Ein Plädoyer für den assistierten Suizid

Die Freiheit zum Tode

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Im Rahmen der Kampagne "Mein Ende gehört mir! Für das Recht auf Letzte Hilfe" wurde die Botschaft auch durchs Berliner Regierungsviertel gefahren.
Sterbehilfe-Cars vor dem Bundeskanzleramt

GIESSEN. (hpd) Nach einer kürzlich vom Tagesspiegel in Auftrag gegebenen Umfrage spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Bundesbürger für eine Zulassung des assistierten Suizids aus: "81 Prozent der Befragten finden, dass schwerstkranken Menschen, die sterben wollen, ein Mittel zur Verfügung gestellt werden soll, mit dem sie ihren Tod selbst herbeiführen können. 14 Prozent sind dagegen, 5 trauen sich hier kein Urteil zu."

Während sich das Volk in der Frage der Freitodhilfe weitgehend einig ist, zeigt sich die Politik vollkommen uneinig. Wie die "Orientierungsdebatte" im Bundestag vom 13. November 2014 zeigte, sind unsere Volksvertreter vor allem argumentativ orientierungslos.

Die in der fünfstündigen Debatte wohl am häufigsten zitierte Floskel lautete: "Sterbende sollen an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen sterben!" Ich sage bewusst "Floskel", weil diese Aussage natürlich blanker Nonsens ist. Bei der Selbsttötung stirbt ein Mensch schließlich per definitionem nicht "durch die Hand eines anderen", sondern "durch die eigene Hand".

Die einzige Frage, die sich in der gegenwärtigen Debatte um die Hilfe bei der Selbsttötung erhebt, lautet: Inwieweit ist der Staat überhaupt befugt, in die persönlichen Entscheidungen seiner Bürger einzugreifen? Gibt es irgendein konsensfähiges Prinzip, mit dessen Hilfe der Gesetzgeber entscheiden könnte, welche Handlungen gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollten?

Das einzige Prinzip, das mit den Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist, ist das Prinzip "In Dubio Pro Libertate" oder "Im Zweifel für die Freiheit". Dieses Prinzip ist keineswegs neu. Es geht auf die Väter des Liberalismus – auf so namhafte Philosophen wie Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill – zurück. Wie sich leicht zeigen lässt, hat es über die Jahrhunderte nichts von seinen Vorzügen verloren. Ganz im Gegenteil, eine konsequente Anwendung dieses Prinzips ist heute nicht nur wünschenswerter, sondern auch unumgänglicher als je zuvor.

Westliche Gesellschaften sind pluralistische Gesellschaften. Sie bestehen aus Menschen, die unterschiedliche Weltanschauungen und somit zumeist auch unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Dementsprechend wird es in solchen Gesellschaften stets Uneinigkeit darüber geben, was moralisch richtig und moralisch falsch ist. Wenn ein Staat seinen Bürgern eine ganz bestimmte Form der Moral aufzudrängen versuchte, wären soziale Konflikte unvermeidlich. Um derartigen Spannungen vorzubeugen, muss die Politik pluralistischer Gesellschaften auf weltanschaulicher Neutralität und größtmöglicher Liberalität beruhen: Jeder Bürger sollte das Recht haben, sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hält, solange er anderen keinen Schaden zufügt. Der Staat sollte sich in die persönlichen Belange des Einzelnen daher auch nur einmischen, um seine Bürger vor Schaden durch andere zu bewahren.

Das "Schadensprinzip" hat fünf wichtige Implikationen. Erstens, die Beweislast haben stets diejenigen zu tragen, die sich für ein strafrechtliches Verbot einer bestimmten Handlungsweise aussprechen. Es ist an ihnen zu zeigen, dass die jeweils zur Debatte stehende Handlung tatsächlich eine Schädigung anderer beinhaltet. Zweitens, die Argumente dafür, dass eine Handlungsweise anderen schadet, müssen einsichtig und überzeugend sein. Sie dürfen nicht auf vollkommen spekulativen soziologischen oder psychologischen Annahmen beruhen. Drittens, Handlungsweisen, die ausschließlich dem Handelnden selbst schaden, dürfen nicht unter Strafe gestellt werden. Der Staat soll seine Bürger nicht vor sich selbst, sondern nur vor Übergriffen durch andere schützen. Viertens, dass eine Handlungsweise anderen schadet, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, sie strafrechtlich zu verbieten. Wenn die Kriminalisierung eines Verhaltens mehr Schaden verursacht als verhindert, widerspricht sie dem Sinn des Schadensprinzips und muss aufgehoben werden. Und fünftens, die bloße Tatsache, dass eine Handlung den moralischen oder religiösen Überzeugungen anderer widerspricht, reicht für ein strafrechtliches Verbot nicht aus. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Aufgabe des Staates nicht in der Durchsetzung einer bestimmten Moral oder Religion bestehen, sondern ausschließlich in der Verhinderung einer Schädigung Dritter.

Wie eine ganz einfache Überlegung zeigt, ist das Prinzip "Im Zweifel für die Freiheit" in unser aller Interesse. Es gibt uns die Freiheit, unser Leben so zu leben, wie wir es für richtig halten, solange wir anderen keinen Schaden zufügen. Und der einzige Preis, den wir für diese Freiheit zu entrichten haben, ist der, dass wir es tolerieren müssen, dass andere ihr Leben in einer Weise leben mögen, die wir für falsch, unsittlich oder gar gottlos halten, ohne deshalb jedes Mal gleich nach der Polizei rufen zu können.

Das Prinzip "Im Zweifel für die Freiheit" bietet uns auch eine ganz klare Antwort auf die Frage nach der Hilfe bei der Selbsttötung. Da der Staat uns nicht vor uns selbst, sondern nur vor anderen schützen soll, hat er nicht das geringste Recht, sie gesetzlich zu verbieten.

Das deutsche Strafrecht sieht dies glücklicherweise genauso. Im Jahre 1871 hat es nicht nur die Strafbarkeit der Selbsttötung aufgehoben, sondern auch die "Anstiftung zur Selbsttötung" und die "Beihilfe zur Selbsttötung" für straffrei erklärt.

Mit welchem Recht, so muss man fragen, meinen manche Politiker nun das Rad der Zeit zurückdrehen zu dürfen? Mit welchem Recht meinen sie die Hilfe zur Selbsttötung wieder strafrechtlich verbieten zu dürfen? Und mit welchem Recht meinen sie Menschen, die bereit sind, Sterbehilfe zu leisten, mit einer Geld- oder gar Haftstrafe bedrohen zu dürfen?

Wenn eine volljährige und urteilsfähige Person, die ihrem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen kann, sterben will und von jemandem ein Medikament angeboten bekommt, mit dessen Hilfe sie ihrem Leben und Leiden ein Ende setzen kann, geht dies den Staat gar nichts an. Das Recht auf Leben ist ein Abwehrrecht. Der Staat ist dazu verpflichtet, das Leben seiner Bürger vor einer Tötung durch andere, nicht aber vor einer Tötung durch sich selbst zu schützen. Jeder hat daher das Recht, sein eigenes Leben zu beenden. Oder anders ausgedrückt: Das Recht auf Leben beinhaltet keine Pflicht zum Leben.

In Ermangelung eines Argumentes hieß es in der Orientierungsdebatte immer wieder: "Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die den Tod auf Bestellung anbietet?" Abgesehen davon, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelt, die lediglich den perfiden Zweck verfolgt, vollkommen unbegründete Ängste zu schüren, muss man sich auch darüber wundern, wer mit "wir" eigentlich gemeint sein soll.