67. Berlinale

Filme zu Menschenrechten, Flucht und LGBTI

Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex FLUCHT/ASYL

Insyriated von Philippe Van Leeuw

Verzweifelt versucht die energische Oum Yazan in Damaskus den Familienalltag aufrechtzuerhalten, während draußen der Krieg wütet. Man trifft sich mittags am großen Esstisch und versucht, gegen das Dröhnen der Bomben und Maschinengewehre anzusprechen. Es gibt kaum noch Wasser, jeder Gang vor die Tür ist gefährlich, weil auf den Dächern Scharfschützen positioniert sind. Der Großvater spielt mit dem kleinen Enkel, die älteste Tochter flirtet in ihrem Zimmer mit ihrem Freund. Nebenan plant ein junges Pärchen mit Baby die Flucht. Von oben hört man bedrohliche Geräusche. Wer klopft an der Tür? Oum Yazans Ehemann, auf den sie unruhig wartet, oder fremde Männer, die wissen wollen, ob es dort noch wertvolle Gegenstände zu holen gibt? Es braucht nur wenige Einstellungen, um den Zuschauer in den permanenten Ausnahmezustand eines Krieges hineinzuziehen. Die Wohnung, einst trautes Heim, ist zum Gefängnis geworden. Philippe Van Leeuws Kammerspiel zeigt Menschen in einer extremen Situation, die extremes Verhalten mit sich bringt. Jede Entscheidung kann existenziell sein: Ist es moralisch zu verantworten, ein Familienmitglied zu opfern, um das Überleben der anderen zu garantieren?

Jassad gharib / Foreign Body von Raja Amari

Die Tunesierin Samia ist illegal nach Frankreich gekommen. Die Überfahrt über das Mittelmeer hat sie gerade so überlebt. Doch mit der Ankunft in der neuen Gesellschaft sind die Hürden nicht genommen: Wie legt man den Status des Fremdkörpers ab? Ersten Anschluss findet Samia bei Imed, einem alten Bekannten aus Tunesien, der es auf den ersten Blick geschafft hat: Schwarzarbeit in einer Bar, eine Wohnung, Freunde. Samia kommt bei ihm unter, merkt aber schnell, dass sein Umfeld ihre Selbstbestimmung nicht zulässt. Sie zieht alleine weiter und bringt eine bourgeoise Witwe dazu, sie als Hausmädchen anzustellen. Wohnung, Kleidung, Aufenthaltsstatus: Samia bekommt es. Während die Beziehung der beiden Frauen inniger wird, kühlt sich das Verhältnis zu Imed, der für Samia immer mehr das zurückgelassene Leben markiert, ab. Aber auch Madame Berteau und Imed finden Gefallen aneinander. In dem Geflecht aus Anziehung und Abhängigkeiten, das sich zwischen den drei Figuren entwickelt, bleibt die Kamera stets nah an Samia und macht die Dringlichkeit spürbar, mit der sie ihr Schicksal angeht. "Jassad gharib" ist das Porträt einer entschlossenen jungen Frau auf der Suche nach einem freien Leben.

Mikel von Cavo Kernich

Mikel

Mikel ist ein junger, selbstbewusster Mann, der nach langer Flucht aus Nigeria endlich würdevoll leben will. Im Moment führt er nur ein Schattendasein als illegaler Arbeiter in Norberts Renovierungsfirma. Norbert ist fein raus: Die Stadt wird privatisiert, und Wohnraum wird knapper und teurer. Bei Wohnungsbesichtigungen bilden sich lange Schlangen von hoffenden und spekulierenden (Neu-)Berlinern. Das Geschäft läuft glänzend. Mikel und sein Kollege Jonathan sind notwendige, bevorzugt unsichtbare Scharniere in diesem System. Norbert hat Mikel einmal eine Aufenthaltsgenehmigung und faire Bezahlung versprochen. Doch das ist lange her. Mikel weiß inzwischen längst, dass er seinem Arbeitgeber erheblich mehr einbringt als umgekehrt. Und er weiß um sein Dilemma: Ohne diese Arbeit wäre er untergegangen, mit ihr wird er niemals richtig ankommen. So steckt er fest als Nomade im permanenten Transit – und schreibt am Ende eine Postkarte nach Hause.

The Brick House von Eliane Esther Bots

In einer spärlich eingerichteten Wohnung in den Niederlanden verbringen die Freunde Sapa und Hija lange Nachmittage miteinander. Sie hören gemeinsam Musik, beten, legen sich zur Entspannung heiße Tücher auf das Gesicht. Sie schwelgen in Erinnerungen an ihre Kindheit in Tansania, erzählen sich Anekdoten von ihren Familien, der Großmutter, die die Kinder ins Bett brachte, dem Vater, der Taxifahrer war, vom Kindheitstraum, Pilot zu werden, und vom Backsteinhaus mit zugemauerten Fenstern, in dem einer der Männer aufwuchs. Hier gibt es einen Blick nach draußen, aber er ist trüb und wenig einladend. Die Filmemacherin Eliane Esther Bots entdeckte Sapa in einer Filmkomparsen-Kartei. Nach ihrem ersten Treffen beschloss sie, das Moment der Begegnung als filmische Methode zu erforschen. Sie bat Sapa, einen Gesprächspartner hinzuzuholen. Aus ausgiebigen Gesprächen, Schauspielübungen, Improvisationen und gemeinsam verbrachten Sonntagen entstand der Kurzfilm The Brick House – und eine neue Freundschaft.  Der Film ist Teil des Projekts Three Studies of Nearness, das den Einfluss von Konflikt und Migration auf die Idee von Familie und Zuhause in den Blick nimmt.

The Other Side of Hope von Aki Kaurismäki

Der Film besteht aus zwei Geschichten, die sich nach 40 Minuten miteinander verbinden: In der ersten geht es um Khaled, einen syrischen Flüchtling. Als blinder Passagier eines Kohlefrachters landet er eher zufällig in Helsinki und beantragt ohne große Hoffnung auf die Zukunft Asyl. Wikström, die zweite Hauptfigur, ist Handelsvertreter für Krawatten und Männerhemden. Er kehrt seinem bisherigen Berufsleben den Rücken, setzt sein Pokerface am Glücksspieltisch ein und kauft ein Restaurant im letzten Winkel von Helsinki. Als die Behörden Khaled das Asyl verweigern, beschließt er, wie viele seiner Schicksalsgenossen illegal im Land zu bleiben. Er taucht in der finnischen Hauptstadt unter und lebt auf der Straße. Dort begegnet er den verschiedensten Formen von Rassismus, aber auch coolen Rock ’n’ Rollern und aufrichtiger Freundlichkeit. Eines Tages findet Wikström ihn nachts schlafend im dunklen Hinterhof seines Restaurants, besorgt ihm ein Bett und einen Job. Für eine Weile bilden die beiden gemeinsam mit der Kellnerin, dem Koch und dessen Hund eine utopische Einheit, eine der für Aki Kaurismäki typischen Schicksalsgemeinschaften, die vorführt, dass die Welt besser sein könnte und sollte.