3. Jahrestag des Kölner "Beschneidungsurteils"

34 Organisationen weltweit feiern "Worldwide Day of Genital Autonomy"

koeln_07-05-2015.jpg

Köln am 07. Mai 2015
Köln am 07. Mai 2015

KÖLN. (hpd) Zum dritten Jahrestag der Verkündung des sogenannten "Kölner Urteils" forderten 34 Organisationen aus zehn Ländern und fünf Kontinenten die Durchsetzung der Rechte aller Kinder unabhängig vom Geschlecht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung.

Am 07.05.2012 bewertete das Kölner Landgericht erstmals eine medizinisch nicht indizierte Vorhautamputation ("Beschneidung") eines Jungen nach zu diesem Zeitpunkt geltendem Recht als strafbare Körperverletzung. Zur Erinnerung an dieses richtungsweisende Urteil riefen heute in Köln Kinder-, Menschen- und Frauenrechtsorganisationen zum dritten "Worldwide Day of Genital Autonomy" auf. Parallel zur zentralen Kundgebung in Köln fanden Veranstaltungen in den USA, England und Kanada statt.

Die teilnehmenden Organisationen - darunter u.a. der Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V., TERRE DES FEMMES, pro familia NRW, (I)NTACT, NOCIRC (USA), PROTECT THE CHILD (Israel), INTACT DENMARK, Piratenpartei Deutschland, Bundesweiter Arbeitskreis Säkulare Grüne und intaktiv e.V. - fordern den Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition. Dazu gehöre die Rücknahme der gesetzlichen Erlaubnis für nicht-therapeutische Vorhautamputationen ("Beschneidungen") an Jungen in §1631d BGB, die in Reaktion auf das “Kölner Urteil” nach einem politischen Eilverfahren im Dezember 2012 beschlossen wurde. Die Organisationen fordern eine Entschädigung der Betroffenen für die mit dem Gesetz verlorenen Rechte.

Sie begründen dies u.a. mit der UN-Kinderrechtskonvention: Art. 2. (Schutz vor Diskriminierung), Art. 3 (Vorrang des Kindeswohls) und 24 Abs. 3 (Abschaffung schädlicher Bräuche) sei für alle Kinder weltweit zu gewährleisten.
 Zusätzlich zum erfolgten Verbot weiblicher Genitalverstümmelung in §226a StGB bräuchte es endlich einen nationalen Aktionsplan zum systematischen und koordinierten Schutz gefährdeter Mädchen. In den Redebeträgen der Kundgebungen vor dem Kölner Landgericht und auf dem Wallrafplatz sprachen VertreterInnen der Organisationen aus dem In- und Ausland zu den Auswirkungen des Kölner Urteils.

Ali Utlu vom Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. sprach die Bedeutung des Kölner Urteils für Männer an, die an den Folgen einer im Kindesalter erfolgten Vorhautamputation leiden: "Der 7. Mai markiert für mich einen Wendepunkt. Opfer wie ich haben Gehör gefunden, wurden endlich als das angesehen, was sie sind: Opfer. Wir sind Opfer von Entscheidungen, die andere über unseren Körper trafen, ohne dass wir jemals Mitspracherecht hatten. Ich werde unter dieser Entscheidung mein Leben lang leiden müssen, ich will dass dies anderen Betroffenen erspart bleibt. Ich will, dass sie ein Mitspracherecht über ihren eigenen Körper bekommen. Dafür kämpfe ich."

Die Position des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne erläuterte Ute Wellstein, Sprecherin der LAG Säkulare Grüne Rheinland-Pfalz: "Die Säkularen Grünen als Teil einer Partei der Menschen-, BürgerInnen- und Kinderrechte setzen sich ein für die Unverletzlichkeit des Körpers. Dies gilt besonders für den Genitalbereich von Mädchen und auch Jungen: keine ”Beschneidung“! In einer säkularen Demokratie dürfen niemals Grundrechte ausgehebelt werden - auch nicht aus Rücksicht auf teils jahrtausendealte Regeln von Glaubensgemeinschaften. Der Staat muss gesetzlichen Schutz für alle Kinder vor jeglicher genitalen Verstümmelung garantieren."

Für TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e.V. sagte Idah Nabateregga, Fachreferentin zu weiblicher Genitalverstümmelung: "Jedes Kind hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, deshalb unterstützen wir die Initiative gegen Jungenbeschneidung."

Der türkische Journalist und Autor Kaan Göktaş veröffentlichte 2014 in der Türkei ein Buch zu ritueller "Beschneidung" und beschrieb, dass die traditionelle Weitergabe dieser Kinderrechtsverletzung keinesfalls grundsätzlich einem freien Willen der Eltern entspringt: "Während der Arbeit an meinem Buch befragte ich viele säkulare und nicht-islamische Familien, warum selbst sie ihre Söhne beschnitten hätten. Sie berichteten von sozialen Zwängen wie der Angst vor eigener Diskriminierung oder der ihrer Söhne durch Freunde und Gesellschaft. Diese Sorge einer Stigmatisierung ist unter der momentanen Regierung eher noch gewachsen. Wir erleben ein neues Phänomen: Genital-Rassismus."

Christa Müller, 1. Vorsitzende von (I)NTACT – Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V.: "Als Verein, der seit 19 Jahren gegen die weibliche Genitalverstümmelung kämpft, lehnt (I)NTACT die männliche Beschneidung ebenfalls ab. Je nach Ausführung handelt es sich bei der männlichen Beschneidung auch um eine Genitalverstümmelung mit entsprechenden körperlichen und seelischen Folgen. Gesundheitliche Probleme bis hin zu Todesfällen sind keine Seltenheit. Sowohl Mädchen wie Jungen werden diesem Eingriff ohne ihre Zustimmung unterzogen. Damit wird ihre Integrität verletzt. Die körperliche Unversehrtheit von Kindern egal welchen Geschlechts ist ein Menschenrecht, dem sich auch Deutschland verpflichtet hat. Nun muss dieses Recht auch bei uns umgesetzt werden."

Zu der Situation in den USA nahm Shemuel Garber (intaktiv e.V.), der im Alter von elf Jahren zum Judentum konvertierte, Stellung: "Viele Teile der amerikanischen medizinischen Gemeinschaft unterstützen die männliche Genitalverstümmelung weiterhin auf einer taktischen Ebene, während sie sich gleichzeitig mit einer Fassade der Objektivität und Neutralität umgeben. Entgegen dem allgemeinen Eindruck, dass die hohe Rate an völlig wahlfrei bestellten Beschneidungen in den USA primär aus den tief verwurzelten Vorlieben der Eltern resultiert, ist die Unterstützung durch medizinische Institutionen für ein Erreichen dieser Rate von essentieller Bedeutung. Wenn eine Mutter gleich nach der Entbindung gefragt wird, ob sie ihr Kind beschneiden lassen wolle, so beinhaltet schon die Frage an sich eine nachdrückliche Empfehlung."

Renate Bernhard sprach für pro familia NRW: "Wir halten das Beschneidungsgesetz für verfehlt. Es lässt alle neueren medizinischen Erkenntnisse außer Acht. Die Beschneidung der Genitalien ist unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit des betreffenden Kindes ein schwerwiegender und irreversibler Eingriff, der Schmerzen verursacht, sensibles Gewebe zerstört und zu körperlichen und seelischen Komplikationen und Spätfolgen führen kann. Statt einer forcierten Geschlechterunterscheidung fordert pro familia NRW die Umsetzung der gesetzlich geschützten Gleichbehandlung unter Beibehaltung des Verbotes der Eingriffe an weiblichen Genitalien. Wir beraten und unterstützen bei Genitalverstümmelung und setzen uns ein für eine Aufklärung, die zukünftige Mütter und Väter für medizinische, ethische und rechtliche Fragen in Bezug auf die Beschneidung von Jungen sensibilisieren soll."

Doctors opposing Circumcision (USA) war durch den aus einer modern-orthodox-jüdischen Familie stammenden Martin Novoa vertreten: "Die angespannte Situation zwischen Religion, Staat und Öffentlichkeit in Bezug auf die Beschneidung gesunder Kinder dreht sich letztendlich um die Frage, wie sich eine Nation definiert. In der heutigen Welt mit ihren politischen anstelle von ethnischen Grenzziehungen sind gelegentliche Konflikte zwischen säkularem, staatlichem Recht und religiösem Recht unausweichlich. Viele betrachten ihre Religionsfreiheit auch als Handlungsfreiheit, und der grundrechtliche Schutz religiöser Freiheiten versagt oft dabei, zwischen diesen beiden zu unterscheiden. Letztendlich wird die Bevölkerung sich für eine der beiden Rechtsnormen entscheiden müssen."


Siehe dazu auch den Aufruf zur Veranstaltung