Sterbehilfedebatte

Vorwurf der Inkonsequenz ernst nehmen

Zwar deklariert Kipke allzu offensichtlich seine a priori Verdammung zu einer logischen Schlussfolgerung, im Namen der Konsequenz nun jede Form der Suizidhilfe untersagen zu wollen. Doch er hat in seiner Argumentation an sich weitgehend Recht. Diese sollte von Suizidhilfebefürwortern unbedingt ernst genommen werden. Kipkes stärkstes Argument lautet: "Dahl meint, die Suizidassistenz dürfe zunächst auf 'diejenigen Patienten' beschränkt werden, 'die dieser Hilfe am meisten bedürfen.' Doch leiden Menschen mit einer terminalen Krankheit mehr als Menschen mit einer schweren, aber nicht tödlichen Krankheit? Das ist abwegig. Wenn man den assistierten Suizid grundsätzlich befürwortet, ließe sich eher für das Gegenteil argumentieren: Menschen, die nicht ohnehin in absehbarer Zeit durch den Tod erlöst werden, bedürften viel eher der Suizidassistenz."

Wie darauf reagieren? Eine so defensive Erwiderung wie die von Dahl bringt jedenfalls nicht viel. Denn er verteidigt ja tatsächlich eine (zunächst) begrenzte Zulassung des ärztlich assistierten Suizids, die nur für tödlich Erkrankte gelten soll. Dies entspricht Vorschlägen, welche auf politischer Ebene Lauterbach, Reimann und Hintze unterbreitet haben. Sie beziehen sich ihrerseits auf einen Gesetzentwurf, den der Jurist Jochen Taupitz zusammen mit drei renommierten Ärzten (Medizinethikern) ausformuliert hat. Vorbild ist das Modell für streng geregelte ärztliche Suizidhilfe im US-Bundesstaat Oregon. Dort war und ist allerdings ansonsten Suizidhilfe streng verboten – was den entscheidende Unterschied zur Ausgangslage in Deutschland ausmacht. Taupitz und seine Mitstreiter machen ein zukünftiges allgemeines Verbot der Suizidhilfe in Deutschland folglich zur Voraussetzung für ihren Vorschlag der Zulassung nach strengen Sorgfaltskriterien. Denn wenn gegen diese verstoßen wird, müssen natürlich Sanktionen drohen. Vorbehalte gegen die Vorschläge von Lauterbach u.a. macht zwar auch Dahl geltend. Es fällt schwer zu glauben, dass er sie aber im Grundsatz zu befürworten scheint. Dahl nimmt damit nicht mehr und nicht weniger in Kauf, als dass die Suizidhilfe z. B. bei chronisch kranken Hochbetagten im Gegenzug erst einmal kriminalisiert wird – um sie dann irgendwann später (Dahl nennt einen Zeitraum von vielleicht 10 Jahren) wieder zu legalisieren, so wie es heute ja bereits der Fall ist?

Ein noch stärkeres Argument von Kipke lautet: "Es ist inkonsequent, einerseits aus Achtung vor der Selbstbestimmung und aus Gründen der Humanität die Zulässigkeit der ärztlichen Suizidassistenz zu fordern, andererseits sie auf Menschen mit unheilbaren und tödlichen Krankheiten zu beschränken." Kipke fährt fort: "Und nicht nur das: Auch die Ablehnung der kommerziellen Suizidassistenz und der Tötung auf Verlangen lässt sich ethisch nicht rechtfertigen, wenn man die ärztliche Suizidhilfe für zulässig hält." Zunächst müsste offensiv darauf geantwortet werden: "Nun ja, wäre das denn so schlimm". Dann sollten humanistische Anhänger der bleibenden Straffreiheit von Suizidhilfe differenzieren: Wer sich – statt an den Benelux-Ländern – an der Schweiz orientiert, wird empirisch feststellen können: Die dort seit vielen Jahrzehnten etablierte, gesellschaftlich angesehene Suizidhilfe hat mitnichten dazu geführt, die ärztliche Tötung auf Verlangen in der Schweiz einzuführen. Es handelt sich also um eine glatte Fehldarstellung von Tatsachen, wenn eine Zwangsläufigkeit behauptet wird. Soweit ist die Argumentation gegen Kipke, Högl und andere relativ einfach. Doch es bleibt eine ernsthafte Schwierigkeit: Wer ein Recht auf Suizidhilfe fordert, gerät tatsächlich unweigerlich in den Strudel der Inkonsequenz. Wer sollte darüber befinden, was nicht mehr erträgliches Leiden oder auch nur Lebensüberdrüssigkeit, Sinnverlust oder eine ausweglose (psychische, finanzielle) Situation des Scheiterns ist? Im Sinne einer verabsolutierten Selbstbestimmung kann das nur der Betroffene selbst sein – so schließlich auch Strafgefangene (oder wie in Belgien ein Sicherheitsverwahrter), die an ihrer erbärmlichen Existenz verzweifeln und zerbrechen?

Jedenfalls müssen die Suizidhilfebefürworter darauf angemessen reagieren. Ihre Strategie reicht schon längst nicht mehr: Sich gemeinsame Stärke vorzumachen durch die (Selbst-)Vergewisserung, dass doch alle nur für selbstbestimmtes Sterben eintreten. Denn damit werden durchaus auseinanderdriftende Zielrichtungen verkleistert und nach außen hin die notwendige Klarheit verfehlt. Jedenfalls haben die Anhänger der Suizidhilfe sich davor zu hüten, eine Ablehnung von "geschäftsmäßigen" Formen billigend in Kauf zu nehmen - und zwar völlig unabhängig davon, dass ihnen Herr Kusch vom Verein SterbehilfeDeutschland vielleicht sehr unsympathisch sein könnte. Der Versuchung, die eigene Vorgehensweise oder den eigenen Verein positiv dagegen abzugrenzen, muss unbedingt widerstanden werden. Wir sollten für ein positives Deutsches Modell werben, welches eine Vielfalt von unterschiedlichen Möglichkeiten gleichzeitig umfasst. Dazu würde gehören: ärztliche Suizidassistenz mit Abgabe von Natriumpentobarbital ebenso wie organisierte Suizidhilfe durch erfahrene Vereine, Suizidkonfliktberatung und -verhütung ebenso wie Ausbau palliativer Versorgungsstrukturen (und zwar v.a. in den Händen von Hausärzten und keinesfalls nur für Patienten in Todesnähe) sowie konsequente Ausschöpfung von Verzicht auf lebensverlängernde Behandlung und v.a. auf künstliche Ernährung.

Schließlich gehört dazu, die Forderung eines verbrieften Rechtes auf letzte Hilfe im Sinn von Suizidbegleitung aufzugeben. Vielmehr geht es nicht ohne Gewissensentscheidungen und ohne Selbstbestimmung auch der potentiellen Suizidhelfer/innen, diese sollten als Individuen, Einrichtungen oder Sterbehilfevereine ihre eigenen Sorgfaltskriterien entwickeln können. Eine staatlich verordnete Festlegung strenger Zulassungsvoraussetzungen (z. B. dass es erst einer psychiatrischen Begutachtung oder einer bestimmten Fristsetzung vor der Gewährung von Suizidhilfe geben muss), kann zumindest erst recht nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht von Sterbewilligen in Übereinstimmung gebracht. Wo Kipke Recht hat, hat er Recht.

 


Vgl. dazu auch:
Alles oder Nichts!? - Roland Kipke zur aktuellen Sterbehilfedebatte von Edgar Dahl
Wer A sagt, kann nichts gegen B sagen - Zur aktuellen Sterbehilfedebatte von Roland Kipke
Die Freiheit zum Tode - Ein Plädoyer für den assistierten Suizid von Edgar Dahl