Interview mit Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard

"Die Attraktivität ist beim Menschen in vielen sozialen Kontexten wichtig"

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Professorin Dr. Christiane Nüsslein-Volhard bei einem Vortrag 2018.

Die Entwicklungsbiologin und Genetikerin Prof. Dr. Christine Nüsslein-Volhard wurde 1995 als erste deutsche Frau überhaupt mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ausgezeichnet. Sie war langjährige Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und leitete von 2014 bis 2022 eine Emeritusgruppe, die zur Bildung von Farbmustern bei Fischen forschte. Dieses Thema greift sie auch als Eröffnungsrednerin beim Symposium Kortizes 2023 "Naturgewalt und Geisteskraft" am morgigen Freitag, 6. Oktober in Nürnberg, auf. Inge Hüsgen sprach mit ihr über die Bedeutung von Grundlagenforschung und über die Rolle von Schönheit in der Evolution des Menschen.

hpd: Frau Prof Nüsslein-Volhard, das Nobelpreiskomitee würdigte seinerzeit Ihre Entdeckungen zur genetischen Steuerung der Entwicklung von Embryonen, also ein Stück Grundlagenforschung. Können Sie kurz erläutern, worum genau es dabei ging und welche Bedeutung diese Forschungen für die konkrete Anwendung besitzen?

Christine Nüsslein-Volhard: Mein Kollege Eric Wieschaus und ich haben damals mit der Fruchtfliege Drosophila gearbeitet und 120 Gene entdeckt, die entscheidend die Entwicklung der Embryonen zur Larvengestalt steuern. Es hat sich herausgestellt, dass Wirbeltiere und Insekten in der Evolution gemeinsame Vorfahren haben und deshalb viele dieser Gene (in ähnlicher Form) auch in Wirbeltieren (also Fisch, Mensch und Maus) wirken. Das hat das Verständnis der Embryonalentwicklung auch anderer Tiere entscheidend bereichert. Einige dieser Gene sind medizinisch relevant, wie das Gen Toll, das eine zentrale Rolle bei der angeborenen Immunität einnimmt und von uns bei Drosophila entdeckt wurde.

Welche Rolle hat damals die Perspektive für eine konkrete Anwendung künftiger Ergebnisse bei der Konzeption Ihrer Forschungen gespielt?

Für uns war Anwendbarkeit irrelevant. Wir wollten Embryonalentwicklung so gut wie möglich verstehen und die Fliege war ein sehr gut geeignetes Forschungsobjekt, komplexe Prozesse zu analysieren. An Anwendung haben wir damals nicht gedacht, sondern rein an Erkenntnisgewinn, es war also, wie Sie sagten, reine Grundlagenforschung. Inzwischen wird mit Drosophila als Modellorganismus aber auch ganz gezielt nach medizinisch anwendbaren Faktoren geforscht, da hier ein sehr leistungsfähiges Spektrum von experimentellen und genetischen Methoden zur Verfügung steht.

Kommen wir zur Frage, welche möglichen Schlussfolgerungen Ihre und andere Forschungen für unser Verständnis der menschlichen Evolution nahelegen. Inwieweit tragen sie dazu bei, den Faktor Schönheit für die Entwicklung unserer Spezies besser zu verstehen?

Schönheit ist nicht überlebenswichtig, spielt also keine Rolle in Darwins Evolutionstheorie der natürlichen Selektion. Im Gegenteil, besonders auffallende Attribute machen Individuen leichter für Fraßfeinde erkennbar. Sie sind aber wichtig für den Fortpflanzungserfolg, denn Attraktivität ist von großer Bedeutung beim Finden des Geschlechtspartners, was Darwin sexuelle Selektion genannt hat. Er begründete auch, dass das unterschiedliche Aussehen, wie zum Beispiel Hautfarbe, Bärtigkeit, Haarlänge und Textur, Lippen- und Nasenform geografisch getrennter menschlicher Völker auf unterschiedliche "standards of beauty" zurückgehen.

Verglichen mit anderen Lebewesen stehen Homo sapiens breite Optionen zur Anpassung des individuellen Erscheinungsbildes an ästhetische Normen zur Verfügung, von Schmuck und Schminke bis zu ästhetischen Operationen. Was kann dies hinsichtlich der Evolution des Menschen bedeuten?

Bei der Evolution des Menschen war wohl eine wichtige Neuerwerbung der Hominiden die geteilte Aufmerksamkeit ("shared intentionality") bei gemeinsamen Tätigkeiten. Dabei muss sich ein Individuum vergewissern, dass der andere hinschaut, und mag sich besonders machen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Gemeinsame Ziele waren wohl die Jagd, aber auch Werkzeugherstellung und die Nahrungsbereitung am Feuer. Es entwickelte sich ein Ich-, Du- und Wir-Bewusstsein und die Sprache. Die Attraktivität ist beim Menschen in vielen sozialen Kontexten besonders wichtig. Nicht nur bei der Partnerwahl, sondern auch bei anderen Prozessen des Sozialverhaltens spielen Farben und Ornamente eine große Rolle. Das Aussehen von Kopf bis Fuß ist beim Menschen kulturell veränderbar; es ist in vielen sozialen Vorgängen wichtig, wie die vielfältigen Uniformen, Ornate, Masken, Kopfbedeckungen und Trachten bei Ritualen, Tänzen, Spielen und in kriegerischen Auseinandersetzungen zeigen.

Das populärwissenschaftliche Symposium Kortizes findet vom 6. – 8. Oktober 2023 im Germanischen Nationalmuseum (GNM) Nürnberg statt. Unter dem Titel "Naturgewalt und Geisteskraft" sprechen zwölf hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fächern verständlich über die vielfältigen Aspekte der Menschwerdung in der Evolution. Das Symposium findet in diesem Jahr erstmals hybrid statt: Buchung der Online-Teilnahme, Programm sowie weitere Informationen zu Referentinnen und Referenten und ihren Vorträgen hier. Restkarten für die Gesamtveranstaltung oder einzelne Abschnitte in Präsenz sind, sofern verfügbar, vor Ort erhältlich.

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