach einem zeitgemäßen Menschen- und Weltbild ist, ihn sollte gelesen haben”. (S. 16) Dem kann der Rezensent nur beipflichten.

In Kapitel 1 geht es um das “Bedürfnis der Gegenwart nach Ausgestaltung der Grundlage der Sittlichkeit” auf wissenschaftlicher, philosophischer Grundlage. Er bringt dies solcherart auf den Punkt: “Die Menschheit verlangt dringend nach einer neuen Wissenschaft der Sittlichkeit, frei von religiösem Dogma, von Aberglauben und metaphysischer Mythologie (…) begeistert von hohen Gefühlen und lichter Hoffnung, die uns von unserem jetzigen Wissen um den Menschen und seine Geschichte eingegeben werden.” (S. 21)

In Kapitel 2 beschreibt Kropotkin die “Anzeichen der Grundlagen einer neuen Ethik” und benennt hier “gegenseitige Hilfe, Gerechtigkeit und Sittlichkeit” als die Grundlagen einer wissenschaftlich begründeten Ethik. Er setzt sich eingehend mit den Theologen-Behauptungen auseinander, die unentwegt postulieren, Sittlichkeit, Moral, “unendliche Güte” etc. könnten nur durch (christliche) Religion hervorgerufen werden. Er weist darauf hin, dass das Christentum, sprich die Kirche, ja rund 2000 Jahre Zeit gehabt hätte, Nächstenliebe, Brüderlichkeit u.a.m. durchzusetzen, es aber nicht getan habe. Das Gegenteil sei der Fall!

Seine Argumentation beginnt Kropotkin, sich auf Darwin stützend, mit empirischen Betrachtungen der Tierwelt (Kapitel 3: “Über das sittliche Prinzip in der Natur”) und folgert: “Die Natur kann deshalb der erste Lehrer der Ethik, des sittlichen Prinzips, in Bezug auf den Menschen genannt werden. Der dem Menschen, wie jedem geselligen Tier, angeborene gesellschaftliche Instinkt ist die Quelle aller ethischen Begriffe und der ganzen nachfolgenden Entwicklung der Sittlichkeit.” (S. 60)

Folgerichtig behandelt er im 4. Kapitel “Die sittlichen Anschauungen der primitiven Völker”. Als Stichworte seien hier nur genannt: Stammesorganisation und Stammesgerechtigkeit, die Teilung der Gesellschaften in Klassen und Stände, die Herausbildung des Staates bedingt durch das Aufkommen des Privateigentums, all das verbunden mit der Herausbildung der für den sozialen Zusammenhang notwendigen und nützlichen Gebräuche und Sitten. Es wurden bereits in den frühen Stammesgesellschaften weltweit verbindliche, ungeschriebene, Gesetze formuliert. Als oberstes das des Verbotes des Brudermordes, d.h. des Mordes in der eigenen Sippe. Kropotkin benennt weitere weltweite Lebensregeln und resümiert: “Dabei ist es natürlich, daß der Mensch, dank der Sprache, die die Entwicklung des Gedächtnisses unterstütze und die Überlieferung schuf, viel verwickeltere Lebensregeln, als die Tiere sie haben, ausarbeitete. Mit dem Erscheinen der Religion, wenn auch in der rohesten Form, trat in die menschliche Ethik ein noch neues Element, das ihr eine gewisse Festigkeit verlieh und nachher zum Träger der Vergeistigung und eines gewissen Idealismus wurde.” (S. 85)

Und obwohl durchaus zum Träger von Ethik geworden, aber keinesfalls zu deren Begründer, müsse dies festgestellt werden: “Die Religionen wurden fast überall selbst zu Quellen grausamster Feindschaft, die sich mit der Entwicklung des Staates noch verstärkte. Daraus entstand eine zwiespältige Ethik, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten und zu den Schrecken des Weltkrieges geführt hat.” (S. 89).

Kropotkin verweist darauf, dass es nicht nur im alten Griechenland nichtreligiöse Anschauungen zur Herleitung und Begründung von Sittlichkeit gegeben habe. So auch in China und Indien – aber es sei darüber noch zu wenig bekannt. Dagegen verfüge man aus dem mediterranen Kulturkreis über gute schriftliche Überlieferungen. Konkret geht er daher im 5. Kapitel auf “Die Entwicklung der Sittlichkeitslehren” ein, speziell im alten Griechenland. Und dort erfolgte das schon Jahrhunderte vor dem Christentum und unabhängig von diesem. In komprimierter Form schreibt er hier über Sokrates, Plato, Aristoteles, Epikur und die Stoiker. Kropotkin verschweigt natürlich nicht, dass all diese hochgeistigen Denker voll der Sklavenhaltergeschaft verhaftet waren. An die Gleichberechtigung aller Menschen dachten sie noch nicht.

Im 6. Kapitel behandet Kropotkin “Das Christentum – Das Mittelalter – Die Renaissance”. Auf diese weniger als 30 Seiten soll etwas näher eingegangen werden.

Er schreibt über das Aufkommen des Christentums, die Gründe seiner Entstehung und über die Gründe für den Erfolg der christlichen Lehre. So wurde das Christentum in seiner Frühzeit durchaus als Religion der Armut wahrgenommen. Diesbezüglich vergleicht er Christentum und Buddhismus. Er spricht das soziale Ideal des Christentums an – aber gab es das wirklich? Oder waren es nicht damals schon fromme Worte, um Anhänger zu ködern? Denn recht bald wurde ja das Bündnis von Staat und Kirche geschmiedet, erhob ein römischer Kaiser das Christentum zur alleinigen Staatsreligion. Warum wohl? Das wird auch von Kropotkin zu kurz beantwortet. Denn gerade diese Religion war optimal für die Beherrschung der da unten durch die da oben geeignet, durch fromme Sprüche, durch Verheißungen und Vertröstungen auf das Jenseits.

Dennoch wird Kropotkin bei all seiner Idealisierung des Urchristentums deutlich, wenn er schreibt: “In das Christentum, wie in alle Sittlichkeitslehren stahl sich gar bald der Opportunismus (…) Und das um so leichter, als im Christentum, wie in jeder anderen Religion, sich schnell eine Zelle von Leuten heranbildete, die behaupteten, daß sie, die Vollzieher der heiligen und geheimen Bräuche, die Lehre Christi in ihrer ganzen Reinheit erhalten und vor immerzu entstehenden falschen Auslegungen bewahren.” (S. 126) Also ist die Rede von einer Priesterkaste, die nach Macht über Mensch, Gesellschaft und Staat gierte und nicht minder nach immensem eigenem kollektiven materiellen Reichtum.

Und was die Anmaßung angeht, allein das Christentum sei die Quelle von Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder Tötungsverbot, dazu wird Kropotkin erneut sehr deutlich: “Wenn wir vorurteilslos nicht nur die früheren Religionen, sondern sogar die Sitten und Gebräuche der primitivsten Wilden betrachten, finden wir tatsächlich, daß in allen primitiven Religionen und in den primitivsten Gemeinschaften bereits die noch heutige gültige Regel bestand, seinem Nächsten, d.h. dem Stammesgenossen, nicht das zuzufügen, was man sich selbst nicht wünscht. Auf dieser Regel fußten seit Jahrtausenden alle menschlichen Gemeinschaften, so daß das Christentum mit seiner Predigt der Gleichheit innerhalb des Stammes selbst NICHTS Neues geschaffen hat. (…) Dasselbe muß von der Wohltätigkeit gesagt werden, die oft als kennzeichnender Zug des Christentums zum Unterschied vom Heidentum angeführt wird.” Das gelte auch für “die allgemein gehaltene Predigt der Liebe, so daß letzten Endes die gerichtliche Vergeltung in ihren grausamen Formen zum unentbehrlichen Rüstzeug dessen gehört, was im christlichen Staat und in der christlichen Kirche Gerechtigkeit genannt wird. Nicht grundlos steht der Priester neben dem Henker auf dem Blutgerüst.” (S. 129 – 131) Des weiteren werde die Sklaverei als gottgegeben verteidigt (von der Religion der Armut!) Selbst der hochgelobte Thomas von Aquino habe behauptet, die Sklaverei sei “göttliches Gesetz”. Kropotkin zählt noch mehr auf.

Erst mit der Renaissance und dem Aufkommen unabhängiger Wissenschaft im christlichen Machtbereich beschäftigten sich wieder Menschen gegen den Willen der Kirche mit antiken Erkenntnissen, Philosophien und Sittlichkeitslehren. Nur so und im ständigen Kampf gegen die Priesterkaste konnte das finstere Mittelalter überwunden werden. Vor allem das aufkommende Bürgertum verlangte nach einem moderneren Weltbild und nach neuen Sittlichkeitslehren, die dieser Gesellschaftsordnung angemessen waren.

“Die Entwicklung der Sittlichkeitslehren in der Neuzeit”, also vom 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts wird in den Kapiteln 7 bis 13 behandelt und in komprimierter Form gestreift. Es geht seither um “die Befreiung der Wissenschaften und folglich auch der Sittlichkeitslehren vom Joch der Kirche”. (S. 178) Dabei konzentriert sich Kropotkin auf die wichtigsten Denker aus England, Frankreich und Deutschland. Er stellt sie und ihre Lehren im Überblick vor und würdigt diese kritisch.

Bezugnehmend auf Feuerbach wird Kropotkin deutlich: “Jeder [bisherige; SRK] Staat ist ein Verband der Reichen gegen die Armen und [ein Verband; SRK] der Machthaber (…) der Regierenden und der Geistlichkeit – gegen die Regierten. Und die Geistlichkeit aller Religionen, die als tätiges Mitglied der Staatsorganisation auftritt, bereicherte die ‘Ideale’ immer wieder mit Ratschlägen und Vorschriften, die den Trägern der Staatsorganisation, d.h. den bevorzugten Klassen, zu Gute kamen.” (S. 252)

Diese Worte Kropotkins mögen sich all diejenigen “Linken” ins Stammbuch schreiben, die die christlichen Kirchen auch heute noch unkritisch idealisieren und die sich der verfassungsgebotenen Trennung von Staat und Kirche/Religionen vehement widersetzen und dies nicht zuletzt damit begründen, dass die Kirchen doch so viel Gutes tun würden und dass vor allem diese Urheber und Träger von Moral und Ethik seien…

Kropotkin geht im weiteren auch auf die Ethik des Sozialismus und auf die Evolutionsethik ein. Er schreibt hier u.a.: “Bisher gestaltete sich jede Ethik mehr oder minder unter dem Einfluß der Religion, und keine Lehre wagte es, die Gleichberechtigung und die wirtschaftliche Gleichheit als Grundlage der Ethik anzuerkennen.” (S. 260)

Im Nachwort des Erst-Herausgebers Nikolai Lebedeff vom 1. Mai 1921 hebt dieser hervor: “In seiner ‘Ethik’ wollte Kropotkin auf zwei grundätzliche Fragen eine Antwort geben. Diese Fragen lauten: Woher stammen die sittlichen Begriffe des Menschen? und Was erstreben die sittlichen Vorschriften und Normen?” (S. 323) Nach der Theorie Kropotkins gäbe es drei Elemente der Sittlichkeit: gegenseitige Hilfe, Gerechtigkeit und Selbstaufopferung, also Solidarität, politische und soziale Gleichheit/Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit.

Zusammenfassend kann man sagen, dass den Reiz dieser Lektüre weniger die Aussagen über Denker und Denkschulen im Wortlaut ausmachen, sondern dass das Buch vor allem den Erkenntnisstand fortschrittlicher Denker vor gut 100 Jahren reflektiert. Es ist für die Nachgeborenen daher nicht nur ein gutes Geschichts-Handbuch, sondern es hilft auch, die Bedeutung dieses Vordenkers für das uns heutigen Humanisten Geläufige zu erkennen und zu würdigen. Allerdings verlangt die altmodische Begrifflichkeit dem Leser mitunter einiges ab, denn z.B. unter Geselligkeit verstand Kropotkin völlig anderes als der heutige Durchschnittsbürger. Auch deshalb sei dem Alibri-Verlag Dank für sein verlegerische Wagnis gesagt.

 


Peter Kropotkin: Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten. Mit einem Vorwort von Michael Schmidt-Salomon. 336 S. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2013. 18,- Euro. ISBN 978–3–86569–160–6

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