ASCHAFFENBURG. (hpd) Die Aufklärung hat nicht dazu geführt, dass Irrationalismus aus der Welt verschwunden ist. Doch in welchem Zusammenhang stehen dessen aktuelle Formen mit den Bemühungen Licht ins Dunkel zu bringen? War die Aufklärung noch nicht erfolgreich oder hat sie den neuen Dunkelmännern selbst die Tür geöffnet?
Mit diesen Fragen befassen sich die Beiträge eines soeben erschienenen Sammelbandes, der irrationale Ideologien aus kritisch theoretischer Perspektive untersucht. Mit dem Herausgeber Merlin Wolf sprach hpd über zeitgenössische Irrationalismen, die Kritik der politischen Ökonomie und das Versagen der Aufklärung.
hpd: Der Untertitel des Buches benennt Religion, Esoterik, Verschwörungstheorien und Antisemitismus als Themen - was verbindet diese doch recht unterschiedlichen Erscheinungen denn, dass sie zusammen behandelt werden können?
Merlin Wolf: Alle vier Denkstrukturen versuchen das alltägliche Elend dieser Welt zu verstehen und glauben an Verbindungen, die nur von Initiierten wahrgenommen werden. Es sind mythische Formen des gesellschaftlichen Spiels "Ich sehe was, das du nicht siehst". Es handelt sich um Ideologien, also vorgestellte oder eingebildete Begriffe oder Lehren, die ein Bewusstsein der gesellschaftlichen Vorgänge verhindern. Autoritäre Elemente aufzuzeigen, die diese Themen miteinander verbinden, genau darum geht es in dem Buch.
Die Aufsätze wählen einen kritisch-theoretischen Zugang zu ihrem jeweiligen Gegenstand – was unterscheidet den Band von einer “klassischen” aufklärungsorientierten Esoterikkritik?
Nicht alle Aufsätze haben einen ausschließlich kritisch-theoretischen Zugang, aber ohne diesen wäre Ideologiekritik blind. Dementsprechend geht es in dem Buch nicht darum, esoterische Erklärungsansätze zu widerlegen oder gar Schmähreden gegenüber Religionen zu halten, sondern viel mehr soll das gesellschaftliche Bedürfnis, das dahinter steht, analysiert werden. Außerdem wird auch auf das Scheitern der Aufklärung eingegangen.
Nun war es ja der Anspruch der Aufklärung Licht in die Sache zu bringen und nicht nur andere Türen für neue Dunkelmänner zu öffnen – was ging da schief?
Mythos und Aufklärung sind stets ineinander verstrickt gewesen. Der Fortschritt, auch der geistige, ist vor allem ein technischer. Max Horkheimer spricht von der instrumentellen Vernunft. Um es deutlich zu machen: Der Mensch, der das erste Opfer den Geistern oder Göttern darbrachte, hatte das rationale Interesse, diese zu besänftigen oder sie zu beeinflussen. Der heutige islamistische Selbstmordattentäter wählt seine Waffen nach rationalen Kriterien wie Verfügbarkeit und Schwere des verursachten Leids.
Ähnlich ließe sich auch fragen, warum nach der von der Aufklärung durchgesetzten Judenemanzipation ein Antisemitismus entsteht, der den alten Antijudaismus sogar in den Schatten stellt. Passiert das trotz der Aufklärung und hat die Aufklärung auch hier eine Schattenseite?
Auschwitz lässt sich nicht mit dem mittelalterlichen Bild des christlichen religiös motivierten Antijudaismus erklären. Der Antisemitismus ist eine Antwort auf Vorgänge, Fragen und Probleme der Moderne, wenn auch die Auswahl der Opfergruppe nicht ahistorisch erklärt werden kann. Die Nazis exportierten ihren Antisemitismus schließlich rund um die Welt. Dementsprechend gibt es kaum einen größeren Quatsch, als Fundamentalismus und Antisemitismus in islamischen Ländern mit einem dort noch fehlenden Zeitalter der Aufklärung zu erklären. Die Gräueltaten des Islamischen Staates sind nicht Vorläufer sondern Produkt eben dieser Aufklärung.
Ihr eigener Beitrag wendet sich Verschwörungstheorien zu und schlägt als Bezeichnung "Verschwörungsglaube" vor – warum?
Selbstverständlich geschehen Verschwörungen tatsächlich, aber in der Regel sind die Verschwörungstheorien, die wir meinen, überhaupt keine Theorien. Ein interessantes Phänomen ist doch, dass einzelne Menschen in Studien angaben, es sowohl für wahrscheinlich zu halten, dass die Attentäter in den Flugzeugen von 9/11 im Auftrag des CIA handelten, als auch dass die Flugzeuge leer waren, als auch dass es gar keine Flugzeuge gab.
Ist Verschwörungsglaube ein Problem der politischen Diskurse oder sehen Sie einen nennenswerten Einfluss auf politische Bewegungen oder Entscheidungen?
Meine Motivation diesen Beitrag zu schreiben war, dass wir 2014 mit einem neuen Phänomen konfrontiert wurden: Zu sogenannten Montagsmahnwachen für den Frieden versammelten sich in bis zu 80 Städten – in Berlin kamen sogar Tausende zusammen – Menschen, die von einem verschwörungsgläubigen Kitt zusammengehalten wurden und schließlich in einem Schulterschluss mit der bisherigen Friedensbewegung zusammenarbeiteten. Ich halte die Auswirkungen für fatal. Aber verschwörungsgläubige Elemente finden sich in vielen politischen Bewegungen oder Entscheidungen. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Leugnung des Holocausts – also das Verbreiten eines bestimmten Verschwörungsglaubens – in Deutschland verboten ist.
Welche Bausteine gehören unabdingbar zu einer sich selbst reflektierenden Aufklärung über Irrationalismus?
Bausteine? Schwierig! Vielleicht kann man festhalten, dass die Welt von Menschen eingerichtet ist und von diesen verändert werden kann und zwar durch politisches Handeln. In Zeiten, in denen Herrschaft nicht vom konkreten Monarchen ausgeht, sondern von abstrakten Mechanismen, halte ich es für verfehlt, auf psychologische und psychoanalytische Erklärungsansätze oder auf eine Kritik der politischen Ökonomie zu verzichten.
Wäre, sich an diese Empfehlungen zu halten, eine Garantie für mehr Erfolg?
Garantien, die einem das kritische Denken abnehmen, kann es nicht geben. Die Auseinandersetzung mit diesen irrationalen Erscheinungsformen darf die Kritik an den politisch-ökonomischen Verhältnissen, die jene hervorbringen, nicht ersetzen. Hier lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem, was Marx als Fetisch bezeichnet.
Die Fragen stellte Martin Bauer.
Merlin Wolf (Hrsg.): Zur Kritik der irrationalen Weltanschauungen. Religion – Esoterik – Verschwörungstheorie – Antisemitismus. Aschaffenburg 2015, Alibri. 202 Seiten, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978–3–86569–187–3
Das Buch ist auch bei unserem Partner denkladen.de erhältlich.
2 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Auschwitz lässt sich nicht mit dem mittelalterlichen Bild des christlichen religiös motivierten Antijudaismus erklären.
Mit dieser Aussage kann ich wenig bis nichts anfangen, ich finde sie in Teilen sogar unhistorisch. Warum? Gerade der rassistische, theologisch begründete Antijudaismus Luthers zeigt die hässlichen Züge eines pauschal den jüdischen Menschen verachtenden Antisemitismus.
Die Forderungen Luthers an die damalige Obrigkeit entsprechen präzise den Untaten, die das NS-Regime im Holocaust vollzog. Das einzige, was er noch nicht vorhersehen konnte, war die Errichtung von Gaskammern. Aber Enteignung, Zwangsarbeit, Ermordung (wenn sie weiter ihren jüdischen Irrglauben lehrten), Bücherentzug (vergleichbar den Bücherverbrennungen), Vertreibung, Ächtung und Markierung waren Luthers Wünsche im Umgang mit dem "durchbösten, durchgifteten Volk" der Juden.
Es ging nie nur um einen theologischen Dissens, welche Religion nun die bessere oder bibeltreuere sei, sondern Luther übertrug seine Ablehnung des Judentums auf alle seine jüdischen Mitbürger, ohne Ansehen der Person.
Dies geht für mich weit über Antijudaismus hinaus (auch wenn dies das vordergründige Motiv ist), sondern ist bereits Antisemitismus - in diesem Fall religiös begründeter Rassismus.
Diese gesamte Fremdenfeindlichkeit steht ja auch auf dem Fundament des deuteronomistischen Gottesgebot der Vernichtungsweihe, die quasi gebietet, alles Fremde oder Andersgläubige aus der Mitte der Gesellschaft auszurotten.
Natürlich wurden früher eher religiöse Motive vorgeschoben, während im 20. Jh. eher politisch/wirtschaftliche Gründe angeführt wurden. Schließlich ging und geht es bei derartigen Ausgrenzungen, Ausbeutungen oder Vernichtungen primär um monetäre Motive. Die eigene Gruppe muss finanziell gestärkt werden, um ein Bollwerk gegen Angriffe von außen zu werden.
Aber der Antisemitismus des Dritten Reichs steht glasklar auf dem Boden des christlichen Antisemitismus, der beginnend bei Paulus und Augustinus unter anderen von Luther zementiert und sogar verstärkt wurde. Aussagen Julius Streichers und die Luther-Verehrung im NS-Staat sprechen hier eine deutliche Sprache.
malte am Permanenter Link
Der Antisemitismus ist ein verkürzter Antikapitalismus: Der Antisemit kann sich den Kapitalismus als abstraktes System nicht vorstellen und sucht daher Schuldige hinter dem ganzen, dunkle Hintermänner, die die Fäden z
Ähnliches gilt auch für den Antisemitismus in der "Muslimischen Welt". Es gab dort immer schon Ressentiments gegen Juden, insofern konnte der Antisemitismus dort auf fruchtbaren Boden fallen. Juden wurden dort früher zwar verachtet, aber eben auch als "schwach" angesehen. Der heute dort grassierende Antisemitismus, der die Juden als geheime Herrscher der Welt und als gefährlich betrachtet, ist ein Import aus dem "Westen", der erst in der Moderne dort auftauchte. Die Hamas zitiert z.B. in ihrer Charta keineswegs nur den Koran und die Hadithe, sondern auch ausführlich die "Protokolle der Weisen von Zion".