Erste deutschsprachige Ausgabe des linken US-Magazins "Jacobin" erschienen

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Sozialdemokratische Kundgebung vor dem Berliner Stadtschloss Januar 1919
Sozialdemokratische Kundgebung vor dem Berliner Stadtschloss Januar 1919

Das 2011 gegründete "Jacobin"-Magazin ist mittlerweile das bedeutendste linke Theorieorgan in den USA. Jetzt erschien auch die erste deutschsprachige Ausgabe davon, herausgegebenen von einer hiesigen Redaktion. Indessen ist ihr zwar das designmäßige, aber noch nicht das inhaltliche Innovationspotential ihres Vorbildes eigen.

"Jacobin ist eine führende Publikation der sozialistischen Linken. Wir bringen Euch scharfe und lesbare Analysen zu Politik, Wirtschaft und Kultur. 2011 in New York geboren, erscheint Jacobin heute auf Englisch, Italienisch, Portugiesisch – und nun auch auf Deutsch." Mit dieser Aussage beschreibt sich das deutsche "Jacobin"-Magazin selbst. Wie aus der Formulierung hervorgeht, entstand das Publikationsorgan in den USA. Gerade dort blühen Auffassungen von einem demokratischen Sozialismus auf. Dies war bereits vor der Kandidatur von Bernie Sanders so, durch ihn erhielt diese Entwicklung aber noch einen zusätzlichen Schub. Insofern stiegen auch die Auflagenzahl und die Bekanntheit von "Jacobin". Eine Anthologie von Aufsätzen in deutscher Übersetzung erschien bereits 2018 und wurde auch relativ breit in den Qualitätsmedien wahrgenommen. Nach langen Ankündigungen liegt nun die erste Ausgabe in Deutschland unter eigener redaktioneller Leitung vor.

Cover

Es handelt sich um ein fest gebundenes 25 x 19 cm-großes Heft, das von vielen Fotos und Zeichnungen durchzogen ist. So hat man es nicht mit einer "Bleiwüste" zu tun, gleichwohl ist auch nicht jedes Bild sinnvoll. Dafür gibt es einige Daten in Tabellen, "Schöne Empirie – Infografiken zur Lage" genannt. Die Autoren stellt man nicht näher vor, ihre Namen sind relativ klein gedruckt. Auch erschließt sich die formale Struktur nicht richtig. Dies fällt beim ersten Durchblättern auf, wobei man es mit Anfangsfehlern zu tun haben mag. Um gleich eine mögliche Fehlwahrnehmung zu korrigieren: "Jacobin" bezieht sich nicht auf die Jakobiner, die in der Französischen Revolution mit der Guillotine ihre Politik umsetzen wollten. Gemeint ist "Der schwarze Jakobiner", also Francois-Dominique Toussaint Louverture (1743–1803), der als Anführer der Haitianischen Revolution bekannt wurde und erfolgreich für die Entkolonialisierung und Unabhängigkeit kämpfte.

Im Editorial heißt es: "Das Jacobin Magazin in Deinen Händen ist politisch. Hier wird nach dem Leben gesucht, wie es gerechter und klüger laufen könnte. Gerade in den Trümmern der Gegenwart wird sichtbar, wo statt Konkurrenz demokratische Planung und Kooperation nötig sind, um unser Überleben auf diesem Planeten zu gewährleisten. Wir machen keinen Hehl daraus, was wir uns darunter vorstellen: demokratischen Sozialismus." (S. 3) Bei einer solchen Ankündigung hätte man sich schon gewünscht, hier eine genauere Erläuterung zu finden. Denn bekanntlich ist diese Bezeichnung schon im unterschiedlichsten Sinne genutzt worden. Auch in einem Interview, das die Chefredakteurin Ines Schwerdtner der taz (2./3. Mai 2020) gab, finden sich keine konkreteren Positionierungen. Immerhin hat Bhaskar Sunkara, der Gründer von "Jacobin" in den USA, 2019 "The Socialist Manifesto" (Verso, London) veröffentlicht. Darauf hätte man Bezug nehmen können.

Dadurch bleibt das allgemeine Anliegen mehr als nur diffus. Allenfalls erahnt man, dass etwas im Sinne der früheren Sozialdemokratie gemeint sein könnte. Denn in der ersten deutschen Ausgabe bildet "Jenseits der Sozialdemokratie" den Themenschwerpunkt und es finden sich viele kritische Kommentare zu Labour wie zur SPD. Indessen gibt es dabei kein plattes Bashing, was hier möglicherweise erwartbar gewesen wäre. Einhellig lautet indessen die Kritik, dass die Arbeitswelt sozial und thematisch bei der Linken nicht mehr im Zentrum stehe. David Broder bemerkt etwa zur britischen Labour-Partei: "Corbyn versagte, weil er der arbeitenden Klasse zwar eine bessere Gesundheitsversorgung und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur versprach, diese Klasse gleichzeitig aber nicht als politisches Subjekt erkannte." Und weiter kritisiert der Autor, dass man es versäumt habe, "die tief verwurzelten Beziehungen in die arbeitende Klasse hochzuhalten und weiter auszubauen" (S. 20, 22).

Für die damit angesprochenen Entwicklungen werden durchaus Gründe benannt, was auch für den Beitrag über die deutsche SPD gilt. Loren Balhorn und Linus Westheuser rekonstruieren deren Geschichte mit leichter Hand, aber um einer Perspektive "Jenseits der Sozialdemokratie" willen. Da heißt es dann: "Das Problem ist heute nicht die lähmende Einbindung der arbeitenden Klassen in den Staatsapparat, sondern ihr weitgehender Ausschluss aus einem zunehmend oligarchischen politischen System – ob in technokratischem oder in populistischem Gewand." (S. 51) Was die diffuse Anspielung auf den "Staatsapparat" hier soll, bleibt indessen unklar. Worin würde denn für Arbeiter ein Problem bestehen, in einen demokratischen Verfassungsstaat eingebunden zu sein? Am Artikelende findet sich übrigens ein Foto, das Bernie Sanders zeigt. Er geht gerade aus der Seite heraus. Das wäre auch angesichts solcher Auffassungen real vorstellbar.

Und dann gibt es auch noch einen Artikel von einem US-Autor, hier Vivek Chibber, über "Unser Weg zur Macht". Dabei kann man aus mehreren Gründen irritiert sein, zumal es auch um die Lehren aus der Russischen Revolution gehen soll. Da heißt es über die Linke und ihre Perspektiven: "Will sie sich als wirkliche Kraft organisieren, muss sie das in einer Massenpartei tun, die sich auf Kader stützt und eine zentrale Führung und innere Kohärenz aufweist." (S. 97) Angesichts der diktatorischen Folgen derartiger Vorstellungen, zuckt man nicht nur aus einer demokratietheoretischen Perspektive zusammen. Indessen betont der Autor, er sei für demokratische Organisation. Was das genau meint, bleibt indessen unklar. Auch hier wird für das Aufgreifen der sozialen Frage plädiert: "Die größte Herausforderung für die Linke besteht jetzt darin, die Nabelschnur zu durchtrennen, die sich an Universitäten und NGOs bindet und wieder in das Milieu der Arbeit einzutauchen." (S. 102)

Was gibt es sonst noch im ersten Heft von "Jacobin"? Man findet darin ein langes Interview mit Kevin Kühnert, der sich zur Entwicklung der SPD äußert. Auch mit Grace Blakely wurde ein langes Gespräch geführt. Die britische Ökonomin orientiert sich an marxistischen Perspektiven: "Alle möglichen Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, sind auf das Machtungleichgewicht zwischen diesen beiden Klassen zurückzuführen." (S. 26) Oliver Nachtwey kommentiert die Wahl der neuen SPD-Vorsitzenden. Die Krise der SPD erkläre sich dadurch, dass sie "ihre Grundprinzipien – das Ziel des demokratischen Sozialismus – aufgab und sich in die politische Leere modernisierte" (S. 65). Und außerdem gibt es kurze Betrachtungen zu Sebastian Kurz in Österreich, den Aldi-Gebrüdern als einer der reichsten Familien oder Frauen im Niedriglohnsektor. Drei aktuelle beziehungsweise ehemalige SPD-Mitglieder werden gefragt, warum sie in die Partei eintraten beziehungsweise wieder austraten.

Insgesamt enttäuscht aber dieses erste Heft. Denn die innovativen Anstöße, die es in der amerikanischen Ausgabe regelmäßig gibt, finden sich hier – bislang zumindest – nicht. Da wären auch einmal schlicht Informationen darüber nötig gewesen, was sich so im Mutterland der Zeitschrift tut. Zumindest durch Buchbesprechungen könnte man auf dortige Diskurse und Positionen verweisen. Stattdessen gibt es gelegentlich großflächige Fotos oder Zeichnungen. Aber auch das politische Selbstverständnis wäre erläuterungsbedürftig gewesen: Was versteht man genau unter "demokratischem Sozialismus", was unter "demokratisch", was unter "Sozialismus"? Erfreulich ist sicherlich, dass man die soziale Frage wieder in das Zentrum stellen will. Die absonderlichen Auffassungen der Identitätslinken haben zu Orientierungslosigkeit und Wirklichkeitsverlusten beigetragen. Hierzu könnte man sich auch einen kritischen Beitrag vorstellen. "Jacobin" hat Optimierungspotentiale.

"Jacobin". Vierteljahreszeitschrift, erscheint im: Brumaire Verlag, Postfach 26686, 10129 Berlin, Einzelheft 10 Euro, Jahresabo: 35 Euro

Vgl. auch: "Jacobin" – eine Anthologie zu einer neuen linken Theoriezeitschrift aus den USA

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