Im "dritten Leben" schließt sich der Kreis

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Inge Rapoport (geb. Syllm) 1938
Inge Rapoport (geb. Syllm) 1938

BERLIN. (hpd) 77 Jahre nach ihrer Dissertationsarbeit kann Inge Rapoport diese nun endlich auch verteidigen und den längst überfälligen Doktortitel bekommen. Sie ist mit 102 Jahre die älteste Promovendin und bekam damit eine sehr späte Ehrung. Zusammen mit den Filmemachern Sissi Hüetlin und Britta Wauer feiert sie im Filmtheater Babylon diesen Erfolg.

Ingeborg Rapoport, wurde 1912 als Tochter eines Kaufmanns und einer jüdischen Musikerin in der damals deutschen Kolonie Kamerun geboren. Kurz darauf zog die Familie nach Deutschland und Ingeborg wuchs in Hamburg auf. Sie besuchte dort das Gymnasium und studierte Medizin. Mit dem Staatsexamen beendete sie dies 1937 und arbeitete bis 1938 am Israelischen Krankenhaus in Hamburg. Während dieser Zeit begann sie ihre Doktorarbeit über Lähmungserscheinungen als Folge von Diphterie zu schreiben. Obwohl sie eine hervorragende Arbeit ablieferte, wurde sie zur mündlichen Prüfung und damit zur Promotion durch die nationalsozialistische Hochschulbehörde nicht zugelassen. Ihre Mutter Maria Syllm war Jüdin und somit konnte ihr Mentor Rudolf Degkwitz ihre Arbeit nicht annehmen.

1938, kurz vor der Progromnacht, emigrierte sie in die USA. Sie hatte es aber auch dort schwer, als Ärztin ohne einen akademischen Grad zu arbeiten. So musste sie erneut studieren um dann in Philadelphia den medical doctor zu erlangen. In den folgenden Jahren arbeitete sie als Kinderärztin. 1946 heiratete sie ihren Mann Samuel Mitja Rapoport, den sie zwei Jahre zuvor durch ihre Arbeit kennengelernt hatte. Da sich das Ehepaar auch politisch betätigte mussten sie in den USA mit politischen Verfolgungen der McCarthy- Regierung rechnen. Sie flüchteten über Österreich 1952 weiter in die DDR. Ingeborg war in den folgenden Jahren als Oberärztin am Hufeland-Krankenhaus in Berlin-Buch tätig. 1953 wurde sie als Fachärztin für Kinderheilkunde anerkannt und arbeitete danach am Institut für Biochemie der Humboldt-Universität Berlin auf dem Fachgebiet der experimentellen Forschung. Ab 1959 arbeitete sie an der Kinderklinik der Charité und ab 1960 unterrichtete sie dort auch. 1964 erhielt sie eine Professur mit Lehrauftrag und war ab 1968 ordentliche Professorin für Pädiatrie. 1969 hatte sie den ersten Lehrstuhl für Neonatologie in Europa inne. Sie baute in den folgenden Jahren die Abteilung für Neugeborenen-Heilkunde an der Charité auf. Durch ihre Arbeit konnte die Säuglingssterblichkeit in der DDR deutlich gesenkt werden. 1984 erhielt sie den Nationalpreis der DDR. 1997 erschienen ihre Memoiren "Meine ersten drei Leben", die einige Jahre später verfilmt wurden. Sie beschreibt die drei wichtigsten Lebensstationen in drei unterschiedlichen politischen Systemen und wie sie und ihr Mann darin ihren persönlichen und wissenschaftlichen Weg fanden. Die Jahre in der Weimarer Republik und der Beginn des Faschismus, die Flucht in die USA, das Kennenlernen ihres Mannes am Krankenhaus in Cincinnati. Und obwohl Präsident Truman dem Biochemiker Samuel Rapoport 1948 das "Certificate of Merit" (die höchste Auszeichnung für Zivilisten) für seine erfolgreichen und einzigartigen Forschungsergebnisse zur Konservierung von Blut verliehen hatte, setzte kurz danach der psychische Terror durch das McCarthy-Regime ein. Aus Furcht vor weiteren Repressalien flüchteten sie nach Wien und beendeten damit das zweite Leben. Das Dritte begann 1952 mit der Übersiedlung in die DDR. Fast vierzig Jahre lang konnten sie ihre medizinischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten in dem "anderen" Deutschland erfolgreich fortsetzen.

Am vergangenen Mittwoch, 77 Jahre nach der Abgabe ihrer Doktorarbeit hatte Ingeborg Rapoport endlich die Gelegenheit, die mündliche Prüfung abzulegen und ihre Arbeit zu verteidigen. Aufmerksam geworden durch ihre Memoiren hatte die Uniklinik Hamburg vor zwei Jahren Verbindung zu der hochbetagten Wissenschaftlerin aufgenommen und die Möglichkeit der nachträglichen Promotion geprüft. Die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf leistete damit einen kleinen Beitrag zur Wiedergutmachung für begangenes Unrecht - eine Geste. Ingeborg Rapoport nahm diese Herausforderung gern an, nicht, um noch einen Titel verbuchen zu können, sondern sie tat es im Namen der Vielen, denen es in der Nazi-Zeit viel schlimmer ergangen ist. Nachdem die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen, wurden tausende jüdische Bürger entrechtet und aus Universitäten, öffentlichen Einrichtungen und damit vielen Berufen vertrieben. Viele wurden deportiert und getötet. In einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte sie: "Es ging hier ums Prinzip, nicht um mich. Ich habe die Arbeit ja nicht um meiner selbst willen verteidigt; die ganze Situation war für mich auch gar nicht so einfach mit 102 Jahren. Ich habe es für die Opfer gemacht. Die Universität wollte damit geschehenes Unrecht wiedergutmachen und hat große Geduld bewiesen, für die ich dankbar bin."

Die Wissenschaftlerin, die inzwischen kaum noch sehen kann, hat sich mit Hilfe ihrer zahlreichen Freunde und Verwandten auf die mündliche Prüfung gut vorbereitet. Die Professoren der Medizinischen Fakultät waren begeistert von der Brillanz und Klarheit, wie sie die Arbeit aus heutiger Sicht betrachtet. Natürlich ist die Forschung in den fast 80 Jahren zu vielen neuen und anderen Erkenntnissen gekommen. Ingeborg Rapoport ist aber immer noch auf dem Laufenden und überraschte die Professoren mit neuen Lösungsansätzen und Erkenntnissen.

Ingeborg Rapoport lebt in Berlin-Pankow. Am Mittwoch hatte sie Ihre Doktorarbeit mit Bravour verteidigt und die Juroren mit ihrer freien Rede und der kritischen Sichtweise auf ihre Arbeit überzeugen können und dafür das Prädikat magna cum laude erhalten.

Aus Anlass der Überreichung der Promotionsurkunde wurde sie eingeladen und der 2004 produzierte Film zu ihren Memoiren "Unsere drei Leben" im Filmtheater Babylon in Berlin gezeigt. Der Film zeichnet den Lebensweg des Ehepaars Rapoport durch die verschiedenen politischen Systeme nach. Wie sich die beiden Wissenschaftler durch Beharrlichkeit immer wieder erfolgreich ihren Weg bahnen. Sie ließen sich durch Unrecht, Verfolgung und Haftstrafen nicht entmutigen, ihre Arbeiten unbeirrt bis zum Ziel zu verfolgen.

2005 wurde der Film mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es: "... Liebevoll und zurückhaltend lässt er die ekstatische Mitgift des Lebens und der Umstände spüren – die Gefühle und Stimmungen, die Zufälle und Gelegenheiten, die verpassten und unverpassten. Virtuos verwebt er das historische Material mit der Gegenwart, die Urteile der Zeitzeugen und Kinder mit dem Selbstbildnis der Rapoports. Unaufdringlich und sensibel setzt er den Charme seiner Protagonisten frei, gibt nicht nur das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar..."