Interview

Ekin Deligöz wirbt für "aufgeklärten europäischen, deutschen Islam"

ekin_deligoz.jpg

Ekin Deligöz
Ekin Deligöz

BERLIN. (hpd) Nach den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und anderen Großstädten hat die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz die Muslime in Deutschland zu einer “Form des aufgeklärten Islams” aufgerufen. Ihr Wunsch wäre, “dass wir auf einen Islam zusteuern, der deutsch ist”. Dieses “deutsch-muslimische Leben” könne nur auf der Grundlage der deutschen Verfassung und Gesetze stattfinden, betonte Deligöz. Das heiße, dass in keinerlei Weise Gewalt akzeptiert oder gar verherrlicht werden dürfe.

Frau Deligöz, muss man sich nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln mehr Sorgen über das friedliche Zusammenleben in Deutschland machen?

Ekin Deligöz: Es ist zumindest Achtsamkeit geboten. Mit dem Phänomen sexualisierter Gewalt gegen Frauen müssen wir uns schon seit geraumer Zeit intensiv auseinandersetzen. Ich wünschte mir, dass nicht erst solche schrecklichen Taten wie in Köln geschehen müssten, damit die Gesellschaft aufwacht und das wahrnimmt.
 

Dass die Täter mutmaßlich vor allem Migranten aus dem nordafrikanischen, muslimischen Raum waren, ist Wasser auf die Mühlen von Pegida und Co…

Da müssen wir über zwei Phänomene reden. Es gibt eine importierte Einstellung, die Frauen ihre Selbstständigkeit abspricht und sie in zwei Lager einteilt: in die guten, madonnenhaften, die “Engel”, die zu schonen sind, und den “westlich” eingestellten, denen von solchen Männern unterstellt wird, dass sie sozusagen Freiwild sind. Damit müssen wir uns ernsthaft auseinandersetzen.

Köln hat aber auch eine Schleuse geöffnet und rechtsextremes Gedankengut weiter hoffähig gemacht. Dabei gehen jegliche Hemmungen und Tabus verloren, die es im Umgang miteinander zu Recht in dieser Gesellschaft gibt. Ich erlebe das ebenso wie meine Kollegen in anderen Fraktionen, aber auch ganz normale Menschen auf der Straße. Neulich sagte mir ein Taxifahrer, der seit 40 Jahren hier lebt, dass er sich plötzlich dafür rechtfertigen müsse, Muslim zu sein. Hier wird ein Thema bewusst instrumentalisiert.
 

Wie erleben Sie als muslimische Abgeordnete das konkret?

Da gibt es zwei Aspekte - einen politischen und einen persönlichen. Ich fange mit dem politischen an. Jeder Muslim wird jetzt plötzlich unter Pauschal- und Generalverdacht gesetzt. Durch diese widerliche Instrumentalisierung sind wir in einer Phase, in der ich Muslime in ihrer Gesamtheit wegen etwas verteidigen muss, wofür sie gar nicht stehen. Damit sind wir beschäftigt, statt uns um das eigentliche Problem zu kümmern, die Gewalt gegen Frauen.
 

Und der persönliche Aspekt?

Meine Mitarbeiter bekommen sehr viele Anrufe, bei denen sie einfach nur beschimpft werden. Auch ich selbst werde auf der Straße angesprochen. Ich bin ja nicht nur Abgeordnete, sondern auch Mutter, Freundin, Partnerin. Und was gerade im Internet so um sich schlägt, diese Trolle und ihre Beleidigungen, das schwappt im Moment über in die reale Welt. Das hat nichts mehr mit Politikverdrossenheit und den üblichen Beschimpfung von Politikern zu tun, sondern das ist eine Gefahr, die quer durch die Parteien alle Abgeordneten betrifft. Für mich ist es eine Bestätigung, dass ich als überzeugte Demokratin mein Mandat verteidigen muss, weil die Demokratie die beste Staatsform ist, die wir kennen. Gleichzeitig machen die Drohungen das Leben nicht leichter.
 

Was sagen Sie als Muslima denen, die sich nach Köln in ihrer Auffassung bestätigt fühlen, der Islam sei mit westlichen Werten nicht vereinbar?

Es gibt keinerlei Entschuldigung für Gewalt, keine kulturelle, keine religiöse, keine ethnische. Für Köln alle Muslime pauschal zu verurteilen, ist aber so, als würden Sie etwa wegen der rechtsradikalen Ausschreitungen in Leipzig vergangene Woche ganz Deutschland für rechtsradikal erklären. Wir sollten aufhören mit gegenseitigen pauschalen Diffamierungen, sondern alle zusammenrücken und für eine gewaltfreie Gesellschaft einstehen - egal, ob gegen männliches Machogebaren oder gegen rechtsextremes Gedankengut. Ich persönlich habe mehr Angst vor diesen rechten Gesinnungen als vor der Machokultur. Letzteres können und müssen wir verändern, das andere ist ein schleichendes Gift in unserer Gesellschaft.
 

Aber viele haben nach Köln Angst.

Ja, die Ängste sind da und müssen ernst genommen werden. Jede Frau kennt übrigens die Situation, nachts auf der Straße Ängste zu verspüren. Das ist aber auch ein Auftrag an uns alle, sie zu überwinden - und zwar konstruktiv. Denn sie rechtfertigen nicht eine geschlossene Gesellschaft. Durch eine Schließung der Grenzen werden wir all das nicht vermeiden. Vermeiden können wir Vorfälle wie in Köln nur durch eine starke, demokratische Zivilgesellschaft. Das müssen wir alle gemeinsam anpacken.
 

Geschieht das?

Ich hoffe, dass es geschieht - wir haben dazu auch keine Alternative, sondern müssen darauf hinarbeiten. Wir brauchen die muslimischen Verbände als Bündnispartner, wir müssen hinein in die Bildungseinrichtungen, in die Schulen, um allen Menschen, die hier leben, klar zu machen, dass wir uns mit unserer Verfassung auf ein Wertesystem geeinigt haben und da auch keine Kompromisse eingehen. Dabei setze ich auf die Bürgergesellschaft und all die Menschen, die jeden Tag von neuem diese Werte verteidigen. Dazu gehört auch, dass wir mehr Polizisten brauchen, auch mehr Migranten bei der Polizei.
 

Welche Aufgabe kommt dabei den Moslems in Deutschland konkret zu?

Mein Wunsch wäre, dass wir auf einen Islam zusteuern, der deutsch ist. Und dieses deutsch-muslimische Leben kann nur auf der Grundlage der deutschen Verfassung und Gesetze stattfinden - das heißt, es darf in keinerlei Weise Gewalt akzeptiert oder gar verherrlicht werden. Und dazu kommt natürlich, das nicht nur selbst zu leben, sondern auch zu vermitteln: in der Erziehung, bei religiösen Gelegenheiten, in der Gemeindearbeit. Ich sehe durchaus, dass das auch geschieht, aber ich wünschte mir mehr Anstrengungen dabei, einen fortschrittlichen europäischen deutschen Islam zu etablieren - eine Form des aufgeklärten Islams. Wir müssen das in die Wissenschaft, in die Universitäten hineintragen, in den Islamunterricht. Solange wir keine verbandliche Anerkennung der islamischen Strukturen als Religionsgemeinschaft haben, müssen wir als Staat unterstützend mitwirken, damit so etwas entstehen kann.
 

Welche weiteren Konsequenzen müssen wir ziehen? Die Koalition will das Asyl- und das Sexualstrafrecht verschärfen. Einverstanden?

Was ich absolut begrüße, ist die Verschärfung im Sexualstrafrecht. Nach heutigem Stand fällt die Strafe für sexuellen Angriffe wie in Köln sehr gering aus. Diese Verschärfung des Sexualstrafrechts befürworte ich übrigens schon seit längerem, nicht erst seit Köln. Wir Grüne haben deshalb bereits im Sommer 2015 einen eigenen Gesetzentwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts vorgelegt. Alles andere hängt an so vielen anderen Faktoren, dass es sich im Moment nur noch um Symbolik dreht. Wir hatten erst zum Beginn dieses Jahres eine Strafrechtsverschärfung für Ausländer. Wenn sie für ein Vergehen zu einer Freiheitsstrafe über ein Jahr verurteilt sind, kann man sie heute bereits nach geltendem Recht abschieben. Für Prävention, Schutz und Ermittlungsarbeit benötigt die Polizei aber genügend Ressourcen. Da muss man jetzt konkret ansetzen.
 

Keine Verschärfung des Asylrechts?

Schauen wir noch einmal auf den Fall Köln. Marokkaner erhalten beispielsweise in Deutschland zu 95 Prozent kein Asyl. Bis das ausgesprochen wird, dauert es aber zwei bis drei Jahre. Besser wäre es, wir hätten schnellere Asylverfahren. Hinzu kommt: In dieser Zeit dürfen sie weder arbeiten noch Integrationskurse besuchen. Das heißt, wir verdammen diese jungen Männer zum Nichtstun und wundern uns dann über Kriminalität. Wir sollten sie mindestens qualifizieren und ihnen Perspektiven für ein Leben hier oder in ihrer Heimat schaffen.

Das Interview erschien zuerst am 18. Januar 2016 in der Wochenzeitung “Das Parlament”.