Polizeiaufgabengesetz Bayern

Entscheidung über die Klage des bfg vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof

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Morgen wird der Bayerische Verfassungsgerichtshof über die Klage des Bundes für Geistesfreiheit gegen das Polizeiaufgabengesetz (PAG) entscheiden. Mit dem PAG steht die Tür zum autoritären Polizei- und Überwachungsstaat weit offen. Zahlreiche Grundrechtseinschränkungen und Überwachungsmaßnahmen sind verfassungswidrig und können bei "drohender Gefahr" noch immer unbefristet verlängert werden.

Der Bund für Geistesfreiheit München (bfg München) und der Bund für Geistesfreiheit Bayern haben am 25. August 2018 eine Popularklage gegen das PAG beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. Die Popularklage richtet sich gegen alle Artikel im PAG, in denen der noch immer nicht genau definierte Rechtsbegriff "zur Abwehr einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut" (Art. 11a PAG) verwendet wird.

"Mit der Klage geht es uns darum, Rechtsstaat und Bürgerrechte zu schützen. Das mehrfach umfangreich novellierte bayerische PAG ist verfassungswidrig und macht die Tür zum autoritären Polizei- und Überwachungsstaat weit auf; wir wollen sie wieder schließen", sagt Assunta Tammelleo, Vorsitzende des Bundes für Geistesfreiheit München. "Dass im PAG zudem zahlreiche Grundrechtseinschränkungen und Überwachungsmaßnahmen, zum Beispiel die Sicherstellung meiner Post oder der Einsatz der elektronischen Fußfessel, bei 'drohender Gefahr' noch immer unbefristet verlängert werden können, stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar."

Nach Auffassung der Kläger sind die vom 24. Juli 2017, 15. Mai 2018 und 20. Juli 2021 novellierten Artikel des Gesetzes verfassungswidrig, da sie zahlreiche im deutschen Grundgesetz und in der bayerischen Verfassung garantierte Grundrechte der Bürger*innen massiv verletzen – wie zum Beispiel das Grundrecht der Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Grundrechte auf Freiheit der Person und körperliche Unversehrtheit, das Rechtsstaatsprinzip, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses sowie die Grundrechte auf Freizügigkeit, auf informationelle Selbstbestimmung, auf Unverletzlichkeit der Wohnung und auf Berufsfreiheit sowie das Gebot des Artikels 98 der Bayerischen Verfassung (BV), nur zwingende und unerlässliche gesetzliche Einschränkungen der Grundrechte zuzulassen.

Präventivhaft (sog. Unterbindungsgewahrsam)

Die Formulierung "drohende Gefahr" betrifft zuallererst die zwar inzwischen etwas abgemilderte, aber immer noch überlange präventive Freiheitsentziehung von einem Monat mit Verlängerungsmöglichkeit um einen weiteren Monat, die sogenannte Unterbindungshaft.

"Eine präventive Haft von dieser Dauer ohne konkreten Tatverdacht, ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft, ohne Durchführung eines öffentlichen Verfahrens stellt die eklatanteste normative Grundrechtsverletzung des Rechtsstaatsprinzips aus Artikel 3 Absatz 1 und des Grundrechts der Freiheit der Person aus Artikel 102 Absatz 1 und 2 der BV dar seit ihrem Inkrafttreten im Jahre 1946. Die normierte Dauer ist rechtsstaatlich völlig unverhältnismäßig und damit grob verfassungswidrig", sagt Rechtsanwalt Rudolf P. B. Riechwald, der den Bund für Geistesfreiheit in dem Verfahren vertritt.

Auch wenn die Unterbindungshaft während des laufenden Popularklageverfahrens inzwischen von drei Monaten auf einen Monat reduziert wurde und nur noch einmalig um einen Monat verlängert werden darf, ändert sich für Tammelleo nichts am Sachverhalt: "Die überlange Ausdehnung des Gewahrsams auf insgesamt zwei Monate – vor der Novelle von 2017 waren es 14 Tage, vor 1989 gar nur 48 Stunden –, macht diese Präventivhaft zu einer 'Strafe auf Verdacht' und zu einer 'vorbeugenden Strafe'. Das darf es in einem Rechtsstaat nicht geben."

"Zudem sollte die Unterbindungshaft in Bayern doch angeblich zur Abwehr terroristischer Gefahren dienen", sagt die Vorsitzende des bfg München. "Jetzt aber werden verzweifelte Klimaschutzaktivist*innen der 'Letzten Generation', die mit friedlichen Sitzblockaden für ihr Anliegen demonstrieren, eingesperrt. Die Befürchtung, dass es genauso kommen könnte, hatten viele Kritiker*innen des PAG schon 2017/18 geäußert."

Noch dazu ist bisher höchstrichterlich völlig ungeklärt, ob zum Beispiel das Festkleben auf der Straße überhaupt eine Straftat ist.

Was aber passiert mit den in Unterbindungshaft genommenen Personen? Sie werden auf Antrag der Polizei einem Richter am Amtsgericht im FamFG-Verfahren (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) vorgeführt. Das geschieht ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft, die auch zugunsten des Betroffenen ermitteln müsste. Der Richter hört dann die Person in einer nicht öffentlichen Verhandlung an und kann aufgrund der schriftlichen Sachverhaltsschilderung der Polizei im Eilverfahren dann bis zu 30 Tage Präventivhaft verhängen. Damit ist die in Gewahrsam genommene Person schlechter gestellt als ein konkret Verdächtiger einer Straftat. Nach der neuen Vorschrift des Artikels 97 Absatz 4 PAG, die erst lange Zeit nach Einreichung der Popularklage eingeführt wurde, muss das Gericht inzwischen aber dem Festgenommenen, der noch keinen Verteidiger hat, von Amts wegen einen Anwalt oder eine Anwältin bestellen.

Weitere Überwachungsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen

Gravierend und verfassungsrechtlich unverhältnismäßig sind auch die zahlreichen weiteren und erschreckenden Überwachungsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen bei "drohender Gefahr" (z.B. Platzverweise, Kontaktverbote, Aufenthaltsverbote, Aufenthaltsgebote, elektronische Fußfessel, Wohnraumüberwachung, Postüberwachung, verdeckter Zugriff auf PC, Smartphone, Tablet). Auch hier sind die Maßnahmen zwar befristet – zum Beispiel bei der Postüberwachung oder der elektronischen Fußfessel auf drei Monate, können aber "um jeweils längstens drei Monate" verlängert werden. Damit sind sie letztlich unbefristet und "uferlos" (siehe z.B. Postsicherstellung: Art. 35 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 PAG).

Siehe dazu auch: Artikel 16 Absatz 1 und Absatz 2 PAG (Platzverweis, Kontaktverbot, Aufenthalts- und Meldeanordnung); Artikel 34 Absatz 4 Satz 2 PAG (Fußfessel); Artikel 36 Absatz 2 Satz 1, Absatz 4 Satz 2, Absatz 7 Satz 2; (verdeckter Einsatz technischer Mittel, Abhören und Bildaufzeichnungen); Artikel 37 Absatz 3 Satz 2 PAG (verdeckte Ermittler) und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1, Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 37 Absatz 3, Satz 3 PAG (Vertrauenspersonen, d.h. Polizeispitzel); Artikel 45 Absatz 1 Nr. 1; Absatz 3 Satz 5 PAG (verdeckter Zugriff auf informationstechnische Systeme = Bayern-Trojaner).

"Aufgrund einer schwammig definierten 'drohenden Gefahr' darf die Polizei meine Post lesen, mein Telefon abhören und meinen PC durchsuchen und das auch noch unbefristet, das ist eines Rechtsstaats unwürdig", kritisiert Tammelleo. Dazu kommt: Bei manchen Maßnahmen gilt der Richtervorbehalt nicht. So müssen Personen- oder auch Postüberwachung bei "drohender Gefahr" nicht zwingend von Richter*innen angeordnet werden, es genügen hohe Polizeibeamte (Art. 35, Abs. 3; Art. 36, Abs. 5).

Zudem wird bei elektronischen Überwachungsmaßnahmen der wichtige Schutz der Berufsgeheimnisträger*innen und ihrer Mandant*innen, Klienten*innen und Patienten*innen ausgehöhlt, weil man den Kernbereich der Privatsphäre im PAG nicht ausreichend effektiv schützt. Artikel 49 Absatz 3 Sätze 4 und 5 PAG lauten nach der Überschrift zum "Schutz von Berufsgeheimnisträgern und des Kernbereichs privater Lebensgestaltung" und ausführlichen Regelungen wie folgt:

"Bei den in Satz 1 Nr. 8 genannten Maßnahmen hat die Polizei, soweit dies informations- und ermittlungstechnisch möglich ist, sicherzustellen, dass die Erhebung von Kernbereichsdaten unterbleibt. Können in diesen Fällen Kernbereichsdaten (Anm.: privater Lebensgestaltung) vor oder bei der Datenerhebung nicht ausgesondert werden, darf auf das informationstechnische System auch dann zugegriffen werden, wenn hierbei eine Wahrscheinlichkeit besteht, dass dabei in untergeordnetem Umfang höchst persönliche Daten mit erfasst werden."

RA Riechwald: "Mit diesen Formulierungen steht fest, dass der vorgebliche und dringend notwendige und gebotene Schutz von Berufsgeheimnisträgern und des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung von Berufsgeheimnisträgern und seiner Mandanten beziehungsweise Patienten und ihm vertrauenden Personen nicht ausreichend und nicht absolut gewährleistet ist, sondern vom Ermessen oder der Neugier eines Polizeibeamten abhängt."

Kritik übt Riechwald auch an der im Jahr 2021 in das PAG aufgenommenen sogenannten Zuverlässigkeitsüberprüfung (Art. 60a PAG). "Die Zuverlässigkeitsüberprüfung stellt sich als rechtsstaatlich verbotenes potentielles polizeiliches Einschüchterungsmittel kritischer Bürger*innen und als Verstoß gegen die zentralen die Freiheit erhaltenden Grundsätze des Artikels 98 BV dar. Die Regelung verstößt gegen die zentrale Schutzvorschrift gegen Grundrechtseinschränkungen des Artikels 98, weil von ihr die Einhaltung der Bestimmtheits- und Normenklarheitsanforderungen sowie die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit und Geeignetheit dieser Grundrechte einschränkenden Regelungen gerade nicht beachtet wurde."

Fazit

In Artikel 98 der BV heißt es: "Die durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte dürfen grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Einschränkungen durch Gesetz sind nur zulässig, wenn die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit, Gesundheit und Wohlfahrt es zwingend erfordern. (...) Der Verfassungsgerichtshof hat Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären, die ein Grundrecht verfassungswidrig einschränken."

Rechtsanwalt Riechwald sieht daher dringenden Handlungsbedarf und den Verfassungsgerichtshof in der Pflicht: "Wenn der Gesetzgeber Grundrechte ohne zwingenden Grund im Sinne des Artikels 98 unverhältnismäßig einschränkt, verlieren diese Grundrechte ihre moralische Kraft. Die PAG-Änderungsgesetze vom 24. Juli 2017, 15. Mai 2018 und 20. Juli 2021 impfen der Verfassung des Freistaats Bayern, insbesondere dem Grundrecht der Freiheit der Person aus Artikel 102 BV einen die Demokratie gefährdenden Virus ein. Uns geht es darum einen irreparablen Schaden an Grundwerten der Verfassung zu verhindern."

Tammelleo ergänzt: "Der 2017 eingeführte Rechtsbegriff der 'drohenden Gefahr' gibt der Exekutive beziehungsweise den einzelnen Polizeibeamten vor Ort und auch den Richter*innen wegen der nicht näher definierten Begrifflichkeit eine viel zu große Auslegungs-, Zugriffs- und Eingriffsmacht in Grundrechte, ohne dass überhaupt eine Straftat geschehen wäre. Daran ändern auch die geringfügigen Korrekturen durch den Gesetzgeber am 20. Juli 2021 wenig. Der Begriff der 'drohenden Gefahr' bleibt nach wie vor schwammig. Genau wegen dieser Unbestimmtheit begünstigt und ermöglicht er geradezu Fehleinschätzungen und Verstöße gegen die Bayerische Verfassung durch Polizeibeamte. Wir fordern eine sofortige Novellierung des PAG, damit menschenrechtliche Standards und rechtsstaatliche Prinzipien wieder gewährleistet sind."

Zudem kritisieren die Kläger, dass derart drastische Eingriffe in die Grundrechte der Bürger*innen noch immer nicht durch den Gesetzgeber in einer für alle Bürger*innen lesbaren Fassung im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt, wie es Artikel 76 BV verlangt, erschienen sind.

Die Entscheidungsverkündung vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof ist am Mittwoch, 14. Juni 2023, um 10.30 Uhr, Sitzungssaal 270/II, Prielmayerstraße 7, 80335 München.

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