Vom Anfang und Ende aller Dinge

HAMBURG. (hpd) Nach Vorstellung des Hamburger Diplom-Lebensmittelchemikers Burger Voß sollte sein Buch eigentlich "Die Poesie des nüchternen Blicks" heißen, doch der Verlag entschied anders. Tatsächlich liegt etwas Poetisches in der ungestelzten lakonischen, aber auch humorvollen Sprache des Autors.

Viele seiner würzigen Beispiele, Bilder und Begriffe entlehnt er dem Angelsächsischen, wo man sich mit wissenschaftlichen Fachausdrücken nicht so schwer tut wie im Deutschen. "Ich werde mich bemühen", schreibt Voß in seiner Einleitung, "die Dinge allgemeinverständlich darzustellen, denn ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch grundsätzlich alles verstehen kann und die Schuld beim Erklärenden liegt, wenn das nicht gelingt".

Der Autor erklärt die schwierigsten Sachverhalte mit Worten, die im Großen und Ganzen auch mit dem einfachen Abiturwissen noch verstanden werden. Mit Augenzwinkern und viel Witz nimmt er den Leser bei der Hand und entführt ihn zu einer Entdeckungsreise durch die Geschichte der Wissenschaften. Über die Welt des sinnlich Erfahrbaren hinaus in die Weiten des Kosmos, in die Winzwelt der Elemente und Moleküle und auf die Spuren des irdischen Lebens, wie es sich nach heutigem Wissen in Jahrmilliarden der Evolution entwickelt hat. Ohne Übersetzung und Erläuterungen sind diese Gefilde gewöhnlich nur Wissenschaftlern, den Astrophysikern, Chemikern, Evolutionsbiologen, Archäologen oder Paläontologen mit ihren Forschungsmethoden zugänglich. Doch dem Autor gelingt es uns diese Welt fast durchgängig im launigen Plauderton näher zu bringen. "Wenn Sie am Ende das Buch zuklappen und ein Gespür für das wissenschaftliche Denken entwickelt haben", wünscht sich Voß, "dann habe ich mein Ziel erreicht."

Gleich zu Beginn warnt der Autor seine Leser, sich nicht täuschen zu lassen vom "Weltgefühl", das sich nach dem lediglich sinnlich Wahrgenommenen einstelle. Für diese Welt, fand Voß heraus, hat der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce 1905 einmal den selten gebrauchten Begriff "Phaneron" geprägt. Anhand interessanter und einfach nachvollziehbarer Beispiele aus dem Alltag macht uns der Autor begreiflich, wie leicht wir uns durch unsere Gefühle etwa über Zeit, Gleichzeitigkeit und Licht verwirren lassen, was im Übrigen auch für viele "Erkenntnisse" der Philosophie gelte. "Unser einziger Weg aus dieser Selbsttäuschung ist die Wissenschaft", weiß der Autor und führt uns mit Hilfe zahlreicher griffig zitierter Forschungsergebnisse auf den Pfad der Wirklichkeit.

Im Kapitel "Der Stoff, aus dem das Leben ist" ist Voß, der Chemiker, ganz in seinem Element. Hier haben wir die Chance zu verstehen, was uns vielleicht in der Schule nie gelang: Warum alles Leben auf Erden an Wasser gebunden ist. Dass vor allem dessen Siedepunkt, lernen wir, seine spezifische Wärmekapazität und die Oberflächenspannung es sind, die gerade das Wasser zu dem Stoff haben werden lassen, ohne den sich auch unser menschliches Leben nicht hätte entwickeln können. Wir tauchen ein in die für das Lebendige unabdingbare Welt der Kohlenstoffchemie und finden das spannend, weil der Autor es uns auf verständliche Weise und immer wieder äußerst anschaulich unterbreitet.

Wir verfolgen die Entstehung erster mehrzelliger Lebewesen aus Vorformen wie Archaeen und Bakterien und arbeiten uns fast leichtfüßig hoch bis zur menschlichen DNA, von der wir mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass der genetische Code mit einem Informationsvorrat von nur 800 Megabyte auskommt, so viel, wie knapp auf eine CD passt. Oder, dass wir etwa ein bis zwei Kilogramm Bakterien "in unserem Gedärm" haben und diese dort "einen sehr guten Job" machen. Überhaupt, bei den winzigen, für das bloße Auge unsichtbaren Organismen und deren Mutationen verweilt der Autor recht ausgiebig und lässt doch über viele Seiten keine Langeweile aufkommen. Dabei kommen auch drastische Beispiele des schädlichen bakteriellen Wirkens, von der Pest des Mittelalters über die Malaria-Erreger bis hin zur EHEC-Epidemie von 2011, nicht zu kurz.

Geradezu ergreifend schildert Voß, wie der deutsch-ungarische Arzt Ignaz Semmelweis im 19. Jahrhundert vergeblich versuchte seine Kollegen von der Notwendigkeit der Hygiene in den Entbindungsstationen zu überzeugen. Das Kindbettfieber raffte damals Mütter und Kinder zu Tausenden dahin. Nur in Semmelweis’ Stationen überleben die meisten, einfach, weil sich Ärzte und Schwestern die Hände mit Chlorkalk wuschen. Doch Semmelweis endete, wie der Autor berichtet, äußerst tragisch: Man sperrte ihn ins Irrenhaus, wo er mit 47 Jahren elend an einer Blutvergiftung starb.