Internationale Demo zum Worldwide Day of Genital Autonomy in Köln

Die Forderung nach der Unteilbarkeit von Kinderrechten verbindet

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Worldwide Day of Genital Autonomy 2015, Köln
Worldwide Day of Genital Autonomy

KÖLN. (hpd) Auch der dritte Jahrestag des "Kölner Urteils", das erstmals eine nicht-therapeutische "Beschneidung" eines muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung einstufte, wurde international von vielen Kinderrechtlerinnen und Kinderrechtlern und Intaktivistinnen und Intaktivisten (engl. "Intactivist" = Aktivist/in für das Recht auf intakte Genitalien) gefeiert. Am 7. Mai fand daher auch in Köln wieder eine Demonstration mit zwei Kundgebungen statt. Die Liste der Unterstützenden Organisationen nannte in diesem Jahr 34 Vereinigungen aus der ganzen Welt: USA, Afrika, Israel, Frankreich, Kanada – um nur einige zu nennen.[1]

Traditionsgemäß begann die Veranstaltung mit der Kundgebung vor dem Landgericht. Eröffnet wurde sie mit einem Grußwort von Lloyd Schofield (Bay Area Intactivists, USA), das in seiner Abwesenheit von Martin Novoa verlesen wurde. Schofield betonte die Wichtigkeit des "Kölner Urteils" für die gesamte internationale Bewegung für genitale und sexuelle Selbstbestimmung, welche er als eine nicht zu stoppende Kraft in unserer Zeit beschrieb. Durch die Demonstrationen an diesem Tag werde vor allem möglich, endlich all jenen eine Stimme zu geben, die bisher ungehört blieben.

Guy Sinden, der das Beschneidungsforum.de zu Beginn der Debatte 2012 gegründet hatte um, wie er sagte, den unter ihrer Beschneidung leidenden Jungen und Männern eine Stimme zu geben, bedauerte, dass deren Existenz von der Politik nach wie vor geleugnet werde. Als Vertreter der französischen Intaktivisten-Organisation Droit au Corps sprach er seine Hoffnung aus, dass das Thema "Beschneidung" bald nicht mehr als ein geschlechtsspezifisches Thema betrachtet werde, sondern als Thema, das das gesamte Menschengeschlecht betrifft. Eine ethische Debatte sei nötig, keine Debatte über Eingriffstiefen und dergleichen.

Die aus den USA angereiste Intaktivistin Marilyn Milos, Gründerin und Direktorin der National Organisation of Circumcision Information Ressource Centers (NOCIRC) fand klare Worte zum "Kölner Urteil2, das, wie sie ausführte, weltweit inzwischen ein Begriff geworden sei. Die Sicht der deutschen Politik – namentlich der Kanzlerin Angela Merkel – ignoriere das Trauma und den lebenslangen Schmerz, den Beschneidung mit sich bringe. Vielleicht, weil es um männlichen Beschneidung gehe, wolle Merkel Deutschland vor dem Vorwurf des Antisemitismus bewahren. Doch jüdische und muslimische Kinder nicht zu schützen sei antisemitisch. Da die Politik fälschlicherweise Beschneidungen an Jungen erlaubt habe, sei es um so wichtiger, des “Kölner Urteils” immer wieder zu gedenken. Es habe richtig erkannt: Beschneidung verletzt, sie ist irreversibel, erkennt Kindern das Recht auf den eigenen Körper ab, und paradoxerweise negiert sie auch das Recht des Kindes, über seine eigene Religionszugehörigkeit zu entscheiden. Beschneidung von Kindern sei ein grausamer Akt, der im 21. Jahrhundert keinen Platz habe.

Für den in diesem Jahr erstmals teilnehmenden Bundesweiten Arbeitskreis Säkulare Grüne sprach Ute Wellstein, Ärztin und Sprecherin der LAG Säkulare Grüne Rheinland-Pfalz. Laut der Säkularen Grünen sei der Einfluss der Kirchenlobbys in den Parteien mit verantwortlich für den "falschen" Beschluss des Bundestages. Religiöse Regeln aus sexualfeindlichen Gesellschaften vor vielen tausend Jahren können nicht über die Menschenrechte gestellt werden. Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, der auch Deutschland zugestimmt hat, müsse durch den Staat gewährleistet werden. Im Falle von Genitalbeschneidung müsse das Selbstbestimmungsrecht des Kindes über der Religionsfreiheit der Eltern stehe. Schließlich handle es sich bei der Entfernung von 50% der sensiblen Fläche der Vorhaut eindeutig um einen irreversiblen und schädigenden Eingriff.

Als Vertreter des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. sprach Ali Utlu, der seine eigene Beschneidung im Kindesalter als eine Brandmarkung bezeichnete, die ihn, gegen seinen Willen, immer an eine von ihm selbst nicht gewünschte Religionszugehörigkeit erinnern solle. In einem Staat, in dem Hunde nicht kupiert werden dürfen, Beschneidung von Kindern aber erlaubt sei, fühle er sich als Junge von Geburt an benachteiligt.

Viola Schäfer, Vorstandsvorsitzende von intaktiv e.V. beschrieb das "Kölner Urteil" als den ersten Schritt, für die bereits bestehende internationale Bewegung, Kinder weltweit zu schützen, auch in Deutschland Fuß zu fassen. Es sei erklärtes Ziel des 2013 gegründeten Vereins intaktiv e.V., dass das Recht auf den eigenen Körper für jeden Menschen, gleich welchen Geschlechts, gewährleistet werde. Auch im Gesetz müsse dieses Recht letzten Endes verankert sein.

Nach dieser Rede begann der Marsch zum Wallrafplatz. Die DemonstrantInnen, unter denen sich gleichermaßen Mitglieder der unterstützenden Organisationen, Zugehörige verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften fanden, trugen neben aussagekräftigen Motto-Schildern wie z.B. "Schnitt im Schritt ist Shit" oder "Alle Eltern lieben ihre Kinder. Beschneidung schadet trotzdem", Flaggen ihrer jeweiligen Herkunftsländer – die so entstandene farbliche Vielfalt war ein echter Blickfang je mehr im Laufe des Vormittags die Sonne herauskam.

Auf dem Wallrafplatz eröffnete Christian Bahls, Vorstandsvorsitzender von MOGiS e.V. - "Eine Stimme für Betroffene" die Abschlusskundgebung. Als einen wichtigen Schlüssel auf dem Weg zum Recht auf genitale Selbstbestimmung aller Kinder nannte er die Feministinnen und Kämpferinnen gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Gerade in feministischer Literatur werde beschrieben und erforscht, wie Objektifizierung oder Marginalisierung von Themen in der Gesellschaft funktionierten und wie derartige Muster zu erkennen und zu durchbrechen seien.

Mit Irmingard Schewe-Gerigk von TERRES DES FEMMES sprach danach eine bekannte Feministin und Vorreiterin im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Sie verwehrte sich gegen den Vorwurf, weibliche Genitalverstümmelung von Mädchen mit Beschneidung von Jungen gleichzusetzen. Da etwa die Entfernung der Klitorisvorhaut, die in Indonesien jährlich etwa 2 Mio. Mädchen beträfe, in Deutschland nun endlich zurecht verboten sei, müsse dies bei der Vorhaut-Amputation an Jungen nun auch geschehen. Sie kritisierte darüber hinaus, dass im 2012 verabschiedeten Gesetz noch nicht einmal eine religiöse Motivation der Eltern für die Einwilligung in die Beschneidung des Sohnes verlangt werde. Sie sei nun auch als Bestrafung für bzw. vorbeugende Maßnahme gegen Masturbation möglich. Dem Vorwurf von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit setzte sie zudem entgegen, dass es die Aufgabe der Gesellschaft sei, die kritischen Stimmen innerhalb der betreffenden Religionsgemeinschaften zu unterstützen.

Der jüdische US-Amerikaner Shemuel Garber begann seine Rede mit einem persönlichen Blick auf seine eigene Geschichte, mit der er den Brauch der Routine-Beschneidung von männlichen Säuglingen in den USA kritisierte. Noch immer werde in Amerika seitens ärztlicher Vereinigungen die falsche Behauptung aufrechterhalten, Beschneidung habe gesundheitliche Vorteile. Besonders in einem Land wie den USA, wo ein Großteil der Bevölkerung nur den beschnittenen Penis kenne, sei Aufklärung über die Vorhaut und deren (sexuelle) Funktion besonders wichtig. Daraus resultierte seine Forderung an Ärzte und Krankenhäuser, nicht-therapeutische Beschneidungen zu unterlassen. Zuletzt richtete er das Wort an jüdische und muslimische Religionsführer und bat um Respekt vor ihren Gemeinde-Mitgliedern und deren eigenen Entscheidungen und darum, die Debatte nicht weiter durch die Gleichsetzung von Beschneidungskritik mit Volksverhetzung zu unterdrücken.

Mina Ahadi, die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, nahm in ihrer Rede Stellung zur Jungenbeschneidung in den sog. "Islamischen Ländern", in denen neben der Mädchenbeschneidung über 90 Prozent der Jungenbeschneidungen weltweit durchgeführt werden. Die Verharmlosung dieser enormen Kinderrechtsverletzung ginge soweit, dass sogar Eltern, die aus Sorge um die Gesundheit der Kinder den Brauch kritisch zu hinterfragen begännen, die Beschneidung durch Ärzte als sinnvoll und gut empfohlen bekämen. Über das "Kölner Urteil" wurde auch in den Islamischen Ländern viel berichtet. Gerade auch in Richtung dieser Länder sei es wichtig, dass die Menschen in den westlichen Ländern gegen diese Kinderrechtsverletzung auf die Straße gingen. Der Zentralrat der Ex-Muslime habe inzwischen mit Veranstaltungen zum Thema eine Anlaufstelle geschaffen, die vor allem auch betroffenen Männern die Möglichkeit eröffnet habe, das Tabu-behaftete Thema zur Sprache zu bringen. Dem Deutschen Bundestag warf sie vor, mit reaktionären Kräften zusammengearbeitet zu haben, um das Beschneidungsgesetz zu schaffen.

Der aus der Türkei angereiste Journalist und Buchautor ("Oldu da Bitte Masallah", erschienen Anfang dieses Jahres), Kaan Göktas, nannte die Pflicht zur Beschneidung im Islam eine "große historische Lüge2, für die es keine Rechtfertigung im Koran gäbe. Im Zuge der Recherche für sein Buch stellte sich heraus, dass viele nicht-islamische und säkulare Eltern ihre Söhne auf Grund von sozialem Druck und der Angst vor der heutigen neo-islamischen Regierung beschnitten, jedoch nicht aus religiösen Gründen.

Für pro familia NRW sprach die freie Journalistin Renate Bernhard, die sich seit 1989 mit Themen wie der weiblichen Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Ehrverbrechen beschäftigt, also Themen der sexuellen Selbstbestimmung. Pro famila NRW spricht sich inzwischen dafür aus, Vorhaut-Amputationen an Kindern nur zu erlauben, wenn sie medizinisch unbedingt notwendig sind. Leider werde auch aus angeblich medizinischen Gründen viel zu oft unnötig beschnitten – das Beschneidungsgesetz ignoriere neben Menschenrechten daher leider auch den medizinischen Forschungsstand.

Der seit 39 Jahren als US-Intactivist tätige Martin Novoa betrachtete das Thema der Beschneidung aus seiner Perspektive als Jude, als Jurist und als homosexuell lebender Mann. Er warf einen Blick auf die historische Entwicklung von religiösen Gesetzen hin zu weltlichen und stellte heraus, dass die einen im Laufe der Geschichte durch die anderen abgelöst wurden. Daher können die Vorschriften von Religionsgemeinschaften in der heutigen Gesellschaft nicht über das Grundgesetz oder die Verfassung gestellt werden. Eine Parallele sah er auch zur Haltung der Gesellschaft gegenüber Homosexualität. Auch hier werde versucht, dem Individuum eine bestimmte Lebensweise vorzuschreiben und Selbstbestimmung, gerade auch im genitalen und sexuellen Bereich, zu verweigern. Besonders für Deutschland, das er als seine zweite Heimat bezeichnete, wünschte er sich, dass kein Einfallstor geschaffen werde, religiöse Vorschriften über säkular-rechtliche zu stellen, indem in der Beschneidungsfrage damit begonnen werde. Vielmehr solle Deutschland anderen Ländern ein Vorbild in dieser Debatte sein. Zuletzt sei es nicht hinzunehmen, dass er als Kind jüdischer Herkunft weniger Recht auf einen vollständigen Körper habe als andere.

Eine weitere Facette zum Thema genitale Selbstbestimmung brachte Markus Bauer von Zwischengeschlecht.org. Er erinnerte an das Gerichtsurteil aus dem Jahr 2007, ebenfalls in Köln, bei dem zum ersten Mal eine Intersex-Person das Recht auf Schadensersatz zugesprochen bekam. Christiane Völling verklagte damals ihren Chirurgen und bekam recht. Inzwischen laufen zwei weitere Prozesse in Deutschland und einer in den USA.

Zuletzt sprach Lena Nyhus, Vorsitzende der dänischen Organisationen Intact Denmark. Sie sprach ihre Freude darüber aus, dass der 7. Mai in Köln zeige, wie sich Menschen auf internationaler Ebene weltweit für genitale Selbstbestimmung von Kindern einsetzten. Da alle Eltern für ihre Kinder nur das Beste wollten, sollte es in der Zukunft auch Realität werden, dass jeder Mensch, ob weiblich, männlich oder intersexuell geboren, dasselbe Recht bekäme, über den eigenen Körper selbst entscheiden zu dürfen.

Auch wenn die eher geringe Zahl der Teilnehmenden (geschätzt etwa 60 Personen) zu einem Teil sicherlich dem Bahnstreik anzulasten ist, wäre es diesem engagierten Projekt des Worldwide Day of Genital Autonomy (WWDOGA) zu wünschen, dass sich in den folgenden Jahren noch mehr Menschen anschließen. Im nächsten Jahr wird der 7. Mai auf einen Samstag fallen – vielleicht finden dann noch mehr Bürgerinnen und Bürger den Weg auf die Straße, um für das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und für die Genitale Autonomie aller Kinder, einzustehen.

Das Besondere und Einzigartige dieser Veranstaltung war sicherlich die enorme Vielfalt was Herkunft, Sprache, Hautfarbe, sexuelle Identität und kulturellen Hintergrund der Beteiligten betrifft. Selten sieht man es, dass Menschen, die sich im Alltag in dieser Zusammensetzung wohl nicht einmal begegnen würden, zusammenschließen und gemeinsam an einer Sache arbeiten. Und dass es ausgerechnet die Forderung nach der Unteilbarkeit von Kinderrechten ist, die sie immer wieder zusammen bringt und eine Gemeinschaft aus ihnen macht, ist vermutlich der schönste Grund, den man sich für eine solche Begegnung vorstellen kann.


[1] Die vollständige Liste ist hier einsehbar: http://genitale-selbstbestimmung.de/.