Das Christentum als Religion des Leidens

Schmerz und Religion

Lange davor - ab dem 4. Jh. n.u.Z., als das Christentum konstituiert wurde - trugen kirchliche Büßer dieses Cilicium. Es erzeugt permanent Reize, die als dem Schmerz verwandt wahrgenommen werden. Irgendwie passen Religion und sich wohlfühlen nicht gut zusammen, Religion und sich unwohlfühlen dafür umso besser. Selbstkasteiung aus religiösen Gründen ist hierbei die nächste wichtige Sprosse auf der Leiter zur Qual im Namen des Glaubens. Eines deren Ziele ist die Beschränkung der Triebhaftigkeit. Diese "Abtötung des Fleisches" dient dem Gläubigen innerlich frei zu werden für Höheres. Das kann geschehen durch Entzug von Nahrung oder Schlaf beim nächtlichen Gebet, aber auch durch dogmatisierte Sexualmoral - vom Verbot der Masturbation, über das Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs und damit verbundener Verherrlichung der Jungfräulichkeit, bis zum Verbot der Wiederverheiratung oder homosexueller Partnerschaften. Dies alles dient der Erprobung der Leidensfähigkeit - schließlich ist der Weg ins Himmelreich steinig und hart.

Eine härtere Gangart ist die Selbstgeißlung. Die erste Notiz darüber im Christentum erwähnt den hl. Padulf, der 737 starb. Es ging den Gläubigen bei diesen Kasteiungen um "eine Transformation des Selbst, um eine Pädagogik der Existenz". Im gleichen Geist wie die schwarze Pädagogik, mit der Eltern seit alters her glaubten ihre Kinder durch Gewalt und Schläge erziehen zu können. Während das Ideal der altgriechischen Philosophie der Stoa die Leidenschaftslosigkeit war, verwandelte sich Disziplin bei frühen Mönchen in ein fatales Konzept zur Bekämpfung böser Leidenschaften: Sie meinten damit nicht nur Sexualität, der sie wegen deren Sinnenfreudigkeit etwas Teuflisches unterstellten, sondern dezidiert selbstzugefügte Schmerzen.

1260 begann im italienischen Perugia eine spirituelle Massenbewegung von Flagellanten oder Geißlern. Sie beriefen sich zunächst auf einen Engel, der verkündet habe, dass die Stadt vernichtet werde, wenn die Bewohner nicht Buße täten. Dadurch wurde aus der privaten Bußübung eine öffentliche Inszenierung. Durch Prozessionen von Ort zu Ort breitete sich die Bewegung in Italien aus. Mit erweiterter Losung selbstverständlich: Der Grund sei nun die Rettung der ganzen Welt vor dem Zorn Gottes. In der Folge erreichte sie Deutschland. Christoph Lehmann, ein Stadtchronist Speyers, überliefert eindrucksvoll, dass Gott ein Sadist ist, der seit dem Sündenfall seine perverse Freude daran zu haben scheint, anderen beim Leiden zuzuschauen. Den Text aus dem Jahr 1349 belasse ich in altem Frühneuhochdeutsch: "Die Geißler haben fürgeben und auch zum Augenschein fürgelegt einen Brieff, den ein Engel vom Himmel zu Jerusalem in St. Peters Kirchen geliefert haben soll, des Inhalts, daß Gott über der Welt Sünde und Bosheit hefftig erzürnt darum er die Welt habe wollen lassen untergehen. Auf der Jungfrau Marien und der heiligen Engel Fürbitt derselben verschont, doch den Menschen diese Straf und Buß verkündigen lassen, daß ein jeder 34 Tag in der Frembde umbreysen, seinen Leib geißeln und hiemit Gott versöhnen soll. Auffm Platz vorm Münster haben sie einen großen Ring gemacht, in ihrer Prozession alle mit bedecktem Haupt unter sich und traurig ausgesehen, Geißeln von dreyen Seylen, und vornen mit eysen Creutzlin in Handen getragen. In dem Kreyss haben sie ihre Kleyder abgelegt, den Leib mit einem Schurz gegürt und mit sonderm Gesang und Ceremonien sich über Rücken mit den Geißeln blutrünstig geschlagen." (Fritz Klotz: Speyer - Kleine Stadtgeschichte, Speyer 1971) Diese Bewegung mutierte zur sakramentalen Liturgie und trat in Konkurrenz zum kirchlichen Bußritus. Die Kirche bestand daher darauf, dass Geißlerzüge von Geistlichen betreut würden und die Teilnehmer vorher regulär beichten müssten. Die Umzüge verselbstständigten sich zu theatralischen Passionsspielen. Diese erregten Zuschauer dermaßen, dass sie Darsteller der Juden verprügelten, was in pogromähnlicher Verfolgung ausartete. Papst Gregor XIII. verbot diese Form daher 1574 und gestattete nur noch Jesuiten ihr Lehrdrama aufzuführen.

Wurde diese Schmerzsucht kirchenintern nie kritisiert? Oh doch! Der schwerwiegendste Einwand war, hier werde eine neue Form der Beschaulichkeit eingeführt, wo doch die Befolgung der benediktinischen Regel vollkommen genüge. Zur Verteidigung wurde versucht, die Tradition bis zur Geißelung Christi zurückzuverfolgen, um eine reale Unmittelbarkeit zu dessen Leid herzustellen. Aber soll Jesus uns nicht vom Leid erlöst haben? Steckt also mehr hinter dieser Sucht nach Kasteiung, als eine Imitation des Gottessohnes? In der Tat: Flagellanten waren nicht die ersten, die glaubten sich fürchterliche Schmerzen zufügen zu müssen, um Gott zu gefallen. Es begann lange vor dem Christentum: Der ägyptische Isis-Kult und der griechische Dionysos-Kult praktizierten ebenfalls Selbstgeißelungen. Juden betrieben sie bei großen Tempelzeremonien. Auch im Islam, der Jesus zum Propheten degradiert, gibt es Selbstkasteiung. Bekannte Beispiele sind die Trauer- und Bußrituale bei schiitischen Passionsspielen, besonders am Märtyrer-Gedenktag Aschura. Die dabei stattfindenden Selbstgeißelungen sind regional sehr unterschiedlich. Während in einigen Regionen mit scharfen Schwertern eine Wunde in die Stirngegend geschlagen oder mit Rasierklingen geritzt wird, bis über das Gesicht Blut strömt, wird anderswo der nackte Rücken mit einer Kettengeißel blutig geschlagen. Besonders heftige Formen sind aus Pakistan bekannt. Also ist der Ritus nicht originär christlich.

Aber nicht nur gegen sich selbst richteten Gläubige zu allen Zeiten ihre Marterinstrumente: Während des römischen Hauptfestes des Herdengottes Faunus wurden z.B. Frauen gegeißelt, um ihre Fruchtbarkeit anzuregen. Später ließen sich auch Christen gerne quälen. Aber was passiert denn eigentlich bei einer solchen Geißelung? Nun, ein Mönch bittet einen Priester ihn zu geißeln, macht den Rücken frei und betet dreimal das Confiteor. Während der ersten beiden Gebete antwortet der Priester mit Miseratur tui und schlägt mindestens dreimal zu. Beim dritten Mal spricht er das Indulgentiam, die Kurzformel der priesterlichen Absolution, und abschließend das Absolve Domine. Danach folgen noch drei Schläge. Jeder Mönch darf täglich um drei solcher Bußsitzungen bitten – also 18 Schläge pro Tag! Diese Prozedur ist auch Vorbild privater Selbstgeißelung in Betsaal oder Kirche. Man singt den Psalm 6, der so beginnt "Ach HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!" und fällt dabei auf die Knie. Dann beginnt die Geißelung, gefolgt von drei Bittgebeten für die Mitglieder des Ordens, alle Gläubigen und die ganze Menschheit. Der Prior beendet die Geißelung durch Händeklatschen. Na Gott sei Dank!

Eine weitere Steigerung durch sozialen Druck fremdgesteuerter Selbstkasteiung ist die Anwendung eines Bußgürtels: Eine mehrgliedrige Kette, deren eine Seite mit scharfen Metallteilen besetzt ist. Er wird straff um den nackten Oberschenkel gelegt, bohrt sich tief in die Haut und verursacht besonders im Sitzen große Schmerzen – bis hin zu Vereiterungen und Entzündungen. Noch heute tragen manche Mitglieder der katholischen Laienorganisation Opus Dei solche Bußgürtel. Falls das Christentum - wie Gläubige oft behaupten - keine Leidensphilosophie wäre, was hat dann zu den bisher geschilderten Abarten geführt? Ich gelange zur Überzeugung, dass Leid keine Abart, sondern das Glaubenszentrum ist – mit einem höchst weltlichen Hintergedanken. Noch heute werden, insbesondere am Karfreitag, Leiden und Qual zum Vorbild erhoben. Aber wäre Jesu Opfertod nicht umsonst gewesen, wenn wir uns jetzt sogar selbstkasteien? Was also steckt hinter dieser Sucht nach Schmerz? Die Symbolik des Leidenskreuzes jedenfalls ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Noch heute wird es in jeder Kirche, in vielen Schulen, in öffentlichen Gebäuden und Krankenhäusern zur Schau gestellt und angebetet.

Apropos Krankenhäuser: Mutter Teresa gilt vielen als positives Beispiel religiös motivierter Menschen. Hat der Engel von Kalkutta nicht den Schmerz der Armen bekämpft? Im Gegenteil: sie soll sogar die Gabe von Schmerzmitteln untersagt haben. Laut Mutter Teresa sei durch das Leid eine besondere Nähe zu Jesus erfahrbar. Schmerzen und Leiden seien daher positiv zu bewerten. Ist der Vatikan also doch für den qualvollen Weg zu Gott? Immerhin hat Johannes Paul II., zum Ende hin selbst leidend, Mutter Teresa 2005 selig gesprochen. Muss wirklich jeder die Passion nacherleben, wenn er ins Paradies will? Wer im Mittelalter Schmerzmittel anbot, schloss in den Augen der Kirche einen Pakt mit dem Teufel und wurde als Hexe oder Hexer verbrannt. Das galt auch für denjenigen, der auf diese Mittel hoffte. Schmerz war die Strafe Gottes und musste zur Errettung der Seele ertragen werden. Das Erdulden der Qual gibt Gott die Chance, sich barmherzig zu zeigen und zu erlösen. Steckt dahinter die Erkenntnis, dass uns Jesu Opfertod doch nicht erlöst hat, da es weiterhin Sünden gab? Erübrigte sich deshalb für syrische Christen sein Opfertod und bestreiten folgerichtig deren muslimische Nachfolger Kreuzestod und Gottessohnschaft Jesu?