Säkularisierung in Polen

Ethikunterricht in polnischen Schulen

interview.jpg

Manfred Isemeyer und Andrzej Wendrychowicz im Gespräch
Manfred Isemeyer und Andrzej Wendrychowicz im Gespräch

WARSCHAU/BERLIN. (hpd) Die polnische Bischofskonferenz teilte kürzlich mit, dass im vergangenen Schuljahr noch rund 90 Prozent der Schüler am Religionsunterricht teilnahmen, in der Oberstufe nur noch 85 Prozent. Der Warschauer Theologe Piotr Tomasik erklärte die Entwicklung mit der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft. Manfred Isemeyer befragte dazu in Warschau Andrzej Wendrychowicz, den Gründer und Verantwortlichen der polnischen Internetplattform "Ethik in der Schule".

hpd: Die von Teilen der katholischen Kirche betriebene Politisierung, ihre offene Unterstützung der nationalkatholischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) hat das Image der Kirche in der polnischen Gesellschaft negativ beeinflusst. Die Lehre der katholischen Kirche gilt vielen als konservativ und weltfremd. Als "nicht gläubig" bezeichneten sich 2013 neun Prozent der Polen. Und in den Großstädten wächst die Zahl bekennender Atheisten unter den 16 bis 26-jährigen signifikant. Verliert der Katholizismus an Bedeutung und wie stark sind die Säkularisierungstendenzen tatsächlich?

Andrzej Wendrychowicz: Die Zahlen und die Statistiken sind nicht eindeutig. Die Katholische Kirche zählt alle getauften Polen als Gläubige und das sind ca. 98%. Anderseits geben sogar die kirchlichen Statistiker an, dass nur ca. 40% der Gläubigen an Heiligen Messen regulär teilnehmen. Bei der Volkszählung vor einigen Jahren war die Frage nach Konfession nichtobligatorisch. Deshalb ist die Frage, wieviel Prozent der Polen tatsächlich nicht gläubig sind, schwer zu beantworten.
 

Die polnischen Bischöfe sind sehr konservativ. Sie sind gegen die in-vitro-Befruchtung, gegen Abtreibung, gegen Ehen der homosexuellen Paare, sie unterbieten jegliche Kritik in den eigenen Reihen. Die Kirche hat in den letzten Jahren vom Staat viele Grundstücke, Gebäude und Ländereien zurückbekommen, meistens gegen den Willen der zuständigen Gemeinden. Reichtum, Eitelkeit, krumme Geschäfte, Pädophilen-Skandale, Einmischung in die Politik dulden auch viele Gläubigen immer weniger. Das alles und das wachsende Ausbildungsniveau verursachen eine kritische Einstellung der Polen zur Katholischen Kirche.

Ja, der Katholizismus verliert an Bedeutung und die Säkularisierungstendenzen der polnischen Gesellschaft sind sehr stark. Das möchten aber die Politiker leider nicht sehen. Die Unterstützung seitens der Kirche bei den Wahlen ist ihnen wichtiger als die Weltanschauung der Bürger. Und das betrifft nicht nur die PiS, auch die regierende PO (Bürgerliche Plattform) und die mitregierende PSL (Volkspartei). Auch die Sozialdemokraten (SLD) waren nicht bereit, offen gegen die Kirche einzutreten; erst jetzt, wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren und vielleicht nicht im nächsten Parlament vertreten sind, verkünden sie antiklerikale Parolen.
 

In Polen fanden in den letzten Jahren "Tage des Atheismus" statt, die Stiftung "Freiheit von Religion" (Wolnosc od religii) lässt auf großflächigen Plakatwänden religionskritische Losungen kleben, über 20.000 Polen bekennen sich auf einer Internetplattform zum Atheismus. Aber mit dem Versuch, politisch Fuß zu fassen, sind die Säkularen in Polen wohl gescheitert. Erreichte die von Janusz Palikot geführte Partei "Deine Bewegung" (Twoj Ruch) 2011 noch 10,1 Prozent der Wählerstimmen, so ist sie 2015 fast bedeutungslos geworden und dürfte zur Parlamentswahl im Herbst an der 5% Hürde scheitern. Wie steht es aktuell um die organisierten Säkularen in Polen?

Janusz Palikot hat in unglaublich kurzer Zeit eine ganz neue Partei organisiert und vor 4 Jahren über 10% der Wählerstimmen bekommen, weil er mit antiklerikalen Parolen in die Wahlen ging. Danach hat er immer mehr die Meinung, die Strategie und die Parolen gewechselt. Er hat die Glaubwürdigkeit sowohl in den eigenen Reihen als auch bei den Wählern gänzlich verloren. Er hat sich jetzt vor den diesjährigen Wahlen mit den Sozialdemokraten (Altkommunisten) und einigen kleinen Linksgruppierungen vereinigt. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die ad hoc gebildete Koalition die Hürde 8% (5% gilt nur für eine Partei) schafft. Es scheint, dass im Parlament die Säkularen keine Vertretung mehr haben werden.

Desto wichtiger sind solche Initiativen wie der Stiftung "Freiheit von Religion", die "Tage des Atheismus" in Warschau und die "Tage der Säkularität" in Krakau (Nachfolge der Initiative "Atheisten und Agnostiker Märsche") oder die Aktion "Die säkulare Schule".

Es werden in ganz Polen Unterschriften gesammelt, dass der Religionsunterricht in den Schulen nicht mehr vom Staat finanziert werden soll. Laut Umfrage der Wochenzeitschrift Newsweek unterstützen 62 Prozent der Polen diese Aktion.

Es entstehen immer mehr neue Internetplattformen, Gruppen und Initiativen, die gegen Kirche und Religion kämpfen. Das sind aber separate, nicht koordinierte Initiativen. Ob, wann und wie diese Initiativen eine politische Gestalt in Form von einer neuen Partei bilden werden, ist ungewiss. Bestimmt nicht bei nächsten Wahlen im Oktober 2015.

Alle diese Initiativen sind mehr oder weniger gegen die Katholische Kirche gerichtet; sie kämpfen vor allem gegen (was) und nicht für (was) und das ist, meiner Meinung nach, zu wenig, um sich in einer politischen Bewegung zu vereinen, mit einem Programm, das nicht nur Säkularität auf das Banner schreibt.
 

Katholischer Religionsunterricht ist seit 1997 in der Verfassung verankert und wird in Kindergärten und Schulen aus dem staatlichen Haushalt finanziert. Es handelt sich formal um ein nichtpflichtiges Fach. Weltanschauungsgemeinschaften haben mit alternativen Angeboten keinen Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Warum klagt niemand gegen eine solche Diskriminierung?

Genau gesagt, die Verfassung lässt nur Religionsunterricht in den Schulen zu. Im Konkordat von 1993 wurde die Anwesenheit der Religionsunterricht in den Schulen beschlossen. Aber schon früher, am 14. April 1992, wurde mit Verordnung des Bildungsministers Religion als nichtpflichtiges Fach in den Schulen formell eingeführt. Gleichzeitig wurde auch Ethik für die konfessionslosen Kinder eingeführt. Religion war sofort in allen Schulen zugänglich und Ethik nur vereinzelt.

Im Jahre 2002 hat Czesław Grzelak, nach langer wirkungsloser Korrespondenz mit Schulbehörden und Bürgerbeauftragten, Polen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt, dass sein Sohn keine Möglichkeit hatte, Ethik zu lernen. Im Juni 2010 hat das Tribunal Polen verurteilt, aber trotzdem ist der Zugang zum Ethikunterricht immer noch sehr erschwert.

Im Jahre 2012 habe ich als Leiter des Projekts "Ethik in der Schule" eine Beschwerde beim Ministerkomitee des Europäischen Rats gegen Polen wegen der Nichtumsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes eingereicht. Die polnische Regierung wurde ermahnt und im April 2014 wurde die Verordnung vom 14.4.1992 zu Gunsten des Ethikunterrichts geändert.

Wir sind also nicht passiv in Sachen Diskriminierung der konfessionslosen Kinder/Eltern und des Ethikunterrichts in den Schulen.