Das Christentum als Religion des Leidens

Schmerz und Religion

Die Wiederentdeckung der griechischen Antike in der Renaissance leitete den Wandel zur Moderne ein: Der Philosoph Epikur hatte bereits im dritten Jh. v.u.Z. gefolgert, dass Furcht, Schmerz und Begierden die drei großen Klippen seien, die umschifft werden müssten, damit dauerhaft Lebenslust und Seelenruhe herrschen können. Im diesem Sinne gehört Schmerz zur sinnlich wahrnehmbaren Erfahrung jedes Einzelnen, also eine total moderne Sicht der Dinge. Die erste Äthernarkose 1846, die Entdeckung der Acetylsalicylsäure 1898 sowie weiterer Schmerzmittel im 20. Jh. hätten Epikur sicher erfreut. Sie haben den Schmerz zur lästigen Begleiterscheinung von Krankheit oder Verletzung degradiert. Er wird nicht mehr als Fügung höherer Mächte missverstanden, sondern als neurologisches Phänomen, dem mit modernen Mitteln beizukommen ist.

Jahrhunderte zuvor kamen die Schriften der Philosophen noch auf den christlichen Index. Das führte zu deren systematischen Vernichtung im Mittelalter. Ab dem Jahr 380 n.u.Z. rückte stattdessen die klassische Auffassung vom heldenhaften Schmerz der Kulturheroen, wie Prometheus oder Herakles, ins Zentrum eines "Heilsgeschehens". Es versah nach der konstantinischen Wende mit Erhebung des Christentums zur römischen Staatsreligion das menschliche Leiden mit einem Sinn - einem Folgenreichen. Epikurs Umschiffung des Schmerzes war vergessen. Ist er also deshalb so tief in Religion eingebettet, weil er sowieso unvermeidbar scheint und jeder sich ihm gegenüber positionieren muss? Zumindest das scheinen Studien zu belegen: Religiosität hilft tatsächlich beim Aushalten von Schmerz, doch dafür ist kein höheres Wesen oberhalb der siebten Kristallschale zuständig, sondern der wissenschaftlich bekannte Placebo-Effekt. Falls dies trotzdem eines der ursprünglichen Motive gewesen sein sollte, geriet es im Christentum völlig außer Kontrolle und Qual wurde zum pädagogischen Mittel, das dem Einzelnen einen Vorgeschmack auf eine Fortdauer in höllischer Verdammnis vermittelt. Das "Jammertal" des irdischen Daseins wurde Durchgangsstation zur eigentlichen Wirklichkeit: der Ewigkeit im Angesicht Gottes. Ganz ähnlich denken heute noch viele Muslime, für die das einzig Erstrebenswerte das Paradies ist. Die diesseitige Welt ist höllisch.

Dem neuen Christengott fiel recht schnell das Denken zum Opfer, das im Hellenismus die erstaunlichsten wissenschaftlichen Ergebnisse hervorbrachte, denn die alten Götter setzten den Menschen keine Schranken. Im 3. Jh. v.u.Z. berechnete Eratosthenes von Kyrene den Umfang der Erdkugel. 700 Jahre später interessierte das die Kirchenväter nicht mehr die Bohne. Von nun an galt der Satz des Augustinus "glaube, damit du erkennst". Die Leidensphilosophie ersetzte die Naturphilosophie. Mehr denn je galt, was Gott Eva bei ihrer Verbannung aus dem Garten Eden anhexte: "Viel Mühsal bereite ich dir, so oft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder." Das Martyrium wurde im Mittelalter zum Leuchtturm auf dem Weg ins Himmelreich. Auch die Frauenmystik mit ihren Visionen, ihrer spirituellen Erotik bis hin zur Hysterie, zeigte eine Affinität zum Schmerz.

Die Trennlinie zwischen Qual und Lust ist in der Tat sehr dünn. Bei Experimenten zeigte sich, dass die Strukturen für Lust- oder Schmerzempfinden im gleichen Hirnareal angesiedelt sind. Auch unser Belohnungszentrum antwortet schneller auf Schmerzimpulse als die eigentlichen Schmerzzentren. Ein erster Hinweis darauf, wie masochistisches Lustempfinden physiologisch funktioniert. Jetzt fehlt noch die soziale Komponente: Völkerkundler erfuhren, dass Leid in allen Kulturkreisen ein sozialer Kitt zur Sicherung der eigenen Identität ist. Kollektiv zugefügte Pein durch Schmucknarben, genitale Verstümmelungen bei Jungen und Mädchen und Auspeitschungen bei einigen afrikanischen Stämmen während der Initiationsriten markieren einen höheren gesellschaftlichen Status im Leben eines Individuums. Aber was unterscheidet die Schmiss-Narbe im Gesicht des Studenten einer schlagenden Verbindung von der Schmucknarbe eines jungen Afrikaners? Wenig, denn beiden bestätigt es ihren neuen Status innerhalb der Gruppe. Schmerzen sind bei Initiationsriten Pflicht. Nicht nur bei Selbstgeißelung, sondern auch, wenn Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden.

Paul Spiegel, ehemaliger Zentralrat der Juden in Deutschland, schrieb in seinem Buch "Was ist koscher? Jüdischer Glaube - jüdisches Leben" (München 2003) zur Beschneidung: "Das Baby wird nicht betäubt, es erhält nicht einmal eine örtliche Narkose, denn den Bund mit Gott muss man sozusagen bei vollem Bewusstsein vollziehen. Natürlich schreit das Baby, natürlich tut ihm der Eingriff weh." Nicht nur die Markierung als Gottes Sklave ist also von Bedeutung, auch der Schmerz ist es, durch den das religiöse Opfer gehen muss. Dieser Schmerz wird weitergegeben an die Frau, die hin und wieder unter dem gröberen Sex mit einem beschnittenen Mann leidet. Dänische Studien belegen dies. Warum aber begehren kaum welche auf, denen als Kinder solches angetan wurde? Nun, der Ritus macht den Jungen zum vollwertigen Mitglied der Gemeinde, es ist seine unfreiwillige Solidaritätsbekundung für sozialen Schutz. Falls ein Mann Probleme mit seinem beschnittenen Penis hat, wird er dies selten zugeben. Er wäre die Lachnummer seiner patriarchalischen Community und stünde im Ansehen vermutlich noch unterhalb der Frauen. Ein richtiger Kerl hält den Verlust seiner Empfindungsfähigkeit klaglos aus. Es ist eben ein soziologisches Phänomen.

"Der Begriff Sadist wird heutzutage im allgemeinen Sprachgebrauch […] für Personen verwendet, welche sich am Leid anderer erfreuen können." (Wikipedia) In diesem Sinne tritt uns aus allen "heiligen" Büchern ein sadistischer Gott entgegen. Und der gläubige Mensch folgt ihm blind. Ein Widerspruch? Nein! Da dieser Gott sowieso nur eine schlechte Arbeitshypothese zur Erklärung der Natur ist, haben ihn Führer exakt so für ihre eigenen Zwecke erfunden: Sie brauchen Gefolgsleute als Schutzmantel und Ernährer. Zu was religiös indoktrinierte Menschen fähig sind, zeigen beispielhaft die großen Pyramiden in Ägypten. Das Gros der Arbeiter waren Freiwillige, die unter fürchterlichsten Bedingungen Frondienste leisteten, um diese Kolossalbauten zu errichten - weil der Pharao gottgleich schien. Wer ihm zu Diensten war wurde mit himmlischen Freuden belohnt. Ebenso jene, die Mohammed in den Krieg oder Konrad III. auf den Kreuzzug folgten und dabei ihr Leben als Märtyrer verloren. Es ging immer um ein Maximum an Belohnung – allerdings erst nach dem Leben, von wo niemand zurückkehrte um zu berichten. Aus diesem Grund musste das Leben auf Erden karg und entbehrungsreich sein. Darum müssen wir im Diesseits sexuell enthaltsam leben, fasten und oft auf Genuss verzichten. Das kompensiert laut Versprechungen der Kleriker das Jenseits im Überfluss. Würden Religionen dafür sorgen, dass wir bereits hier ohne Armut, sexuell erfüllt und schmerzfrei leben könnten, wäre die Verlockung des Paradieses untauglich als Motivation, den Feldherren in religiöse Kriege zu folgen oder ihnen einen Teil der Ernte, des Viehs oder der Töchter abzuliefern.

Deshalb müssen Gläubige entbehren, deshalb müssen sie Qualen bis hin zum Märtyrertod erleiden, um auf das Himmelreich zu hoffen, auf ihre religiöse Rente. Deshalb sind Schmerz und Armut essentielle Bestandteile des monotheistischen Prinzips. Ein wesentliches Rezept dagegen ist Demokratie mit ihrer diesseitigen Orientierung, die den Weg zum persönlichen Wohlstand noch im Leben möglich machte. Dies ist einer der Gründe, warum vor allem der Islam als am wenigsten aufgeklärte Religion derart massiv gegen die Moderne zu Felde zieht. Gleichheit, Freiheit und gutes Auskommen (= weniger Leid) lassen das Interesse am Paradies sinken – und damit die pekuniäre Unterstützung der Kleriker. Wenn es Menschen durch Bildung und Aufklärung im Diesseits besser geht, wird ihre Bereitschaft schwinden, einem bronzezeitlichen Aberglauben zu folgen und dabei ihr eigenes oder fremdes Leben auf Basis jenseitiger Heilsversprechungen wegzuschmeißen.