Fremdkontrolle nur ein Mythos?

Psychiatrisches und Forensisches

Eine Einführung in das disziplinäre Zentrum des “Kampfes” um die freie Willensbestimmung des Menschen will der dritte Abschnitt “Psycho-Logik” geben.

“Being a Psycho-Machine” ist der Artikel des Psychiaters und Philosophen Tomas Fuchs überschrieben. Darin geht es um die Phänomenologie von “Beeinflussungsmaschinen”. Zusammenfassend schreibt er: “Wahnvorstellungen von technischen Apparaturen und Fernwirkungen, von denen sich die Betroffenen manipuliert und geschädigt fühlen, sind ein weit verbreitetes Phänomen psychotischer Erkrankungen.” (S. 127)

Dass dem tatsächlich so ist, das weist die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh anhand von vier Fallbeispielen in ihrem Beitrag “Beeinflussungserfahrungen als Thema in der forensischen Psychiatrie” nach. Dabei geht es um den sogenannten freien Willen und die Schuldfrage in Strafrechtsprozessen, also ob ein konkreter Täter schuldfähig ist oder nicht.

Ergänzt werden diese Ausführungen durch den Artikel “Individuelles Erleben von Beeinflussung und Fremdkontrolle”, ebenfalls mit Fallbeispielen, aus der Feder des Psychologischen Psychotherapeuten Thomas Bock und der Erzieherin und Tischlerin Gwen Schulz. Sie gehen dabei insbesondere der Frage nach, ob das psychotische Erleben von Fremdkontrolle reale biographische und gesellschaftliche Konflikte widerspiegeln würde.

Hervorzuheben ist ihre Feststellung: “Das Erleben von Beeinflussung und Fremdkontrolle kann nur durch erlebten Mangel von Selbstbestimmung und den daraus erwachsenden Wunsch nach Autonomie entstehen. Ein Mensch, der sich in seinem Empfinden frei und unzensiert entfalten kann, wird mit dem Begriff Fremdkontrolle aus eigener Erfahrung nichts anfangen können.” (S. 173)

Zwei Blicke in die Welt

Doch es geht nicht nur um “die westliche Zivilisation”, wenn man das Thema Fremdbestimmung universell untersuchen will. Dazu will der vierte Abschnitt “Kulturelle Gegenhorizonte” einen kleinen Beitrag leisten.

Hier gibt zum einen Ethnologe Werner Egli einen kleinen Einblick in das geistige und soziale Leben einer kleinen ostnepalischen Ethnie: “Fremdkontrolle und Selbstkontrolle durch Ahnengeister.” Entgegen landläufiger Vorstellungen hierzulande kommt der Wissenschaftler zu diesem verblüffenden Schluss, “dass schamanische Rituale meist nur vordergründig der Krankenheilung und letztlich der Lösung sozialer Konflikte dienen…” (…) Untersuchungen würden sogar nahe legen, “dass eine rituell herbeigeführte Fremdkontrolle durch übernatürliche Mächte erst die Selbstkontrolle ermöglicht, die zur individuellen Aushandlung sozialer Probleme notwendig ist.” (S. 193)

Einen besonders lesenswerten Aufsatz hat die Ethnologin Bettina E. Schmidt beigesteuert. In “Zombies und andere Vodou-Praktiken” – Untertitel “Zombifizierung als Horrortopos” räumt sie vor allem mit “westlichem” Unwissen, mit Vorurteilen und medialen Zerrbildern über diese haitianische Volksreligion auf. Sie stellt all dieses vom Kopf auf die Füße. Leider kann aus Platzgründen gerade dieser Artikel nicht in der notwendigen Ausführlichkeit reflektiert werden. Aber vielleicht reizt eben das ganz besonders zur Lektüre an…

Bettina E. Schmidt schließt mit der wichtigen Feststellung: “Die Zombifizierung und damit die Fremdkontrolle ist der ULTIMATIVE SCHRECKEN in Haiti, einem Land, das vor über 200 Jahren die koloniale Kontrolle besiegt hat, seither aber unter Diktatoren, Terror, Besetzung (…) leidet. (…) Haiti kämpft gerade darum, nicht ein Land der Zombies zu werden. Denn hier liegt der Kern dieser Angst vor Fremdkontrolle: die Angst vor Zombifizierung ist die Angst der Menschen, so wie ihre Vorfahren Freiheit und eigenen Willen zu verlieren, gefangen und versklavt zu werden…” (S. 207)

“Soziale” Netzwerke, Computerspiele & Co.

Spannend wird es im fünften Abschnitt, bewusst mit einem Fragezeichen versehen, “Im Bann der Technik?”, der an die Grenze zwischen realer Gegenwart und prognostizierter Zukunft führt.

Zum letzten Abschnitt haben die Herausgeber bereits in ihrem Vorwort sehr deutlich formuliert, dass sie sich fragen müssen, “was uns mehr beunruhigt bzw. gerade auch mehr beunruhigen sollte: Die sich ständig selbst überbietenden Alarmbotschaften selbsternannter Retter der Willensfreiheit oder die ganz offen formulierten Forschungs- und Entwicklungsziele renommierter Neurowissenschaftler.” (S. 25) Denn gerade in deren Wissenschaftsbereich gelte offenbar immer noch die Regel, das alles, was technisch möglich sei, auch gemacht werden sollte. Das verlange deshalb unbedingt nach notwendigen ethischen Grenzziehungen. Sie schließen mit der Frage: “Wie viel Willensfreiheit braucht der Mensch und wieviel Fremdkontrolle verträgt unser Menschenbild?” (S. 26) Eine Fragestellung, die gerade für Humanisten eine grundlegende ist! Dieser Gedanke sollte beim Lesen der vier Artikel dieses Abschnitts stets im Hinterkopf präsent sein.

Den Auftakt gibt der Erziehungswissenschaftler Ralf Vollbrecht mit dem Aufsatz “Mentale Beeinflussung durch Massenmedien und Computerspiele?” Seine Stichworte sind: Die Meinungsmacht der Massenmedien in historischer Perspektive; Wirkungsmacht der Medien; Medienmacht aus ideologiekritischer Sicht; Beeinflussung durch Werbung und Wirkungsaspekte durch Computerspielen.

Der Naturwissenschaftler und Psychologe Georg Felser geht dann dieser Frage nach “Wer kontrolliert unser Verbraucher-Verhalten?” und benennt hier zwei Formen der Verhaltenssteuerung von Konsumenten. Er bietet aber auch Antworten an, wie man sich gegen manipulative Strategien der Werbung wehren könne.

Erschaudern kann man, wenn man die Untersuchungen von Andreas Anton und dem Anthropologen Sascha Zorn liest. Sie schreiben über “Fremdkontrolle durch Computerchips” und real stattfindende Erkundungen zwischen technischen Möglichkeiten und menschlichen Ängsten. Dabei gehen sie aber auch kritisch auf verschwörungstheoretische Kontrolldiskurse bezüglich “Computerchips in Körper und Gehirn” ein. Zum Thema selbst formulieren sie sieben Thesen und schreiben abschließend, dass sie “ihren Beitrag in erster Linie auch als Plädoyer für eine offene, sachliche Debatte über die geschilderten technischen Möglichkeiten und deren Chancen, aber explizit auch über damit einhergehende Risiken und Bedenken in medizinisch-psychologischer, gesellschaftlicher, moralisch-ethischer und politischer Hinsicht sehen.” (S. 262)

Auf aktuelle Entwicklungen in den Neurowissenschaften geht daran anschließend der Psychologe Stephan Schleim im letzten Artikel, “Vom Hirnstimulator zur Gedankenkontrolle”, ein. Welche Vorwände führen Forscher für ihre Bestrebungen an? Was steckt hinter vorgeblich hehren Zielen? Wohin könnten Forschungsergebnisse führen? Wo liegen ethische Grenzen? Diese Fragen drängen sich gerade hier auf.

 


Michael Schetsche u. Renate-Berenike Schmidt (Hrsg.): Fremdkontrolle. Ängste – Mythen – Praktiken. 286 S. brosch. Springer VS. Wiesbaden 2015. 39,99 Euro. ISBN 978–3–658–02135–1